Erster Teil: Tour de Film/Vorspiel

1

Eine schöne Männerhand. Ich sehe sie im Wind, sie schwebt wie ein chinesischer Drache, windet sich in Zweifeln, löst die Faust und lockert die Finger, verschwindet aus meinem Blickfeld. Ich betrachte sie, wenn ich allein sein will, denn man ist das, womit man die äußere Gestalt erkennt. Ich spreche von der Hand, wenn ich nicht mehr ein noch aus weiß, ich werfe sie den Frauen vor, wenn ich sie haben will.

Ich habe sie einfach meiner letzten Geliebten vorgeworfen, und Anna hat mir noch ein Jahr später immer wieder gesagt, damals, jawohl, damals war das unter anderem auch deine Hand, und ich hab mich auch nach einem Jahr nicht geschämt. Meine Hand hat in ihren Augen als einziges keinen Kratzer abbekommen, im Unterschied zu meinem Herzen, den Haaren, den Gedanken, vielleicht ist allein sie schön geblieben. Erinnerst du dich, Bertrand, damals hast du sie mir, wie einem Hund, deine Hand, und in dem Moment hab ich angefangen mich zu wundern. Und die Welt war beherrscht von einem barmherzigen Gott, dem es nicht darauf ankommt, was wir uns haben zu Schulden kommen lassen, sondern darauf, ob wir Gefühl haben, und aufmerksam betrachten wir jene Stellen, die Gott mit den wertvollsten Stücken seiner Schöpfung ausgestattet hat.

*

Obwohl ich Anna nicht mehr berühren möchte – ihre Haut ist rau geworden, ihr einst schöner Körper hat aufgehört mich zu interessieren, und ohne Lust auf den Körper ist es so, als sei Anna, ihr Herz aus meiner Erinnerung verschwunden –, so hat uns meine Hand doch miteinander verbunden. Ich hielt sie fest, Anna war ein Kind, und genau das bin auch ich.

Ich lasse die Hand noch einmal vor meinen Augen vorbeifliegen, sie erkennt die äußere Gestalt, sie erkennt die äußere Gestalt, eine beruhigende Gewissheit. Ich balle die Finger. Es gibt am menschlichen Körper nichts ihresgleichen, wohl nur die Fältchen im Gesicht sind genauso kostbar. Ich lese den genetischen Code, gespeichert in einer Streichholzschachtel, dort sind meine Wurzeln, mit ihnen halte ich mich an der Welt fest, mit ihnen umklammere ich Körper und Gegenstände. Ich habe die Flamme der Erkenntnis entfacht. Um diese Hand ist es schade, diese Hand muss Anna nicht berühren, diese Hand muss keine E-Mails schreiben. Mit brennender Zigarette setze ich mich auf die Wiese vor dem Gebäude, in dem ich arbeite. In Prag, im Herzen Europas.

Ich spüre, wie sich die Erde dreht.

Ich sitze da, bin auf der Lauer, suche eine Frau, eine zwischenmenschliche Beziehung. Ich schaue mich um, reise mit dem Finger über die Landkarte. Ich reise. Aber ich bewege mich nirgendwohin.

[…]

Ich sitze am Tisch und klappe die Koffer auf, in denen ich meine Weltsicht mit mir herumtrage. Ich blicke mich im Büro um, blicke mich im Park um. Alles ist einfacher geworden, überallhin ist es näher, aber es ist, als sei unsere Zeit ohne äußere Gestalt. Wo ist der Beamtenstand, wo die Sozialisten und das Proletariat? Was sind wir? Was bin ich?

Voller Hoffnung öffne ich den Koffer, in dem ich mein historisches Wissen habe. Ich hole einen Abriss des letzten Jahrhunderts hervor, lecke meinen Finger an, ziehe die industrielle Revolution heraus und streiche die beiden Seiten Durchschlagpapier sorgfältig glatt. Ich hebe sie vor meine Augen und sehe mir die Welt um mich her durch die mit Tinte festgehaltenen hundertfünfzig Jahre hindurch an. Alles passt, Fords Fließband läuft ohne wesentliche Veränderung nach wie vor, die Werte verfallen auf gleiche Art und Weise wie früher, das Gefühl der Entfremdung und die Endzeitstimmung bleiben. Es ist kaum zu glauben, wie unüberbietbar das damals gesammelte Wissen über die Seele des modernen Menschen ist.

Doch mögen auch die Quälereien die gleichen bleiben, nur ein frommer Wunsch von mir, sonst nichts. Unsere Körper werden heute von anderen Salben eingerieben. Die Wissenschaft hat sich endlich in den Dienst des Menschen begeben, sie dient der Freude und der Liebe, und obwohl sie die Technologie der Liebe nicht direkt weitergebracht hat, denn von der Wissenschaft kann man nicht verlangen, dem Menschen das Lieben beizubringen, so hat sie doch sicher die Technologie der Verbindung beider Geschlechter weitergebracht. Die Wissenschaft von der Frau hat der Frau ihren Körper wiedergegeben, den dann die Frau in ihrer Gutherzigkeit an andere zu vergeben anfing. Die Medizin hat sich darum gekümmert, dass es mit dem weiblichen Körper keine Probleme gibt. So leben wir. Es sollte eine Freude sein zu leben. Es ist eine saftige Moderne, eine saftige innere und äußere Welt, voll mit schönen, das ganze Jahr über sonnengebräunten Frauen. Man braucht nur ein paar Bier zu zahlen. Man braucht nur die erste und die zweite Zurückweisung zu überhören. Man braucht nur die Spaghettiträger über die Klippe zu schubsen.

Aber eine Frau genügt mir nicht. Mir würde nicht einmal Liebe genügen, wenn ich fähig wäre sie zu finden. Ich bekomme langsam das Gefühl, historisch zu sein, überwunden. Es ärgert mich, dass nichts von mir zurückbleiben wird, mir ist bewusst geworden, dass mein Leben voller Vergeblichkeit ist. Ich weiß, dass die anderen über mich lachen werden. Sollte ich keine Ergebnisse zeitigen.

Und trotzdem will ich mehr. Ich habe meinen Bankrott verkündet, meine Lust wegzugehen. Und ich bin gegangen. Bin am nächsten Tag nicht mehr gekommen. Ich hatte beschlossen, mein Leben nicht der Arbeit zu widmen, sondern … Die Kunst ist die einzige Rettung, da hege ich keinen Zweifel. Und der Schlüssel, der das Tor zur Kunst aufsperrt, ist die Fähigkeit zu lieben, sagen wir mal. Zum Beispiel.

Ich hatte beschlossen, nicht nur eine Frau zu finden, sondern auch die Liebe, eine Beziehung. Ich hatte Lust bekommen, noch einmal diesen rätselhaftesten und längsten aller menschlichen Wege überhaupt zu gehen: den Weg von Mensch zu Mensch. Ich will durch die Wüste gehen, aber diesmal will ich unterwegs Wunder sehen.

Ich will noch einmal diesen Weg gehen, denn ich glaube, dass sich sein Ende diesmal nicht wiederholen wird.

Ich sehne mich danach, mein Leben ein für allemal zu ins Reine zu bringen, zumindest einen Teil davon.

*

Anna … Von Anna trenne ich mich in Gedanken schon ein paar Monate. Wenn ich eine andere Frau sehe, beginne ich Anna zu verachten, als könnte Anna etwas dafür, dass es Frauen gibt, noch dazu schönere. Ich glaube, wir sind in einer Phase, von der voller Bau-auf-Begeisterung gesagt wird, dass die Beziehung keine Zukunft hat. Als ließe sich die Zukunft zusammenfalten und in die Sakkotasche stecken. Wahrscheinlicher ist, dass uns eben jetzt etwas fehlt. Jemand müsste etwas tun, damit die ganze Angelegenheit einen Schritt von der Stelle kommt. Jemand müsste um jemandes Hand anhalten, jemand müsste aussuchen, wohin die Reise gehen soll. Aber keiner tut etwas. Wir trennen uns nicht, ich habe mich nicht getrennt, auch damals nicht. Das hat keine Zukunft, aber es hat eine Vergangenheit, darin steckt eine gewisse Logik. Ich will nicht alleine bleiben. Jemand muss sich um Prop kümmern, meinen Kater.

*

Am Nachmittag sind wir uns in unseren drei Zimmern begegnet. Anna kam von Arbeit irgendwo, ich kam von Arbeit woanders, und trotzdem sind wir uns begegnet. Wir schmissen den Schlüssel auf den Tisch, alles war so, wie es sein soll. Vor dem Fenster Eisfelder, wir fühlten uns sicher, darin lag ein Stück Stolz, und ein Erstaunen, das niemand zugegeben hat.

Abends haben wir dann den Essential DJ Mix auf Radio 1 aus London gehört, doch wir waren weder hier noch dort. Wir wussten nicht, wohin mit dem Kopf, wussten nicht, wohin mit den Händen. Wir saßen da. Aber wir hatten Lust aufzustehen. Anna ruhte auf meiner Brust, ich hielt sie um die Schultern gefasst, doch hielt sie mich. Ich schaute an die Decke. Es war einer der schwersten Momente meines Lebens.

Ich verabschiedete mich von ihr und fuhr zum Filmfestival nach Kurbad.

Dort treffen sich Frauen und eine Welt, die mich interessiert, eine Welt, die mir weder Anna noch mein Büro zu geben vermögen.

*

Das, woran ich mich annähre, hört auf modern zu sein.

Vor einem Jahr habe ich Jura geschmissen, habe mir woanders eine Stelle gesucht, und nichts ist passiert. Weder Kleidung noch Selbstbewusstsein, nichts davon steht meinen Kollegen zu Gesicht. Ich weiß nicht, wo die Welt hin ist, die ich finden wollte. Die Frauen, die ich kennen lerne, sind so langsam auch nicht mehr knackfrisch und begehrenswert. Ihre Beine werden kürzer, ihre Zeit auch, bis nichts von ihnen übrigbleibt, nicht einmal eine Erinnerung.

Auf Kurbad richte ich meine einzige Hoffnung. Ich quartiere mich im Hotel Festival ein.

*

Ich setze mich aufs Bett, schaue mir die Bettwäsche an. Da hatte ich mehr erwartet. Mich überrascht die Zeit, auf einmal ist der ganze Raum voll davon, auch die Nächte und die Tage werden es sein.

*

In der Nacht wälze ich mich von einer Seite auf die andere, kann nicht schlafen. Die innere und die äußere Welt … Nichts davon lässt sich aufhalten, nichts davon lässt sich vertreiben.

[…]

2

Das Filmfestival in Kurbad ist ein Fest der Filmliebhaber, doch ein Film würde mich noch mehr verstören. Ich darf nicht zulassen, dass man mir eine Filmkugel in den Kopf feuert, aufzustehen und in ein Kino zu gehen, wäre viel zu riskant. Filme sind eine bloße Marotte für jemanden, der keine Sorgen hat. Filme sind aufgrund ihrer kurzen Dauer vernachlässigbar.

Um sein Leben zu ändern, reicht oft nicht einmal ein ganzes Leben aus – wie soll man dann also das verstehen, was sich beim Verlassen des Kinos in der menschlichen Seele abspielt? Wozu so viel Erniedrigung, wozu die Fähigkeit zu erliegen und eine komplette Veränderung vorzutäuschen, wenn schon der nächste Film die nächste komplette Veränderung mit sich bringt?

So viele Menschen, die einem Film verfallen, so viel Tyrannei, so viel Finsternis. Ich hasse die Stimmung im Saal, ich hasse es, zu wissen, dass die anderen dasselbe vor Augen haben wie wir, dieselben Karteikarten der Emotionen hervorziehen, sich durch geheimnisvolles Rufen verständigen. Ich hasse es, wenn sich zum Schluss alle an die Leinwand pressen, an den ganzen Drehstab, an den Schauspieler, an den Regisseur, an die Lebenseinstellung, an die freie Liebe, ans Unglück. Ich hasse es, wenn sich beim Abspann Lager bilden und die, die sitzen, hasserfüllt jene betrachten, die aufstehen wollen, und dann ihr Urteil fällen, sie aburteilen, ganz hibbelig sind, völlig verwirrt. In diesem Moment neige ich den Kopf, wohl vor Scham, wohl weil ich mich wie ein Agent fühle, ein Detektiv.

*

Soll doch der in einen Film gehen, der allein bleiben will, denn das gemeinsame Schauen von Filmen verwandelt die uns Nahestehenden. Während ich nach einem Film versuche, meinen Körper zur entgegengesetzten Seite zu neigen wie der Hauptheld, neigt Anna ihren Körper zur gleichen Seite wie der Hauptheld, und sie wetteifert mit mir darüber, auf wessen Seite der Film stand, ob auf meiner oder auf ihrer.

Hat der Film eine Antwort darauf gefunden, ob Bertrand ein Rindvieh ist? Hat er sich für die Liebe eingesetzt, hat er den Verstand verloren, hat er sich für die Philosophie eingesetzt, dass man leben muss, jede Minute wertschätzen, oder hat er sich für die eingesetzt, die am Horizont schon ein Krebsleiden sehen, und hat er verkündet, dass man so leben muss, dass man sein Leben in voller Länge wertschätzt und versucht, seine ursprünglich für es vorgesehene Länge einzuhalten, also auch bereit ist, eine Menge an Minuten zu betrauern, zu verschlafen, zu sparen? Rauchen, oder nicht rauchen? Treu, oder untreu? Aus all dem macht das Filmfestival Häufchen, nach deren Genuss man am Abend am liebsten kotzen möchte. Jahrelang bläue ich mir A ein, und ich lasse es nicht zu, dass mir jemand im Verlauf einer Stunde B einbläut. Wenn ein Film zu einem spricht, hört ein vernünftiger Mensch auf zuzuhören. Nein, ich mag Filme nicht.

Ich suche nach Beständigkeit, nach Langsamkeit. Ich suche nach einer Art und Weise, die Welt erschauern zu lassen. Ihr die Ruhe zurückzugeben, oder überhaupt erst zu geben.

Vor meiner Abreise habe ich mir eine mechanische Leica gekauft, die gleiche, wie sie mein Erzeuger hat, Štern.

*

Ich habe sie am Hals, sie baumelt hin und her. Ich sitze auf der Wiese vor dem Kurhaus I, ich denke an die, die mir nahe stehen. Die Luft flirrt, mich überkommen Vorwürfe, ob ich den mir nahe Stehenden vielleicht einmal zu nahe getreten bin.

Ich könnte irgendwem behilflich sein, ja, das könnte ich.

Ich raffe meinen Körper auf und gehe in Richtung Kurhaus I.

Ich gehe und gehe, unterwegs zerbröselt alles, ich schaue nach nackter Haut, nach Röcken, obwohl ich mich selbst zurechtweise, träume ich vor mich hin.

*

An der Wand die Aufschrift MOST, die Brücke, ein provisorisches Schild, ein in Plastikfolie eingeschweißter Zettel, wie er aus dem Drucker gekommen ist.

Die moderne Welt, die in jeder Sekunde bereit ist, die Welt zu verlassen.

Wie ein Flimmern vor Augen schließt und öffnet sich blitzschnell ein strahlend weißes iBook.

3

In vermieteten Räumen von Kurhaus I sitzen und laufen abwechselnd Personen herum: eine veränderliche Zahl von Blinden sowie ein Mann und eine Frau, der Vorsitzende des Verbands und seine Hilfskraft, Lucie.

Der Vorsitzende am Tisch, hingefläzt, die Hände im Nacken verschränkt. Ein Riesenbaby, alles an ihm ist in die Länge gezogen, auch die Frisur ist veraltet, in die Länge gezogen. Stillos, harmlos. Ich verhalte mich ihm gegenüber respektvoll, habe mich dorthin gesetzt, wo er hingewiesen hatte.

Lucie am Scanner, sie kopiert. Ein Bein fest am Boden, das andere in Ballettpose. Ihre Hände legen ab und heben an, streichen glatt, dann umarmen sie und ruhen aus. Die Augen, auf den Kopiervorgang gerichtet, schauen ins schwarze Loch unter der Glasplatte. Sie können sich nicht entscheiden, sehen nichts, und so richten sie sich wenigstens als Streiflichter auf die Stelle, wo ich sitze, der Neuankömmling. Ihre Hände ziehen in diesem Moment den Scanner dichter an ihren Körper heran, wie eine Sicherheit, wie einen stillen, geheimnisvollen Freund.

Ihre Statur ist nicht schön, muss ich denken, als ich sie erneut ansehe. Nichts (nicht einmal die Farbe der Rechentechnik!) entspricht dem, wovon ich geträumt hatte, und trotzdem, und deshalb … so gute innere Gefühle.

*

Ich möchte behilflich sein.

Niemand hat sich gewundert, ganz im Gegenteil.

„Blinde. Die brauchen Führer. Zwischen die ganzen Leute hier können wir ja keine Hunde reinschicken“, verkündet der Vorsitzende, weit im Stuhl zurückgelehnt. „Also können wir jeden gebrauchen. Jede helfende Hand. Jeder Fuß nützt.“

„Aber vor allem“, fällt Lucie mit kindlicher Begeisterung dem Vorsitzenden in den Redefluss, während sie sich vom Kopieren abwendet, den Scanner verlässt, der zu Boden gegangen ist, „auf der Kolonnade steht unser Café Unsicht-Bar, ein großartiger Einfall, ein großartiges Projekt, das ist überall bestens angekommen, überall stehen lange Schlangen.“

Und ich muss weiterfragen, nicht etwa, weil mich das mobile Café interessieren würde, in dem man nichts sieht und in dem man für Geld einen Imbiss einnehmen kann, sondern weil ich mir Lucie vorstelle, wie sie dem Vorsitzenden in den Redeschwall fällt: jung, begeistert, stolz auf den Schmerz der Blinden. Ein armes Kind. Ein dummes Kind, dass sich in den Strom von etwas stürzt, wovon es nichts weiß, so ein Kind kann leicht ertrinken, und ich bin, was die Rettung von ertrinkenden jungen Frauen angeht, ganz durchschnittlich, romantisch hingebungsvoll, noch näher am Kind dran als diejenige, die ertrinkt.

Aber die Prostata.

Mit dem Fluss des Vorsitzenden und Lucies Dummheit wird das anders sein, sogar völlig umgekehrt, könnte man sagen, sage ich mir, als ich den Koffer mit meiner schematischen Sichtweise zuklappe.

Die Strömung, in die sie gesprungen ist, ist schwach, und sie wird noch schwächer werden. Der Vorsitzende beginnt sicher schon jetzt … Probleme mit der Prostata zu kriegen.

*

Pinkeln.

Lucie verlässt freudig ihren Scanner und geht aufs Klo.

Ich versuche mir einzureden, dass ihre freudig aufs Klo gehenden Höschen die Toilette in einen reinweißen OP verwandeln, doch ihr Fett hindert mich daran. Ich glaube nicht, dass Körperfülle und Sauberkeit Hand in Hand gehen können. Noch nie habe ich mit jemandem mit mehr als fünfzig Kilo Körpergewicht geschlafen.

Denn ich denke mit, ergänze ich in Gedanken.

Dieses Jahr volle Brüste, ausladende Hüften.

Nächstes Jahr blödes Fett.

*

Andererseits gefällt mir, was sie anhat. Ihre Sachen gefallen mir, ihr Kontakt mit der Welt, die ich selbst im Arm halten will, deren Bestandteil ich werden will, zu der ich mich mit meinem Schuhwerk bekenne.

Ich hatte beschlossen, stilsicher zu werden.

Ich hatte mir Markenturnschuhe gekauft.

Ich nehme sie bewusst wahr, in jeder Sekunde bin ich mit ihnen zusammen.

Und jetzt, voilá, ist auch Lucie nach der letzten Mode gekleidet, wir sind zu zweit. Beide springen wir freudig in jede Strömung, in Einkaufszentren. Wir bringen Freude in dieses verbitterte Milieu gemeinnütziger Nichtregierungsorganisationen. Wieder öffnet sich in Gedanken vor mir das strahlend weiße iBook, spielerisch, verantwortungslos, freudig.

Und dann ertönt durchs Büro ein Donnerschlag, der alles verdirbt.

*

Der Vorsitzende, diese sich unter der Last der Sonne neigende Blume, richtet sich auf, bläht den Brustkorb auf und streckt seine Arme, so wie das in einem erwachsenen Körper gefangene Kinder in dem Moment tun, wenn sie heulend wegrennen wollen, aber nicht können, und aus der Lücke zwischen seinen Lippen rinnen ihm die Wörter, die nie den Mund des Vorsitzenden hätten verlassen dürfen.

„Lucie ist eine Frau, die die Figur eines Models hat“, sagt er, ohne an die Verantwortung zu denken, die er trägt.

*

Dieser Satz ist überflüssig gewesen.

Der Vorsitzende ist plötzlich allein, und er bekommt Angst.

Seine Seele wird nie den Schmerz bei seinem wahren Namen nennen, sie wird nie sagen, was sie will.

Es sollte der erste und letzte Beweis für die Männlichkeit des Vorsitzenden sein.

Ich kann das verstehen, ich kann das verstehen, ich kann das verstehen. Du tust mir leid, Vorsitzender.

Aber du solltest wissen, dass deine Frau da mit der Figur eines Models nur einer von vielen toten Sätzen war, die tot die Welt entlang liegen, denn sie haben keine Chance, irgendetwas in der Welt zu beeinflussen. Du weißt doch selber genau, dass du Lucie niemals haben wirst.

*

Ein paar unverantwortliche Worte

brachten die Brücke zum Einsturz,

über die ich gehen wollte.

*

In den Worten des Vorsitzenden war zu viel Materie, zu viel Masse gewesen, die aus der falschen Richtung gekommen ist, aus dem Papiermund des Vorsitzenden. Nicht der Vorsitzende ekelt mich an, sondern das Fleisch, das er ausgespuckt hat.

Ich mache sofort kehrt. Ich möchte nicht mehr behilflich sein, ganz im Gegenteil, ich möchte mich der Welt der Mode und der Industrie anschließen, von der ich so wenig weiß.

Lucie habe ich aus ihr aussortiert.

Ich schicke sie zum Teufel, zur veralteten Frisur des Vorsitzenden.

Wenn der Vorsitzende über sie verkündet hat, dass sie eine Frau sei, die die Figur eines Models hat, dann ist das nur ein tragikomischer Beweis dafür, was für Frauen sich eine Stelle in sogenannten gemeinnützigen Nichtregierungsorganisationen suchen, deren auf tragische Weise restständige Negativbestimmung vollkommen ihre gesellschaftliche Bedeutung zum Ausdruck bringt.

Die Schönen gehen direkt nach der Schule zu Firmen, sie wählen schon die Schule so, dass man von ihr aus nahtlos zu Firmen überwechseln kann, und die gemeinnützigen Nichtregierungsorganisationen bleiben damit ein trauriges Endlager für unnütze Gedanken und unnütze Frauen.

Lucies Körper ist wie Milch und Blut, ein Karton mit Milch, ein Karton mit Blut. Sie hat nicht den Körper eines Models. Ich bin der Sohn eines Fotografen, selbst Fotograf, und weil ich die Welt im Auge habe, weil ich außerdem Lucie in Gedanken ausgezogen habe und in Gedanken mit ihr geschlafen habe, hätte ich voller Überlegenheit die Behauptung des Vorsitzenden widerlegen können. Ich habe es nicht getan, weil ich taktvoll bin.

Als ich gehe, als ich aus diesem Brunnenschacht herauskrabbele, verabschiede ich mich, ohne groß nachzudenken, mit einer Bemerkung über die Natur, denn die Natur ist das einzige, was sich Leute wie der Vorsitzende leisten können.

Die „Brücke zu den Sehschwachen“ hat von mir einen neuen Namen bekommen: „evidente Blindheit“.

*

Mater semper certa est. Lucie hat kein schönes Gesicht. Mit brennender Zigarette setze ich mich wieder auf die Wiese vor dem Kurhaus I.

Ich bin hingerissen von der Schnelligkeit, mit der ich gegangen bin. Ich sitze im Herzen von Europa, mitten in einer Porzellanschüssel, auf deren Porzellanboden über ausgetretene Pfade Menschenmengen zusammenkommen. Ich rauche eine nach der anderen, wie zu den Stunden und Tagen, wenn wir auf etwas warten, wenn wir auf das warten, was schon da ist. Doch im Herzen von Europa gibt es kein Gras und keine Luft. Im Herzen von Europa kehrt der Zigarettenrauch sofort in die Lungen zurück.

7

Am Pool ein Frauenkörper, ein Handtuch als Unterlage. Im Pool ein Mann. Er drückt sich am Beton ab, hievt sich aus dem Wasser.

(An seinen Händen die Abdrücke der Steinchen. Seine Muskeln angespannt. Überall Stein.)

Er schaut sich um, bemerkt, wen wir da haben: die nackte Frau mit dem Handtuch, mit einem Lächeln, oben ohne.

Der Mann unterhält sich mit dem Körper am Pool, er gestikuliert, zeigt auf seine Verpflichtungen, auf den Rasenmäher, auf den Drink, er macht ein zweitrangiges Gesicht.

Und dann berührt ihre Hand seine Hand, und alles erstarrt. Ruhe vor dem Sturm, Ruhe vor der ersten Erschütterung.

*

Er tätschelt den Körper am Hintern, knetet ihn, macht darauf Knattergeräusche mit dem Mund. Kniet sich hin. Reibt sich die Hände mit Gel ein, dreht den Körper herum, zieht dem Körper die Beine auseinander und beginnt in ihn einzudringen.

Vorsichtig schiebt er einen Finger hinein, als wäre das Innere der Frau ein Bienenstock. Dann fasst er Mut, kommt in Schwung, hört auf sich zu fürchten, und je weiter sich die Frau lockert, desto mehr Finger stopfte er in sie hinein, immer weiter und weiter, bis er ganz drin ist, freudig, mit beiden Händen.

Er wird wieder ruhiger, zwei Hände sind für einen Frauenkörper ein allzu großer Druck. Wieder vorsichtig, in anderen Dimensionen, in anderen Maßstäben, schiebt er hinein und zieht heraus, schwängert und bringt zur Welt, gibt und nimmt.

(Der Stein ist jetzt weg, überall nur Glätte und Gleitmittel. Reiben, rutschen, schmatzen, Wasser im Teich.)

Den Faden in ein Nadelöhr einfädeln, Wäsche waschen, ein Säckchen voller Buchteln, und auf geht’s, hinaus in die Welt.

Auf geht’s, auf geht’s, auf geht’s, und die Frauengestalt, der Beutel Milch und Blut, der Beutel voller Geheimnisse, erbebt unter seinen Händen, die Brust wogt her, und hin.

Der Kopf verdreht, das Geschlecht verdreht, alles, was in sie hineinpasst. Das Gegenteil eines gotischen Wasserspeiers.

Die Brust wogt her, und hin, bam und bim.

*

Ich schütte die Nadeln und die Erde wieder aus meinen Hosentaschen aus und stecke die Hände hinein.

*

Ich reibe an nichts, ich masturbiere nicht.

Ich presse mein erigiertes Glied gegen den Oberschenkel.

Ich berühre es mit der Handfläche, wie wir etwas berühren, das wir wertschätzen, einen treuen Hund, einen treuen Freund, in dem Moment, wenn gleich die Tränen kommen, in dem Moment, wenn wir den Freund aufmuntern wollen, selbst erstaunt, gerührt davon, dass uns die rührende Szene rührt.

Nähe ist unglaublich, heilig.

Ich stehe an der Grenze des Universums, weiter geht es nicht.

Ab hier gibt es nur noch Himmelsstaub.

*

Ich bin mit ihr. Mein Kopf, mein Herz und auch meine Hand sind mit ihr.

Als würde ich etwas berühren, was mir nicht gehört.

Um mich her schwebt Himmelsstaub.

Fragen.

Aus wie viel Füllhörnern habe ich getrunken?

Wem gucke ich unter den Rock?

Habe ich mir Anna ausgesucht wegen ihrer beruhigenden Zartheit? Und die vor ihr?

Sind ihre Knochen die maximale Menge von Materie, die ich fähig bin in den Armen zu halten?

Graut mir vor der Materie, graut mir vor der physischen Gegenwart als solcher?

Suche ich deshalb so sehr nach der äußeren Gestalt?

Weil mir die Materie vulgär vorkommt?

Weil ein fester Hintern in mir Ruhe hervorruft, baumelnde Brüste hingegen keineswegs eine sexuelle, sondern eine unangenehme, existenzielle Erregung?

Wo habe ich überall meine Finger hineingesteckt, was habe ich alles versucht, oder war mein Liebesleben eher seelisch, tief in meinem Kopf, nicht zwischen meinen Beinen?

Verzückung und Ekstase oder Kontrolle – wovon gab es mehr?

Schau zurück!

Und so schaue ich zurück, und ich sehe nichts, an nichts erinnere ich mich, Wörter haben sich in Staub verwandelt, wohingegen mein Schwanz, falls er damals gestanden hätte, weiter stehen würde.

Ach, Stern, auch ich bin ein Romantiker!

*

Flirrende Luft … Wind, der ab und zu geweht hat … Anna, die ich geliebt habe.

Alles verliert seine Grenzen, noch mehr.

Künstler? Beamter?

Und meine edle Hand? Ist sie nicht auch weniger klar, widersprüchlich?

LOVE – HATE, wie es bei Häftlingen auf den Fingerknöcheln eintätowiert ist?

*

Ich hebe die Hände. Drehe mich um.

Ich gehe um den Spiegel dessen herum, was ich nicht sehen will.

Die Antwort.

Schon bei den Blinden habe ich Angst vor ihrer Schönheit gehabt.

Hasen werden auch von einem leisen Satz aufgeschreckt.

Wenn ihm eine erfahrene, stramme Schönheit gegenübersteht, lässt der Hase die Ohren hängen und fängt an Haken zu schlagen.

Mater semper certa est. Nur bis zu dem Moment, …

Ich beginne zu fallen.

8

Ich war hinunter in die Stadt gegangen, an der Kolonnade hatte ich mir einen Becher gekauft, aus dem das Quellwasser getrunken wird, und in Gedanken versunken hatte ich unterwegs welches getrunken. Die Filmliebhaber waren mir ausgewichen.

Am Kurbadbahnhof eine Reklametafel: Wim and Donata Wenders, The Million Dollar Hotel, Ausstellung von Filmfotos.

*

Aus abgestellten Waggons auf dem Kurbadbahnhof hört man leise Musik. Ich falte meine Hände und presse mir die Broschüre gegen den Körper. Wenders war kein gewöhnlicher Regisseur, so wie für meine ganze Generation war er auch für mich mehr als das.

Ich sehe Schnappschüsse mit Milla Jovovich darauf, und ich begreife sofort. Das ist die Welt, von der ich mich vor einer Weile definitiv verabschiedet habe.

Ich kaufe mir eine Milla-Jovovich-Postkarte und verlasse das Filmbegräbnis.

*

Ich lasse den Kopf hängen, schiebe die Hände in die Taschen, bedauernswert. Dann richte ich meinen Körper stolz auf, überzeugt davon, dass ich erwachsen bin. Diesmal lasse ich mich nicht verjagen. Ich bin dumm gewesen, kleinlich. Ich habe Hände und Augen, und die Welt ist dazu da, damit man sie sich nimmt. Ich muss das wiederholen, was ich weiß. Die Leute haben Probleme, die sie maskieren. Die Welt ist rätselhaft, oft entgegengesetzt. Mit welchen Feinheiten ich mich befasse, und die Zeit rinnt mir zwischen den Fingern davon!

*

Festen Schrittes gehe ich los, zu dem Café, das von den Blinden und ihren Beschützern betrieben wird. In Gedanken messe ich mich mit ihnen und bestätige mir, dass ich höher stehe. Wenn ich mich verabschiede, wenn ich alleine bleibe, jedes Mal werfe ich mir aufs Neue vor, das ich mich selbstbewusster hätte verhalten müssen. Die Anwesenheit anderer verstört mich, ich weiß nie, was ich alles sagen kann, man kann nicht in die anderen hineinsehen, ich weiß nie, was sie sich alles denken, aber wenn ich mich von ihnen verabschiede, wird mir bewusst, dass mich die Leute lieben.

Und jedes Mal bereue ich aufs Neue, dass ich nicht fähig gewesen bin, das auszunutzen.

9

Das Café Unsicht-Bar, ein schwarzer Container am Ufer von Kurbad. Davor eine Schlange, ich habe keine Ahnung, was die Leute da suchen. Licht aus, oder Licht an? Für den Herrn noch etwas zu trinken? Stolpern Sie nicht? Die Milch müssen Sie sich selbst in den Kaffee gießen? Wenn Sie sie neben die Tasse schütten, dann werden Sie begreifen, wie reich die Welt eines blinden Menschen ist?

In Gedanken muss ich lachen. Mein Herz, meine Hände, meine Völker! Heilige Einfalt.

Vor dem Container Lucie, sie gestikuliert. Ist am Diskutieren. Zeigt, wo die Plakate hingeklebt werden sollen. Sie hat sich umgezogen, ist wieder wunderschön gekleidet. Tiefes Dekolletee und freie Schultern. Auf ihrer Haut glänzt die Sonne, als wäre die Haut aus Gold.

Der Vorsitzende kommt. Er geht ins Hohlkreuz, verschränkt wieder die Hände hinterm Kopf, Vorbereitungen zu einer zwischenmenschlichen Beziehung. Dann fasst er einen Entschluss, versucht Lucie zu beruhigen. Es ist doch nichts passiert, lass mal gut sein. Ruh dich aus. Solltest Du nicht mal Fieber messen?

Er greift nach ihrer Hand, kontrolliert ihren Blutdruck. Er sollte sie nicht berühren, eine Berührung geht über ihre dienstliche Beziehung hinaus. Lucie wehrt sich nicht, sie senkt die Stimme. Fällt in sich zusammen. Der Vorsitzende stellt sich frontal vor sie, hält sie mit beiden Händen. Lucie fügt sich. Neigt sich zu ihm hin, legt ihm den Kopf auf die Schulter, kuschelt sich ins Warme. Das Leben verflüchtigt sich aus ihr. Die Luft ist raus, sie ist geplatzt, verschieden. So ungefähr platzen Luftblasen, gedemütigte Tiere. Sie bildet auf dem Körper des Vorsitzenden eine Schicht wie feiner Staub.

Au! Eine fremde Hand zwischen meinen Beinen!

Über ihre goldene Wange rinnt eine Träne, doch sie wird nicht lange weinen. Der Vorsitzende hat sie aufgerichtet, betrachtet sie, schüttelt sie ein bisschen. Und der joie de vivre kehrt zu Lucie zurück, sie ist wieder sehend. Der Vorsitzende bestätigt ihr die neue Lebenseinstellung und drückt seine Lippen auf ihre. Er ist wieder ausgeglichen, steht wieder über den Dingen. Am liebsten würde ich ihn an den Ohren da rauszerren, ihm in die Nieren treten, damit er den Schmerz kennen lernt, den er nie kennen gelernt hat.

Der Vorsitzende – ein Beamter. Er presst seine Lippen auf ihre.

Lucie winkt ihm, verneigt sich. Hüpft herum, klopft dem Vorsitzenden auf den Rücken, schlägt sich die Sorgen aus dem Kopf, eine Frau, ein Kind, ein Ding. Und verschwindet im Dunkeln.

*

Er hat gemerkt, dass ich ihn aus meinem Versteck heraus beobachte. „Komm zu uns“, macht er eine Handbewegung, fragt mit seinen Blicken, ob ich etwa einen Grund habe, nicht zu kommen.

Voilà, ein Café. Ach nein, so ein Schrott.

Ich hab eine Verabredung, eine Besprechung. Darf nicht zu spät kommen.

Du wolltest behilflich sein.

Hab mir’s anders überlegt. Um euch herum ist die Zeit stehen geblieben.

Er sagt etwas. Etwas davon, dass ich keinen Quatsch reden solle, etwas davon, dass ihr Café modern sei.

Ich sage etwas. Etwas davon, dass „modern“ eine europäische Gebetsformel sei, ein Deckname für die Tatsache, dass es Europa immer noch gibt, im Gegensatz dazu, dass es schon bald nicht mehr existieren wird.

Papperlapapp, sagt er, ich solle doch abhauen, er sei überzeugt von seiner Außergewöhnlichkeit, von der Wahrheit, in deren Besitz er schließlich sei, von der Wertlosigkeit eines Bertrand. Das Konzept der Unsicht-Bar komme angeblich den Bedürfnissen der modernen europäischen Gesellschaft und des modernen europäischen Menschen entgegen.

Stimmt, sage ich, der sterbende alte Kontinent wartet so auf sein Ende, wie alle Zivilisationen auf ihr Ende gewartet haben: mit Spielen.

Entertainment, räumt er ein. Aber auch Aufklärung! Und wieder sein Blick auf die Uhr, wieder die Unlust Zeit zu verschwenden, wieder dieses verlöschende Feuer, das in mir die Glut anfacht.

Wir debattieren über die Aufklärung, über die Erleuchtung, über die Scheinwerfer, die er auf die Leute richtet. Er beschuldigt mich, ich sei anti-wir, anti-sie, anti-Europa, anti-Aufklärung. Hundertwattbirnen, sagt er, Zwanziger-Sparlampen, sage ich, Aufklärung statt Erleuchtung, unvollendet, eine halbe Sache, sage ich, denke ich, was auch immer. Ich schaue auf seine Hände, bitte ihn nicht zu gehen, weiterzufragen. Was ist in der Lage, meine Glut abzukühlen?

Ihr zieht mit zitternden Händen einen Draht nach dem anderen. Ihr schließt alle irgendwie benachteiligten Menschengruppen an die Menschheit an.

Aber der Vorsitzende klopft sich nicht an den Kopf. Der Vorsitzende ist ausgeglichen, man könnte nichts ersinnen, das seinen Kopf in Mitleidenschaft ziehen würde. Seine verloschene Feuerstelle bringt meine Flammen weiter zum Lodern.

Ich rede weiter, sage noch etwas, über die Geschichte von Nichtregierungsorganisationen, über Leute, die dort arbeiten. Über die Kategorie „mit Problemen“ und die Kategorie „zu nix zu gebrauchen“. Und der Vorsitzende steht da und hört zu. Ist das alles nicht vielleicht ein Traum? Wer würde so lange dastehen und nichts tun, sich nicht anschließen, keinen Kurzschluss hervorrufen?

Aus der Dunkelheit hervor kommt Lucie. Du?

Er möchte nicht mehr behilflich sein.

Ein Griff. Ich lege meine Finger an den Puls dessen, in das ich hineingerate, und mache kehrt.

Ich red ja nur so dahin. Damit es was zu reden gibt.

Ich drehe mich um und gehe.

Ich komme zurück, den Finger auf die beiden gerichtet, als wollte ich, bestimmt wollte ich etwas sagen, aber ich wende wieder.

Ich spüre ihre Fragen in meinem Rücken. Ich weiß, dass sie das am Abend feiern würden. Lucie macht die Beine breit, der Vorsitzende knallt mit den Sektkorken. Die Welt ist schön, wenn man jemanden hat, mit dem man der Welt entgegentreten kann.

10

Natürlich bin ich wieder dorthin gegangen; wo sonst hätte ich hingehen sollen. In meinem ganzen Leben habe ich nichts erlebt. In Zeitschriften lese ich Berichte darüber, wie andere reisen. Sie packen ihre Rucksäcke und fliegen los. Ohne Sicherheiten, ohne Informationen. Die Pyrenäen. Die Karpaten. Mein Vater stirbt. Ich kann nirgendwo hinfahren. Vorher andere Gründe. Ich eiere darin herum, ich eiere dazwischen durch. Wieder bin ich bei dem Garten gelandet, an der Villa.

Mir bleibt nichts anderes übrig als zu spannen. Ich gehe immer spannen, wenn ich alleine bin. Durch ein Schlüsselloch schaue ich in die Welt. Voyeurismus, etwas wollen. Meine Selbstgespräche … Mein Gewissen … Beides bestimmt mich zu einem Dasein als Spanner. Meine innere Welt ist reich. Ich habe so viele Wünsche, und Vorwürfe.

Vorsichtig gehe ich durch den Graben zwischen dem Hang und der Hauswand. Ich suche nach Spuren, lausche. Höre Geschrei. Finde eine Position, wo mich niemand sieht. Stelle mich auf die Zehenspitzen. Ich sehe achtlos hingeworfene Handtücher. Ich sehe Beine, sehe, wie es mehr werden.

*

Sie treibt es wieder mit jemandem. Typen. Diesmal sind sie zu zweit. Sie ist wieder lebendig, leidenschaftlich.

Ein Typ legt sich auf den Rücken, das Mädchen setzt sich auf ihn. Der zweite stellt sich breitbeinig hin, schiebt ihr sein Hinterteil vors Gesicht, und das Mädchen leckt ihn. Dort, genau dort, wo es niemand erwarten würde.

Der liegende Typ betrachtet das von unten. Die Brüste, die Pyrenäen, mindestens die Karpaten. Seine Hand begibt sich auf Reisen dorthin.

Der Typ, dem das Mädchen den Hintern geleckt hat, rennt auf einmal in eine Ecke. Vor einem Moment hat er sich noch mit der Hand den Schwanz massiert und gebrüllt, jetzt hält er die Klappe, verschränkt die Arme vor dem Unterleib, krümmt sich und rennt weg. Krümmt sich. Und rennt weg. Wie ein Kind, wie ein geprügelter Hund. Es ist etwas passiert, das nicht hätte passieren dürfen.

*

Alles, was das Mädchen macht, was das Mädchen mit sich machen lässt, wird von einer Kamera gefilmt.

*

Der, der sie hält, hält sie auch weiter, aber er filmt nicht mehr. Er springt zu dem Mädchen, streichelt ihr über den Rücken. Mit der Action ist es vorbei, der liegende Typ nimmt die Hände hinter den Kopf, wartet, wie es weitergeht. Der, der gegen alle Regeln Luft abgelassen hat, muss aufgemuntert, rangerufen werden. Sie rennen nach allen Seiten auseinander. Auch das Mädchen muss aufgemuntert und rangerufen werden. Die Atmosphäre ist … angespannt.

Ich habe die Hände aus meinen Hosentaschen geholt, Pause. Eine menschliche Situation, keine Tiere mehr. Scham und Erniedrigung, eine Beleidigung. Ich bin mir sicher, dass sie nicht mehr mit ihm arbeiten will. Ich denke darüber nach, was die beiden wohl fühlen jetzt müssen. Kredit verspielt, Vertrauen verspielt. Der Typ hat das einzige gemacht, was er nicht hätte machen dürfen. Anders gesagt: stehen. Mehr haben sie von ihm gar nicht verlangt. Und er hat stattdessen am falschen Ende einen Pfiff ausgestoßen.

*

[…]

Und ich stehe da, denke nach, in meinem Kopf beginnt etwas sich zusammenzufügen. Mein ganzes Leben lang habe ich gestanden. Am Fleck, ich habe mich nirgends hinbewegt. Ich habe gelebt wie ein Model, und Models habe ich geliebt. Anna ist Fotomodell, ich weiß nicht, ob ich das erwähnt hatte.

Ich drehe mich um. Lehne mich gegen die Mauer und ziehe den Schnappschuss von Milla Jovovich aus der Tasche. Milla ruht in Frieden auf den Grabsteinen menschlicher Träume, auf den Titelseiten von Zeitschriften, sie erinnert die Menschheit an den Tod.

Ich lege Milla auf meine Handfläche. Mache meine eigenen Arme als Lager zurecht, als würde in ihnen jemand sterben. Pietà … Anna und ihre knochigen Schultern. Die alte Art und Weise der Wahrnehmung. Wir haben uns nicht vom Fleck bewegt.

*

Ich drehe mich zurück zum Garten, stelle mich wieder auf die Zehenspitzen. Seit der industriellen Revolution haben wir nicht so viel Dorf vor Augen gehabt. Ich schaue dieses Mädchen an, und vor Augen habe ich eine Bäuerin auf dem Heuboden.

Bei Models genügt es, wenn sie wehmütig gucken und stehen. Aber dieses Mädchen muss sich umdrehen können. Mit diesem Mädchen ist das Blut in die Welt zurückgekehrt. Der Boom der Pornodarstellerinnen ist ein rustikaler Boom, der wohl nur mit dem Boom rustikaler Möbel Anfang der Neunzigerjahre vergleichbar ist.

*

Zu Lucie …

*

Ich will mich gerade aufraffen und gehen, da stellen unsere Blicke den Kontakt her. Er nimmt die Kamera in die Hand und richtet sie auf die Mauer.

*

Randy. Amerikaner. Europas Herz platzt fast, so viele gibt es davon im Herzen Europas. Ich bin ihm in Prag begegnet. Wir haben uns ein paarmal getroffen, auf ein Bier, einen Schnaps. Einmal habe ich Station gemacht in seiner Heimat, seinem in the middle of nowhere, Macon, Georgia. In der Hängematte, auf der Veranda, habe ich gelesen. Doktor Faustus, Thomas Mann. Auf der Cherry Street das Cherry Blossom Festival. Blühende Kirschbäume, Hunderte, Tausende. Sonst nichts.

Genauso wie die anderen Amerikaner war auch er bedauernswert, erbärmlich, als er ins Herz von Europa blickte und Angst hatte, etwas kaputt zu machen. Wenn nun etwas zerbrechen würde … lieber vorher ein lautes Lachen. Kleine Menschen aus großen Völkern sind verloren. Bedauern, über die Amerikaner, über die Russen. Auch in Randys Sprache findet das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, seit vielen Jahren seine natürliche Form. Auch Randys Heimatland kann Schmerz nicht nur fühlen, sondern auch austeilen.

*

Er legt die Kamera zurück auf den Tisch, hört aber nicht auf zu schauen. Er bittet mich um etwas. Dann ein Schnitt. Er hat die Stimme gehoben, sagt etwas zu den anderen. Er versucht irgendwie auszusehen. Fasst seine halbhohen Turnschuhe beim Schaft, solche, wie Amerikaner sie tragen, sportlich, immer bereit zu gehen. Er beugt sich nach vorn, fuchtelt mit den Armen. Das Mädchen sitzt da, nur in Höschen. Randy hat ihr einen Bademantel hingeworfen, damit sie sich bedecken kann. Arbeit, und das hier ist die tägliche Besprechung. Leute, Kollegen. Zu lösende Probleme, unlösbare Probleme, Routine. Ich verstehe. Ich habe es ihm versprochen.

*

Durch den Graben kommt etwas gerannt, zu mir, mir entgegen. Durch den Graben rennen schwere Schuhe, ein schweres Naturell, genau zwei. Mit Motorradhelmen auf dem Kopf, Furcht einflößend. Randy, ich bin’s. Ich springe auf, schreie in seiner Sprache. Erinnerst du dich? Sprachen sind das Tor zur Welt. Ich ertrinke. Die Hauswand ist die Staumauer. Sie packen mich, zerren mich aus dem Loch heraus. Schleifen mich durch den Graben. Stellen mich vor die Tür, läuten an meiner statt. Sie lassen mich los, und ich trete ein.

[…]

 

© Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch, 2008 /info@worte-und-orte.de/