Marek Torčík

Das Gedächtnis zerlegen

2023 | Paseka

2023

3:37 weckt dich das Telefon.
Die Stimme deiner Mutter ist leise, trotzdem hörst du ganz klar jede Silbe. „Marek, Opa ist gestorben.“
Der Satz hat für dich nichts Besonderes, nichts Dringliches, und so schaffst du es

nicht, schnell genug wach zu werden. Deine Mutter hat aufgelegt, ohne dass du irgendetwas sagen konntest. Du setzt dich auf, reibst dir die Augen.

Das Dunkel an den Wänden wirkt eine Zeitlang einheitlich, nach und nach entdeckst du darin aber durch verdrehte goldene Lichtstreifen von der Straße gestörte Stellen. Flecken, wo du nicht scharfstellen kannst.

Dir kommt der Gedanke, dass du von bestimmten Dingen bisher niemandem was erzählt hast.

Zum Beispiel – in der achten Klasse hat dich nicht Filip die Treppe runtergeschubst. Du bist aus eigener Blödheit gestürzt, und als du wieder zu dir gekommen warst, wolltest du die Situation ausnutzen. Erstaunlicherweise war alles verhältnismäßig einfach durchgegangen. Nur ein paar Wochen später sitzt du in der Direktion der neuen Schule und hörst einem grau melierten Mann mit einem Funkeln in den Augen zu. Er schreit herum: „Hier bei uns werde ich Mobbing in keiner Weise dulden, das kommt nicht in Frage!“

Du hast eine zweite Chance bekommen, zumindest nach Ansicht deiner Mutter.

„Gib dir Mühe, dass du nicht so rausstichst, ja?“, redet sie dir zu, während ihr zusammen durch den Flur zum Klassenzimmer geht. Du warst entschlossen gewesen, dich anzupassen. Nicht anders zu sein, vor niemandem über Dinge zu sprechen, die dir durch den Kopf gehen. Nicht zu zeigen, wer du bist. Du hattest gelernt, sorgfältig auf jeden Schritt zu achten, nicht unnötig dein Becken zu schwingen, andere nicht allzu lange anzustarren. Bevor du den Raum betrittst, räusperst du dich, testest die neue, tiefere Stimme, und seitdem kann dich in dir drin niemand mehr erkennen. Du klappst jedes Mal den Kopf nach unten, wenn die Jungs anfangen, über Mädchen zu reden. Du machst ihnen was vor, lachst mit, und später installierst du dir nach dem Vorbild der anderen auf dem Telefon als Bildschirmhintergrund eine nackte Frau.

In Wirklichkeit kannst du sie nicht mal anschauen. Dafür erinnerst du dich, wie dir ein paar Tage danach Opa das Telefon aus der Hand gerissen hat. Damals wart ihr bei ihm zu Besuch in der Psychiatrie in Kroměříž, er streckte den Arm aus, schnappte nach dem Telefon und wäre fast aus dem Bett gefallen. Lange betrachtete er den Bildschirm, nickte anerkennend.

Warum hast du davon niemandem was erzählt?

 

* * *

 

Opa ist gestorben, aber die Zeit läuft weiter. Die Zeit verfließt, in den Lichtströmen von der Straße suchst du irgendeine Erinnerung, etwas, das dich zurückversetzen kann. Im Dunkeln ist das Atmen eines weiteren Körpers zu hören, Jakub grummelt im Schlaf, er dreht sich auf die andere Seite, es ist Nacht, aber durch die Stadt ertönen immer noch massenhaft Geräusche. Durchs offene Fenster dringt Autolärm zu dir herein, eine Gruppe Männer schreit unten herum, auf dem Weg aus der geschlossenen Kneipe. Hin und wieder schnappst du Fetzen fremder Wörter auf, Lachen. Du hast nicht das Gefühl, dass du unter diesen Umständen Trauer spüren kannst. Eine Weile wartest du auf eine Veränderung, sitzt da mit leicht gesenktem Kopf, mit den Fingern tippst du abwesend auf dem Handy herum.

Was in deinem Umfeld fehlt, das findest du auch in dir drin nicht. Statt Trauer ertastest du einen stillen Bereich ohne Worte. Es kommt dir ein bisschen seltsam vor, dass du dich auf einmal nicht an Opas Gesicht erinnern kannst und statt seines tatsächlichen Aussehens nur die Gesichter von alten Fotos vor dir siehst.

Noch einmal versuchst du, ihn dir vorzustellen. Es ist überhaupt nichts von ihm zurückgeblieben.

Du wählst Mamas Nummer, dir wird nämlich klar – du hast sie nicht mal gefragt, wie’s ihr damit geht.

Sie geht schnell ran, du schaffst es kaum, dir das Telefon ans Ohr zu halten. „Heute früh hätte ich zu ihm hinfahren sollen.“
Das Handy entlässt ihre Stimme in das Zwielicht im Zimmer, sie prallt von den

Wänden ab und kehrt schwach durch den Raum zu dir zurück.
„Ich hab hier den Beutel für ihn stehen, ich hab alles besorgt, was er sich bestellt

hatte.“

Dabei kannst du dich an andere Dinge ziemlich gut erinnern. Andere Gesichter, Gefühle. Andere Geschichten.

Vermutlich liegt das daran, dass du Opas Geschichte eben von deiner Mutter übernommen hast. Deine eigenen Erinnerungen sind in den Hintergrund geschoben, dort verharren sie wie Gestalten außerhalb der Handlung. Gestalten, die ihre Rolle anscheinend fertig gespielt haben und jetzt abwarten, eingeschlossen in Zimmern, die im Gedächtnis verlorengegangen sind. Zu dem Opa, den du kennst – kanntest – ist er dank ihr geworden.

Die letzten Lebensjahre hat er bis auf Ausnahmen in der Geschlossenen verbracht. Eines Tages ist er einfach verrückt geworden, er sah Dinge, die niemand anderes sah. Die Ärzte in Kroměříž haben das seiner Krankheit zugeschrieben, dem Übermaß an Alkohol und Zigaretten. Und außerdem die Lunge. Kaputt, vom Teer verätzt. Sie konnte das Gedächtnis nicht länger aufbewahren und das ist gemeinsam mit Opa langsam zerfallen.

Deine Mutter hat sich oft an ihn erinnert. Schon als kleinem Kind hat sie dir erzählt, was es bedeutet hat, mit so jemandem aufzuwachsen, was der Alkohol mit Opa gemacht hat, wie oft sie mit Oma stundenlang geduldig vor der Kneipe gesessen und gewartet hat, nur damit sie nicht zu ihm da rein mussten.

Zum Schluss landete sie dann meist bei einer konkreten Nacht. Bei der, die alles verändert hatte. Auf diese Nacht kam sie immer wieder genauso erschüttert und durcheinander zurück, als sollte jede Rückkehr einen weiteren Weg öffnen, Türen zu bisher verschlossenen Zimmern, und sie könnte etwas verstehen, das ihr früher entgangen war.

Deine erste Erinnerung an Opa ist in einen eigenartigen Dunst gehüllt, manchmal hast du das Gefühl, du musst sie dir ausgedacht haben. Du warst noch nicht mal fünf, ihr habt oben gestanden, oberhalb vom Hotel Jana, und die Bečva beobachtet, die ihr Flussbett verlassen und sich über den Schulsportplatz bis zum Parkplatz ergossen hatte. Du hast Opa an der Hand gehalten, während unter euch das schäumende braune Wasser an den Fassaden der Plattenbauten leckte. Opa betrachtete das alles schweigend, dann zeigte er plötzlich nach oben auf einen am Himmel kreisenden Vogelschwarm und verkündete: „Siehst du die? Die sind verwirrt, weil sie nicht wissen, wo sie landen sollen. Normalerweise haben sie kein Problem damit, überm Wasser zu fliegen. Dazu sind sie viel zu clever, die schaffen es, jedes Jahr genau an dieselbe Stelle zurückzufinden.“ Du hast ihn mit offenem Mund angestarrt und jedes Wort aufgesogen. „Stell dir halt mal sone Schwalbe vor, auf einmal ist unter der alles anders. Klar, die Natur hat denen zwar ’nen eigenen Kompass gegeben, ein ganz kleines bisschen Metall hier im Schnabel, damit können sie riesige Entfernungen im schlimmsten Fall auch blind fliegen. Zum Landen müssen sie aber dann doch was sehen können.“ Er schiebt seinen Finger auf die schwarze Schliere, die in regelmäßigen Abständen Richtung Boden rauscht und ein langgestrecktes, verzweifeltes Krächzen von sich gibt. „Da, guck. Die versuchen bestimmt die Stelle zu finden, wo sie’s gewohnt sind, zu landen.“

Du musst schlucken. Den Nachhall dieser Erinnerung nimmst du heute anders wahr, schärfer. Du weißt ziemlich sicher, dass das damals keinem von euch beiden in den Sinn gekommen ist – alles, was er gesagt hat, gilt genauso für die Menschen; auch wir versuchen andauernd, zu uns selbst zurückzukehren, zurück an Stellen, die längst nicht mehr dieselben sind.

 

* * *

Du bist zehn. Außer dass du Bücher in Größenordnungen gleichzeitig liest und mit niemandem weiter redest, ist an dir nichts komisch. Das kannst du allerdings von Marián nicht behaupten, dem Jungen, der nach dem ersten Halbjahr zu euch in die Klasse gekommen ist. Marián war still, trug eigenartig enge Jeans, hatte längere dunkle Haare. Eigentlich hat auf ihn damals für dich zum ersten Mal die Beschreibung von Professor Snape gepasst. Fettige schwarze Haare, lange, krumme Nase und fahle Hautfarbe. Bloß war seine Haut nicht fahl, sondern dunkel und übersät mit weißen Flecken. Meist saß er mit übergeschlagenen Beinen da und verbrachte die Zeit in der Schule immerzu alleine. Er roch speziell, sein langer Hals wirkte aus der Entfernung deiner Bank wie der eines Mädchens. Just auf Marián richtete sich zu jener Zeit die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse. Die anderen Jungs kippten ihm regelmäßig den Papierkorbinhalt in die Schultasche, beim Sportunterricht rammten sie ihn absichtlich. Später in der Umkleide bemerktest du die Blutergüsse überall an seinem Körper. Das war ’n Schwuli und ’ne Schwuchtel, rumgewatschelt ist der wie ’n besoffener Erpel, kleine schwarze Fotze. „Schlimmer als ’n Mädchen“, schrien sie ihm in der Pause hinterher, während die Lehrer ins Kabinett gingen oder eher so taten, als würden sie nichts hören. Mit den gleichen Ausdrücken hast auch du um dich geworfen und dabei gehofft, dass niemandem deine übergeschlagenen Beine auffallen, deine Blicke zu den verschwitzten Leibern in der Umkleide. Deine Erinnerungen waren nämlich noch frisch. Du wusstest noch, wie das ist, auf der anderen Seite zu stehen. Bis vor Kurzem bist du selber noch Ziel derartiger Ausdrücke gewesen. Du warst der Schwuli. Der Streber. Und eine Menge anderer Dinge. Auch du bist nach Hause gekommen mit einem abgerissenen Gurt an der Schultasche, mit einem ramponierten T-Shirt.

Inmitten dieser Erinnerung sitzt du in deiner Bank und starrst abwesend aus dem Fenster. Marián kommt von der Tafel zurück, wo ihn die Lehrerin möglicherweise allzu lange examiniert hat. Der starke Geruch des Weichspülers aus seinen Sachen hängt dir immer noch im Gedächtnis. Marián sitzt schon fast, als ihm Filip in der Bank hinter ihm den Stuhl wegzieht. Die Zeit bleibt nicht stehen. Die Zeit nimmt Fahrt auf, Marián reißt die Arme in die Luft und schlägt mit dem Hinterkopf gegen die Tischkante. Auf den dumpfen Aufprall folgt das Poltern des Stuhls. Ein gedämpftes Plumpsen. Stille. Alles hatte sich viel schneller abgespielt, als es dein Gehirn verarbeiten konnte. Du erinnerst dich eher an die Abfolge der Geräusche als an die Bewegung selbst. Eher als an die Reaktion der anderen an die Blutlache, die aus dem Körper des Jungen rinnt. Aus diesem fragilen Körper, der der Norm nicht entspricht, genauso wie dein eigener.

Du schämst dich für dich selbst; da gibt es Bilder, zu denen du nur ungern zurückkehrst, nur wenn es um dich herum still und dunkel ist und du keine Wahl hast. Ist dir damals schon bewusst geworden, wie sehr dir diese ganze Angelegenheit nahegeht?

Opa verkündete immer wieder gern, das Einzige, was der Hitler jemals richtig gemacht habe, sei gewesen, dass er die Zigeuner und die Schwulis ins KZ gesteckt hat. In seiner Welt gab es nicht den Aufprall von Worten auf die Körper, auf die Opa zielte, immer ging es nur darum, dass er es sich endlich rausnehmen konnte, laut die Wahrheit zu sagen. „Scheiße, wir ha’m hier so was wie Freiheit, oder?“, brüllte er außer sich vor Wut den Fernseher an, sobald ihm irgendwas nicht passte; kaum, dass jemand Einwände hatte. Den Schmerz, der durch einen solchen Ausdruck verursacht wurde,
ein Aufprall vergleichbar mit einem Schlag gegen den Kopf, nahm er nicht wahr. Worte können schließlich nicht ein Leben unmöglich machen, nicht zu immer mehr Schwellungen im Gedächtnis führen. „Der redet bloß dummes Zeug“, sagte Mama immer, aber damit versuchte sie sich vor allem selbst zu beruhigen. Opa hat kein einziges Mal das, was er sagte, in Verbindung gebracht mit der Faust im Gesicht des eigenen Enkels.

Inzwischen weißt du, dass genauso einfach, wie ein Wort zur Waffe werden kann, Gewalt Sprache ersetzen kann. Eine Faust ist oft einfach bloß ein Satz, der jedem verständlich ist.

Marián ist damals abtransportiert worden und die ganze Klasse stand unter Schock. Niemand sagte was oder wagte, sich vom Fleck zu rühren. Schon der nächste Tag aber lief wieder im üblichen Tempo ab. Nicht mal innegehalten hast du angesichts der leeren Bank, du hast so getan, als ob du das Geschrei aus der Direktion nicht hörst, wo die Mutter des Jungen erklärt haben wollte, was genau geschehen war.

Ein paar Monate später hat dir Filip – durch irgendein Wunder hatte er es geschafft, sich aus der Sache rauszuwinden – beim Sport den Atem verschlagen. Da war Marián schon wieder da, er war zurückgekommen, alle sind am Anfang auf Zehenspitzen um ihn rumgeschlichen, und Filip war stinksauer. Eure Klassenlehrerin hatte ihn extra in die Bank neben Marián gesetzt, „ihr müsst lernen, euch gegenseitig zu respektieren“, ordnete sie an und weigerte sich, weiter darüber zu diskutieren. Die aufgestaute Wut und Frustration aus Langeweile musste Filip irgendwo anders rauslassen. Damals habt ihr Weitsprung gemacht, du warst dran, hast Anlauf genommen, deine Schritte gezählt, noch drei, noch zwei, du hast die Arme ausgebreitet – und unmittelbar vorm Absprung hat dir Filip die Beine weggekickt. Das Blut aus der durchgebissenen Lippe hatte die gleiche Farbe wie die frisch im Gedächtnis gespeicherte. Es hat weniger geblutet, der Geschmack vibriert trotzdem bis heute in deinem Körper.

Du erinnerst dich an den Sommer, als das Ganze gekippt war. An das Dunkel hinter dem Fenster der fremden Wohnung, an deinen Sturz kurz zuvor; daran, wie manche Dinge zusammenhängen, auch wenn du selbst das gar nicht unbedingt wissen musst. Alles ist miteinander verbunden. Auch Opas Anfall und Mamas wütendes, unglückliches Gesicht. Du erinnerst dich an die Tage davor und an die Tage danach, und wieder fällt dir ein: Es gibt Dinge, von denen du bisher niemandem was erzählt hast.

Nie hast du Geschichten geglaubt, die sich nur auf einen einzigen Blickwinkel verlassen. Wenn ich dich gestern noch gefragt hätte, dann hättest du geantwortet, dass beim Zurückdenken an Opa nichts Gescheites rauskommt – es gibt schlicht viel zu viele Dinge, von denen du nichts ahnst. Es gibt so viel, was du nicht mehr weißt. Außerdem betrifft nicht alles ihn. Fehlende Erinnerungen, Lücken im Gedächtnis. Was ist, wenn aber die Antwort woanders liegt? Was ist, wenn sich der Schlüssel gerade in den Lücken befindet, man braucht nur unzusammenhängende Bilder in sie hineinstecken und zeigen, dass auch scheinbar fremde Geschichten miteinander verwoben sind.

Es war deine Mutter gewesen, die aus Opa wieder einen Menschen gemacht hatte. Als Einzige in der ganzen Familie war sie willens gewesen, sich um ihn zu kümmern. Zu begreifen, dass sich Menschen ändern können. Ihm eine zweite Chance zu geben. Genauso wie du damals auch eine bekommen hattest, wie du so oft eine bekommen hast und wie du so oft im Leben noch eine bekommen wirst. Sie hat für euch zwei ein Stück von sich selbst geopfert, und du bist bis jetzt nicht in der Lage zu begreifen, warum.

* * *

 

Am Morgen wachst du müde und verwirrt auf, im Kopf hast du eine einzige Frage, einen einzigen Satz. Du kannst dich nicht mehr erinnern, wo du ihn gelesen hast. Wer bin ich aber für mich selbst, dass ich mich daran erinnern und so oft darauf zurückkommen muss? Du öffnest die Augen und der Raum vor dir ist eine weiße Wand – solide, ohne Schatten, ihr fehlen die Dimensionen und die Tiefe. Du schließt die Augen. Die Geräusche von der Straße zersplittern schon jetzt an den Fensterscheiben. Irgendwo unter dir läuft die Stadt ab – Autos stoppen unablässig an Kreuzungen, unablässig Straßenbahnen und das Geräusch der Ampel. Ihr wechselnder Rhythmus stört das Pochen deines Herzens; etwas, womit du von klein auf ein Problem hast, die Kontraktionen dieses Muskels sind auf einmal unregelmäßig, der Abstand zwischen den Schlägen wird länger. Jakub sagt, dass du damit zum Arzt gehen sollst.

In der Nacht bleibt die Ampel still, trotzdem geht ihr Geräusch im Gedächtnis weiter.

Auf dem Tisch ertastest du das Telefon und rufst Mama an. In den Lücken zwischen den Worten hört man den Lärm in der Werkstatt.

„Nach Hause lassen die mich erst heute Nachmittag“, flüstert sie und ihre Stimme überschlägt sich leicht.

Dir das Gesicht deiner Mutter ins Gedächtnis zu rufen, funktioniert. Den größten Teil ihres Lebens hat Opa sie schikaniert, gute Erinnerungen an ihre Kindheit hatte sie nur ausnahmsweise.

„Und ich muss eh noch was fertigmachen, ich weiß ja, dass wegen ihm die Welt nicht stehen bleibt.“

Du setzt dich auf, machst die Leselampe an, obwohl es draußen schon hell ist. Die Sprache, in der du denkst, erinnert dich so früh am Morgen nicht an jenes unruhige, gefährliche Instrument. An etwas, womit du Hiebe versetzen kannst, geschweige denn etwas, womit du das Gefühl beschreiben könntest, dass Opa weg ist und du unfähig bist zu sagen, was er für dich war, wie du manchmal auch unfähig bist auszudrücken, wer du bist, die Gegenwart eines anderen Körpers neben dir zu beschreiben, die Wärme aus der seltsamen Gewissheit, dass dieser Körper noch eine Zeitlang hier sein wird.

Ausatmen, einatmen, ein Knacken im Lattenrost des Betts.

Diese Gewissheit verwandelt sich in Bilder, in Umgebungsgeräusche. Ähnlich, wie wenn das Tempo der Ampel deinen Herzrhythmus beeinflusst oder die Regelmäßigkeit des Geschreis von der Straße den Strom deiner Gedanken unterbricht. Falls du das, was du nicht aussprechen kannst, nur andeuten, in der Deckung der Worte ahnen kannst – ist es dann überhaupt möglich, eine Sache so auszudrücken, dass sie nicht anders erscheint, zerbröselt in mehrere unvollständige Teile?

Du lässt den Blick durchs Zimmer schweifen, um dich davon zu überzeugen. Um dich der Wahrheit zu nähern. Bloß löst du nur eine weitere Serie von Erinnerungen aus. Sie kommen plötzlich, unzusammenhängend, einige haben nur vage etwas mit Opa zu tun, andere überhaupt nichts.

Du bist fünf und dein Vater hat dich mit zum Stausee Plumlov genommen, Wassertreter fahren. Die ganze Szene siehst Du von Weitem, du stehst am Ufer und beobachtest, wie du als Kind auf dem Wasser davonfährst.

Das Du-Kind hypnotisiert mit Blicken einen riesigen Haifisch, der vom Dach des Bootsverleihs hängt. Zwei Gestalten fahren im Dunkeln übers regungslose Wasser hinaus in die Mitte des Stausees. Das Du-Kind beobachtet, wie der Haifisch verschwindet, während die Bilder im Kopf weitere Haifische produzieren. Sie schwimmen unter Wasser, und mit jedem Erzittern des Tretboots stellt sich das Du-Kind vor, wie ihre Mäuler gegen den Bootsrumpf stoßen. Der Vater reckt den Arm, um auf die Silhouette des in einiger Entfernung stehenden Schlosses zu zeigen, und die Armbanduhr fliegt ihm in hohem Bogen vom Handgelenk. Ihre Flugbahn führt direkt unter die verdunkelte Wasserfläche, ins Reich der gedachten Haifische, wo sie nach ein paar Kilometern im sandigen Grund versinkt. Die Szene, in der das Herz des Ozeans den Meeresboden aufwirbelt. Schnitt zum Gesicht von Rose, Schnitt zu den Archäologen, Schnitt zum Vater, der mit fanatischer Miene sein T-Shirt auszieht und mit den Worten bleib hier ins Wasser springt.

Als dein Vater wieder auftauchte, hatte er die Uhr nicht dabei. Das hat dir deine Mutter so oft erzählt, dass du dich nicht mehr erinnern kannst, wie das alles passiert ist, und vielleicht kannst du deswegen diese Erinnerung nicht mit eigenen Augen sehen. Ihre Version ist im Lauf der Zeit die Vorlage zum tatsächlichen Ereignis geworden und du kannst faktisch immer schwerer unterscheiden zwischen der Geschichte deiner Mutter und dem ursprünglichen Stand der Dinge.

Oft kommst du auf diese Szene zurück. Du erinnerst dich an deine Panik, registrierst die Vibrationen des Zorns, die durch deinen Körper fließen, auch noch nach so langer Zeit. Du hattest den Eindruck, Papa sei stundenlang unter Wasser. Tage vergingen, ganze Jahrhunderte, du hast dir die unterschiedlichsten Szenarien vorgestellt: einen Haifisch mit einem Männerbein im Maul; Papas regloses Gesicht, das ins Dunkel hinabsinkt. Dein Vater schaffte es aber, sich aus den Tiefen wieder aufs Tretboot zu hieven, wo er dich mit einem dunkelrot angelaufenen Gesicht voller Wut und Tränen vorfand.

Eigenartig an dieser Erinnerung ist, wie viele verschiedene Versionen es davon gibt. Du bist der Einzige, der sich an den Haifisch am Dach des Bootsverleihs erinnern kann; der Einzige, der auf dem Tretboot inmitten der Wassermassen stand und den die gesamte Last der kindlichen Welt bedrängte. Dein Vater wiederum weist die Existenz der Armbanduhr zurück, stattdessen hat er sich seinem Telefon hinterhergestürzt, seinem Portemonnaie, irgendetwas, was er in demjenigen Moment als für das Leben eines Menschen wesentlicheres Gut erachtet. Er ist sich nicht sicher, ob es ein Tretboot oder ein Ruderboot war. Und vielleicht ist Mama, die alles aus zweiter Hand hat, letzten Endes tatsächlich näher dran an der ursprünglichen Version. Was sie erzählt, ist allein vom Fluss der Zeit abgeschmirgelt, ist aus dem Gedächtnis herausgerissen, denn für sie ist das Ganze nie wirklich passiert.

Was sind Erinnerungen anderes als eben Geschichten. Ich erinnere dich an sie, weil ich der Auffassung bin, dass sie demselben Menschen gehören, der du einmal gewesen bist. Du verspinnst sie zu einem Netz, du sitzt auf ihnen, als wären ausgerechnet sie es, die dich über Wasser halten. In Wirklichkeit jedoch transformieren sie sich mit jedem Erzählen in etwas Anderes, Entferntes.

Ein paar Monate nach der Szene auf dem Wassertreter noch ein Schnipsel: Papa und du, ihr seid in dem Hotel, wo er früher gearbeitet hat. Während du im Fernsehen Cartoon Network schaust, ist Papa in der Dusche. Den Sender habt ihr zu Hause nicht, und so kannst du dich nicht vom Bildschirm losreißen. Im Zimmer stinkt irgendwas ganz furchtbar. Papa kommt aus dem Bad, du rufst ihm zu, dass hier irgendwas ganz furchtbar stinkt, er soll sich doch freundlicherweise die Füße noch mal waschen. Du weißt noch, dass er dann irgendwo hinmusste und du weiter geguckt hast, bis auf dem Bildschirm nur noch Schneegriesel kam. Die Grenzen dieser Erinnerung sind aber um nichts realer als die Überlagerung aller anderen abgespeicherten Versionen – du kennst die Erinnerung eher als Text, den du dir laut vorliest, du änderst einzelne Szenen, kleinere und größere Details, je nachdem, wem du sie erzählst.

Gleich fällt dir noch eine ein: Papa und du, ihr steht am Waschbecken, du auf einem Hocker, er mit den Beinen fest auf dem Boden. Beide habt ihr weißen Schaum im Gesicht, den ihr euch mit dem Rasierer in langen Streifen nach unten abzieht. Deiner hat zwar keine Klinge, das hindert dich aber nicht daran, die sorgfältigen Bewegungen des Mannes neben dir zu wiederholen. Sobald ihr fertig seid, spült ihr den Schaum im Waschbecken weg, Papa reibt dein Gesicht mit einem Handtuch ab. Den Rasierapparat stellt er dann neben seinen in den Becher, das ganze Ritual erfüllt dich mit einem Glücksgefühl.

Ein Problem gibt es, wenn du die Zeit ein paar Jahre nach vorn drehst und in einem Haufen Fotos, die dein furchtsames Ich beim Umzug zum Studium mitnimmt, die wahrheitsgetreu festgehaltene Szene am Waschbecken findest.

Egal, was das Foto angeblich zeigt, das, was du siehst, ist die Erinnerung.

Du versuchst jetzt den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem jemand – höchstwahrscheinlich Mama – das Bild aufgenommen hat, und du kannst dich inzwischen an nichts weiter erinnern. Was hat zu dem Foto geführt? Du spürst so höchstens die Bewegung des Kunststoffs über die glatte Wange, den mit Wasser verdünnten Schaum im Waschbecken. Die am Spiegel kondensierte Feuchtigkeit.

Das Foto ist irgendwie zur Vorlage der Wirklichkeit geworden, zur Schablone für eine unechte Erinnerung. Zum ersten Mal hast du es gesehen, als du etwas älter warst, jemand muss es dir gezeigt haben, oder du bist heimlich an den Schrank gegangen und hast die Stöße von Fotoalben in dein Zimmer geschleppt. Kann es sein, dass deine Erinnerungen an das alles falsch sind? Verzerrt? Vielleicht hat dein Vater recht, du hast ein paar Erinnerungen zusammengewürfelt. Das Ergebnis ergibt für niemanden sonst Sinn.

Noch bevor du nach Prag gezogen bist, dein Studium abgeschlossen und endlich alles weggeschmissen hast, was dich sowohl mit dem Ort, an dem du aufgewachsen bist, als auch mit deiner eigenen Familie verbunden hat, dachtest du, dass du mit deiner Mutter nichts gemeinsam hast. Wir haben uns nichts zu sagen. Diesen Satz schiebst du immer wieder auf der Zunge hin und her, du rufst ihn auf wie eine Zauberformel, um dich loszureißen. Vom Schmerz, weg von der Scham, von allem, wovor du bis heute Angst hast.

Du stehst auf, schnappst dir das T-Shirt vom Boden, ziehst es dir über den Kopf. In der Küche setzt du Kaffee auf, und während du wartest, bis genug für wenigstens eine Tasse in die Kanne getropft ist, sitzt du auf dem Holzbalken am Fenster und lehnst dich gegen die Wand. Vor dir siehst du den Innenhof, eine weitläufige Fläche, die in ein Gitternetz aus Kleingärten sowie betonierte Parkplätze gegliedert ist. Von hier aus sieht man die Turmspitzen der Kirche und vor allem Fenster über Fenster.

Als du klein warst, hat für dich jedes Fenster, jede Reflexion darin, ja sogar die Reflexion deines Fensters im Fenster des Gebäudes gegenüber eine neue Möglichkeit bedeutet, auf welchem Weg du die Flucht ergreifen könntest. Irgendwo hineinzuschauen hieß, Einblick in fremde Leben zu haben und zumindest für einen Moment nicht an dein eigenes zu denken. Heute weißt du, dass du, wenn du nur aus ausreichender Nähe hinschaust, in jeder Geschichte und jedem Fenster immer irgendwo eine verzerrte und verbogene Reflexion deiner selbst findest. Du denkst, dass dich etwas nichts angeht, und hinter der Scheibe hervor kommt dir dabei immer zumindest dein Schatten entgegen.

Du erinnerst dich, wie an einem Sommertag 2007 Opa zum ersten Mal mit dem Krankenwagen aus der Wohnung im obersten Stockwerk des Wohnheims in Přerov abgeholt worden ist und du aus dem Fenster in der fremden, abgedunkelten Küche geschaut und in der Reflexion des Lichts aus den Straßenlaternen dein eigenes Gesicht betrachtet hast. Dir ist nicht mal in den Sinn gekommen, dass die Ereignisse der vorausgegangenen Tage genau an diesen Ort geführt hatten, und dass die Geräusche, die von den Wänden abprallten und durch das offene Fenster und eine Reihe von Türen zu dir gepilgert kamen, noch mehr mit sich führen könnten als lediglich ein Geräusch.

 

Aus dem Tschechischen übersetzt von Mirko Kraetsch