Die Dächer von Paris

Als sich der fünfzehnte Hochzeitstag näherte, kaufte er für seine Frau im Juweliergeschäft ein teures Brilliantencollier. Es war Januar. Zur Zeit war sie mit dem Sohn in Savoyen Skifahren, und in drei Tagen sollten die beiden zurückkommen. An jenem Abend arbeitete er bis spät in die Nacht in seinem Zimmer. Bevor er ins Bett ging, öffnete er das Fenster, um den Zigarettenrauch auszulüften, und betrachtete eine Weile die sich verrückt drehenden und vom Zimmerlicht beleuchteten Schneeflocken sowie den frischen Schnee auf dem schrägen Dach, in dem das Fenster eingesetzt war, dann erlosch er das Licht und ging schlafen.

Er hatte einen leichten Schlaf. In der Nacht weckte ihn ein leises Geräusch, das aus dem Nachbarzimmer kam. Durch die halbgeöffnete Tür sah er im Abglanz des reflektierenden Schnees eine schlanke Frauengestalt in einem schwarzen Arbeitsanzug, dessen Taschen sich an verschiedenen Stellen ausbeulten. Über ihrem Kopf, den sie mit einer schwarzen Maske mit drei Öffnungen für die Augen und den Mund verdeckt hatte, wehte leicht die weiße Gardine in der kalten, durch das geöffnete Fenster strömende Luft. Die schwarze Frau beugte sich über das Schränkchen, in das er am Abend das Collier hineingelegt hatte, sie tastete vorsichtig darin, und im nächsten Augenblick tauchte die Hand im schwarzen Lederhandschuh hervor und Baumgarten sah, wie von den vermummten Fingern ein dünnes, glänzendes Kettchen herunterhing. Das Bild, das er vor Augen hatte, erinnerte ihn an eine Szene aus einem schlechten Krimi. Er zog aus der Nachttischschublade einen Revolver und sprang aus dem Bett. Die schwarze Diebin sah ihn, verstaute das Collier in einer ihren Taschen, sprang auf den Fensterrahmen und verschwand. Baumgarten warf sich schnell über den Schlafanzug seinen Morgenmantel, der auf dem Sessel neben dem Bett lag, schlüpfte mit nackten Füßen in die Schuhe und kletterte aus dem Fenster auf das schräge, verschneite Dach.

Rechts von ihm stieg gelbes Licht unsichtbarer Laternen aus der Schlucht zwischen den Häusern empor wie Schwefeldämpfe aus Vulkankratern, links konnte er in der Dunkelheit und im Schneetreiben den schwarzen Antennenwald auf dem Dachfirst erkennen, vor ihm strömte auf den Schneeteppich das Licht aus dem Fenster des von der Schlaflosigkeit geplagten Nachbarn. Die schwarze Gestalt stapfte schnell durch den hohen, frischen Schnee. Die Frechheit der Diebin machte Baumgarten wütend, und so rannte er los hinter ihr her, auch wenn die Gefahr drohte, daß er in seinen Halbschuhen ausrutschen und in die Tiefe stürzen könnte, auch wenn sich seiner noch ein stärkeres und noch peinlicheres Gefühl ermächtigte, er befinde sich in einem schlechten Film, er ertappte sich sogar bei Bewegungen, welche in jenen Filmen die sich über die Dächer jagende Gestalten zu tun pflegen.

Nach einer Weile gelangte die Diebin zum Ende des Daches. Das Nachbarhaus war ein Kaufhaus. Hinter dem schrägen Dach, unter dem Baumgarten wohnte, gab es nur einen schmalen Sims, auf dem die großen Schriftzeichen Galeries Lafayette leuchteten. Das violette Neonlicht bestrahlte den Schnee, und die Spuren, welche die Schuhe der Diebin hinterlassen hatten, warfen scharfumrissene Schatten. Die Frau mußte jetzt den schmalen, verschneiten Sims mit dem Neonlicht überqueren. Baumgarten sah, wie sich die schwarze Gestalt mit beiden Händen am oberen Bogen des Buchstaben G festhielt und die Spitze des rechten Fußes in die kleine untere Mulde des Buchstabens stellte, wo das Neonlicht im Schnee versank und ihn violett färbte. Auf den waagerechten Strich, der den unteren Bogen des G brach, setzte sich die Diebin wie auf einen verschneiten Stuhl, ließ den oberen Teil los und griff schnell mit der rechten Hand nach dem oberen Bogen des kleinen a, der sich zu ihr entgegenstreckte wie der Schnabel eines neugierigen schneebedeckten Vogels.

Baumgarten holte den Revolver aus der Morgenmanteltasche und schoß, um sie einzuschüchtern. Er zielte auf den oberen Teil des G und sah mit Genugtuung, daß es ihm gelang, es wegzuschießen. Der Buchstabe erzitterte und erlosch, von oben fiel eine kleine Schneelawine auf den Kopf der Diebin. Die schwarze Gestalt faßte das kleine l, das sich samt ihr gefährlich über die Straße neigte, und dabei rutsche erneut eine Schneemütze vom dessen Gipfel ins Gesicht der Frau und sie anscheinend für einen kurzen Moment blind machte, denn sie mußte sich mir einer Hand die Augen reiben. Doch der Buchstabe hielt, und die Frau schaffte es, sich am wagerechten Strich des e festzuhalten, der recht stabil aussah. Sie rutschte an dem Bogen des e entlang und faßte nach der Nase des r wie nach einer Klinke.

Doch da war Baumgarten auch schon an den Lettern angelangt, er steckte den Revolver wieder in die Tasche hinein, um die Hände frei zu haben, und stürzte sich auf das erste Wort. Als er vorsichtig das erloschene G berührte, hatte die Diebin bereits fast problemlos die Buchstaben i, e und s am Ende des Wortes bewältigt. Sie blieb für eine Weile stehen und beschäftigte sich wohl mit der Frage, wie sie die Lücke zwischen den zwei Wörtern überwinden sollte. Inzwischen bewegte sich Baumgarten vorsichtig durch die Buchstaben des Wortes Galeries mit dem ausgeknipsten Anfangsbuchstaben; es war leichter für ihn, denn er lief in ihren Spuren und mußte nicht mehr unter dem Schnee nach den Buchstabenumrissen tasten. Deshalb kam er schneller voran, die Entfernung zwischen ihm und der Diebin wurde immer kleiner. Dafür war er schwerer, und so neigten sich die Buchstaben mit einem fürchterlichen Knattern unter seinem Gewicht, besonders das angeknackste l schwenkte noch stärker aus, und sein oberes Ende riß aus der Mauer. Irgendwelche Kabel kamen zum Vorschein, sie blitzten auf, der Buchstabe erlosch und ragte wie eine schwarze Fahnenstange ohne Fahne in das Schneetreiben hinaus. Es war kein angenehmer Weg. Baumgarten wurde durch das violette Licht der Buchstaben geblendet, die heftigen Schneestöße schlugen ihm ins Gesicht. Die Schlafanzughose war vollkommen durchnäßt, die Hosenbeine wurden zum Eis und tonnenschwer.

Es sah fast so aus, als hätte er das erste Wort erfolgreich bewältigt, doch dann machte er einen verhängnisvollen Fehler: Er faßte nach dem i-Punkt, der vom Schnee bedeckt war und deshalb nicht sichtbar, daß dieser nur mit einer dünnen Aluminiumstange mit dem unteren Teil verbunden und nicht wie alle anderen Buchstaben in der Mauer verankert war. Die Stange verbog sich unter seinem Gewicht und neigte sich wie eine welkende Blüte, Baumgartens Füße rutschten vom schmalen Sims, und schon hing er in die Tiefe der Straße. Er krallte sich verzweifelt an dem i-Punkt fest, der immer stärker über die Schlucht sank, wo im Licht der Straßenlaternen die Schneeflocken tänzelten. Aus letzter Kraft gelang es ihm, mit einer Hand nach dem unteren Bogen des danebenstehenden e zu greifen und zurück auf den Sims zu klettern. Die Diebin hielt sich in dem Moment mit beiden Händen am Strich des f fest und füßelte mit dem rechten Fuß im Hohlraum des benachbarten Buchstabens a. Baumgarten kam wieder zu sich, überwand mit einem riskanten Sprung den Abstand zwischen den zwei Worten und hielt sich am nüchternen, doch zum Glück stabilen Versal fest.

Als die Diebin versuchte, mit ihrem Fuß in die Spalte des y hineinzuschlüpfen, das sich exakt in der Mitte des zweiten Wortes befand und dessen untere Hälfte über den Sims hinausragte und in der Luft hing, rutschte sie aus. Baumgarten mußte mit Entsetzen beobachten, wie die Frau an dem Ypsilon in die Schlucht hinunter zu stürzen drohte. Sie hielt sich mit beiden Händen verzweifelt an dem Buchstaben fest, doch seine Oberfläche war viel zu rutschig, und so wurde ihr Fall erst dann abgefangen, als sich ihre Hände an der untersten Kugel des Ypsilons festkrallten, an der tiefsten Stelle der ganzen Schrifttafel überhaupt.

Was für ein Glück, daß man Schrift mit Serifen benutzt hatte, dachte sich Baumgarten, und durch den Kopf zog ihm die Erinnerung an einen Artikel über Typographie, der in einer Avantgarde-Zeitschrift aus der Vorkriegszeit veröffentlicht worden war. Darin hatte Karel Teige erklärt, die moderne Zeit verlange nach Schrifttypen ohne Serifen, und er wolle sich dafür einsetzen, daß man Buchstaben von kaligraphischen Formen und anderen bürgerlichen, überlebten Schnörkeln befreien sollte. Zum Glück war dem nicht so geschehen, und so konnte Baumgarten durch die violett leuchtende Allee aus Buchstaben der Diebin, die über dem Boulevard kläglich baumelte, zu Hilfe eilen. Als er in der Mitte des Wortes ankam, griff er mit der linken Hand nach dem a, beugte sich über die Schlucht, wo der Schnee im Licht der Straßenlaternen wirbelte, und reichte ihr die andere Hand. Glücklicherweise war sie so flink, daß es ihr gelang, nach einer Weile den Buchstaben y mit seiner Hilfe emporzuklimmen. Als sie sich in die Gabelung des Buchstabens zwängte, zog er die schneedurchnäßte Maske von ihrem Gesicht.

Der Kopf eines etwa zwanzigjährigen Mädchens kam zum Vorschein, eine blonde Locke kräuselte befreit. Die Räuberin setzte sich auf den hinteren Schrägstrich des Ypsilons, stützte sich mit den Ellbogen gegen den vorderen Strich und atmete schwer. Sie versuchte nicht, ihr Gesicht zu verdecken. Sie öffnete den Klettverschluß ihrer Jackentasche und reichte Baumgarten das Collier, vielleicht aus Dankbarkeit über die Rettung ihres Lebens, vielleicht als Siegestrophäe nach diesem Wettkampf über die Dächer Paris. Der Ästhet steckte es zu dem Revolver in die Tasche des Morgenmantels. Er war auch erschöpft, saß auf dem ovalen Dach des a und seufzte. Wenn uns jetzt von unten vom Boulevard aus ein später Passant sieht, dachte er für sich, müssen ihm unsere Körper wie zwei rätselhafte Kleckse im leuchtenden, in die Nacht gezeichneten Text vorkommen.

Lieber Leser, vielleicht würde Dich interessieren, worüber sich Baumgarten und die Pariser Räuberin auf dem verschneiten Dach unterhalten haben. Es war ein langes Gespräch, mein Bekannter aus Paris erzählte es mir im angenehm beheizten Café in der Straße der Schönen Künste. Wir haben uns mit den Abenteuern des tschechischen Ästheten im Ausland recht ausführlich beschäftigt. Die beiden Szenen, in denen die Buchstaben und Dinge ineinanderflossen, und warum ich von diesem tschechischen Emigranten erzählt hatte, beschrieb ich bereits. Sicher hast Du gemerkt, daß es sich um die Szene auf dem Gutshof (Dinge werden zu Buchstaben) sowie um die Szene auf dem Dach des Kaufhauses (Buchstaben werden zu Dingen) handelte, und nun kehren wir auf die Insel zurück.

 

© Aus dem Tschechischen von Marcela Euler, E marcela.euler@gmx.de, 2004