Petr Hruška

Und ich sah mein Gesicht

2022 | Host

Gedichte aus Und ich sah mein Gesicht

 

Am 8. September 1522, nach drei zermürbenden Jahren auf hoher See, erreichte Sevilla »das letzte geschundene Schiff der großen Magellanschen Flotte beschwert mit Nelken / achtzehn Männern / und der Nachricht / dass die Erde keinen Rand habe, und so auch keine Ruhe

Am 8. September 2022 erschien nach fünf Jahren Pause ein neuer Gedichtband von Petr Hruška. Darin eingefangen eine fiktive tragikomische Schiffsreise. Das Gefährt, das Hruška hier geschaffen hat, ist gleichermaßen ein Eroberungsschiff wie ein irrender, feilschender, wundersamer Segler – und ein werdendes Wrack, es erinnert an ein Narrenschiff, ohne Kurs und ohne Sinn.

 

* * *

 

Sie ankern vor Ufer,

stehen am Land.

Einige verstecken sich in Häusern.

Doch selbst Häuser täuschen nur vor,

keine Schiffe zu sein.

Ein weiteres riesiges erhebt sich in der Kirche.

In der Schenke schwimmt der alte Tisch längst fort,

der Stuhl schwankt.

Draußen warten erstarrte Bäume

darauf,

Masten zu werden, Kielen, Rahen.

Drin beichten die Möbel darrend

ihre Deckbretter.

Wohin der Mensch nur schaut,

in allem ist Schiff.

Frau und Mann,

beide bleich,

starren sich an.

 

* * *

Papageien im Spiegel

 

Was man wissen sollte:

Für ein Messer gibt es Obst.

Für eine kleine Glocke Ingwer,

für ein Kupferdraht eine Schüssel Nelken,

für eine rote Mütze einen Stier.

Für einen Angelhaken einen Korb Süßkartoffeln,

den gegen Abend

zwei Frauen bringen.

Morgens tragen sie ihn wieder zurück.

Für eine Schnur gibt es fünf bis sechs Hühner,

für eine Schere sieben.

Für einen Kamm einen Fisch.

Für einen unbeschriebenen Papierbogen einen Tanz.

Für den Schuss in die Sterne

die Nacht.

 

* * *

Sie erklärten, wir seien im Sterben zu eben.

Ein wenig einrollen,

um durch das nali-pui-Tor zu passen.

Das sei so ziemlich alles,

was uns fehlt,

aber es ist sehr viel.

* * *

Hast du schon den Awuan gehört?

Awuan ist nicht Tooteva,

ihm huldigt man nicht.

Er zählt weder zu den kleinen, Tavahi,

noch zu den großen, Bopana.

An seinen Füßen zeigen die Zehen nach hinten.

Den Korb trägt er kopfüber.

Awuan erkennt keine Gerechtigkeit,

weder eure noch unsre.

Habt ihr viele Schiffe?

Haben wir viel Schilf?

Awuan besänftigt nicht.

Awuan besänftigt nicht einmal La-wah,

den Rauch großer Feuer,

die rosige Stelle am Körper.

Awuan besänftigt nicht einmal Awuan.

Hörst du?

* * *

Der Sitte nach schneiden sie den Unterkiefer ab.

Wir wiederum sind erfinderisch mit Feuer.

Wir müssen es hier beenden.

Und dennoch –

ich habe sie unter allen anderen erkannt

am nackten Rücken!

Sie hat keinen Namen.

Das Blut wischen wir uns gegenseitig ab

abwechselnd.

Danach auch alles andere.

Ich denke dabei an ein Kap

mit Aussicht auf den Horizont.

So eins gibt es nicht.

Aber ich denke daran.

Vermutlich verlassen mich die Kräfte.

Die Seuche verbreitet sich schnell.

Wir umarmen uns wieder.

Am nächsten Tag schwört das halbe Dorf

Christen werden zu wollen.

* * *

Gestern ist das Logbuch untergegangen.

Öffnete sich auf der Oberfläche wie

eine Seerose

und sank langsam

in die Tiefen der See.

Darin standen alle Breitengrade,

die Namen der Inseln,

deren Häuptlinge Treue gelobt hatten.

Darin stand verzeichnet,

was es auf dem Schiff noch gibt.

Notizen zu Strafmaßnahmen.

Grundwörter in Eingeborenensprachen,

wie man Sonne sagt,

Messer abgeben,

Frau, Mann,

keine Angst.

Wer wird uns je glauben?

* * *

Der König der Insel weint

aus Freundschaft.

Sofort tauschen wir alle

andächtig unsere Namen

und tragen nur kurze Waffen.

Die Bäuche der Frauen

sind voller Spiralen.

Nach Fischen folgen Schlangen.

Palmwein.

Noch mehr Palmwein.

Der König kennt kein Ende.

Es wird immer schwieriger zu erklären,

dass wir, wenn wir stets vorwärts segeln,

zurückkehren.

* * *

Einer mit schwarzer Lippe prophezeit

was kommt und auch was kam.

Kaum

noch auf den Beinen.

Das Pampasgras zittert.

Er öffnet den Mund,

als wollte er verkünden:

Koralleninsel,

wir aber hören,

dass er fiept

tausende Fischchen

tausende Fischchen

tausende Fischchen…

* * *

Tage ohne Anfang, ohne Ende

stürzen gestaltlos ineinander.

Wir sparen mit Wasser, Bewegungen und Worten.

Die meiste Kraft kosten Rangeleien um Kursrichtung.

Unsere Schiffe beschweren

winzige Pfefferkörner,

Kanonenkugeln,

die bei Stürmen durchs Unterdeck wandern,

Seide für Frauenkleider,

jetzt schon mit Männerfantasien volltränkt,

Flaschen mit Brandy,

leuchtend vor Hitze.

Aus dem gerissenen Briefsack

rieselt weiße Stille.

Nachmittags gehen wir an Land

betreten eine seltsame Insel.

Alles geht uns an.

Wir wissen und brauchen keinen Rat.

Nichts gehorcht uns,

von jedem Sinn befreit,

läuft alles an uns vorbei.

Zum ersten Mal spüre ich,

dass man die Welt nicht entdecken kann.

* * *

Hier war vor uns noch niemand.

Erst hier sind wir

die Ersten.

Als würde man der Bibel den Namen geben.

Der Lumpen auf der Reling

zeigt keine Regung.

Unsere Schiffe sind von solchen,

die nicht umkehren.

Hierher

brachten uns Geisteskraft

und gefälschte Karten.

* * *

Großer Streit,

ob mit Gesicht zum Boden oder zur See bestatten.

Es gibt welche,

die mitten im Ozean mit blutenden Mündern behaupten,

mit bloßem Auge die Hoheitsgewässer

Portugals und Spaniens zu erkennen.

Das Fieber zeichnet Karten.

Diese unerträgliche Ungewissheit,

wo wir sind.

Astrolabium, Kamal,

konzentriertes Schweigen der Messgeräte.

Sie wissen mehr,

als wir sie fragen.

Vorm Mittag

lässt der Kapitän alle antreten,

alle Verbliebenen.

Das rattenverseuchte Streu

stopfen sie schnell in die Taschen,

um sich das Mittagessen zu sichern.

Nach der Salve heißt es,

wir hätten gerade die Päpstliche Linie überquert,

die die Welt trennt.

Es gibt welche,

die sofort Freude verspüren.

 

Aus dem Tschechischen von Martina Lisa