Als ich ein kleiner Junge war, haben mein Vater und ich uns oft ein Buch angesehen. Wir hatten eigentlich mehrere Kinderbücher zu Hause, aber ich erinnere mich nur an dieses eine. Es war groß und auf den seitengroßen Bildern stach die goldene Farbe hervor. Wir konnten es nicht wirklich lesen, weil es in einer fremden Sprache verfasst war, sogar in einem seltsamen, unbekannten Alphabet. Selbst die Buchstaben wirkten auf uns eher wie winzige, geheimnisvolle Bilder. Aber das störte uns nicht weiter. Schließlich konnte ich noch nicht lesen, und ich mochte Bücher sowieso – warum sollte es meinem Vater denn nicht ähnlich ergehen?
Das Goldene Buch war äußerst wandelbar. Einmal lasen wir es als eine Enzyklopädie der Tiere, da sehr viele von ihnen abgebildet waren, die auf jeder Seite geduldig paarweise das schwere Boot bestiegen. Ein anderes Mal lasen wir das Buch als Geschichte über den mühsamen Bau einer Arche, die lange Zeit auf Wasser warten muss. Aber am besten gefiel uns das Buch, wenn wir einfach nur die Farben betrachteten. Es waren satte, dunkle Farben, und wenn abends das Lampenlicht auf das Buch fiel und man die Augen leicht zusammenkniff, stieg ein sanftes Glühen vom Gold auf. Ich konnte schon längst alle Farben der Buntstifte benennen, aber das war nur eine lächerlich kleine Anzahl von Namen im Vergleich zu den vielen Farben, die man in dem Buch finden konnte. Wir dachten uns immer neue Namen für sie aus. Zum Beispiel einen für die fast durchsichtige Regenfarbe, als die Flut kam. Wir nannten sie Nieselweiß, und bald wurde daraus Gussregengrau. Es gab auch das Küstenbraun, das Sturm- und Abendanthrazit, dann die Feine Wolke, leuchtend und durchscheinend. Wir unterschieden zwischen wüsten- und wasserschiffig, nachtklebrig, nachtdünn, nachtseidig und unzähligen anderen Farben.
Die längste Zeit betrachteten Papa und ich immer die Seite, auf der die Arche weit draußen auf den Wellen wogte, klein wie ein Stück Holz. Das Wasser breitete sich weit aus, bis an den unendlichen Rand des Papiers. Und irgendwo oben auf der Seite ging das Wasser in den Himmel über – das musste so sein, denn ganz oben schien die Sonne durch die Wolkenritzen. Es wurde unser Sport, genau herauszufinden, wo die Linie zwischen dem Wasser und dem Himmel verlief. Wo genau sie war, diese Stelle. Wir haben versucht, das Bild von ganz nah zu betrachten, bis unsere Nasen das Papier berührten. Oder wir lehnten das Buch an die Wand und betrachteten es von der Ferne, von der anderen Seite des Raumes. Wir probierten es auch von der Seite. Oder in der Nähe des Fensters. Oder direkt unter der Lampe. Wir hatten viel Zeit dafür, weil Papa nicht arbeitete und den ganzen Tag mit mir zu Hause war.
Wir waren völlig versunken in die Blätter. Und dann haben wir uns gegenseitig gefragt: Siehst du es schon? Und als wir beide nickten, als Zeichen, dass wir sahen, hieß es: Drei, zwei, eins, jetzt! Und auf jetzt! sausten unsere beiden Finger genau dorthin, wo wir dachten, dass das Wasser den Himmel trifft. Manchmal lagen unsere Finger sehr nahe beieinander. Aber nie genau an der gleichen Stelle. Oder selbst wenn sie einmal an der gleichen Stelle waren, beim nächsten Mal war’s anders.
„Was passiert, Papa“, fragte ich interessiert, „was passiert, wenn die Arche diese Linie erreicht?“
Diese Frage ließ mich nicht schlafen. Sie riss mich aus meinen Träumen und begleitete mich in eben diese. Natürlich wusste ich, was auf der nächsten Seite passieren würde. Dass das Wasser dort bereits zurückgeht, dass mitten im Wasser eine Insel auftaucht, auf der die Arche strandet, dass die Insel schließlich zu einem hohen Berg wird, unter dem die Welt auf den nächsten Seiten austrocknet. Aber ich hatte keine Lust, die Seiten umzublättern. Ich wollte nicht weiterziehen. Noch nicht. Tatsächlich war es die Geschichte auf dieser Seite, die mich im ganzen Buch am meisten interessierte.
„Was passiert, wenn die Arche diese Linie erreicht, sie überquert? Wird sie durch den Himmel segeln? Sag mir, Papa, kann sie durch den Himmel segeln?“
Papa dachte immer sehr lange nach. Er hielt sich den Finger an den Mund, nickte mechanisch mit dem Kopf und dachte nach. Manchmal kniff er die Augen zusammen und manchmal schloss er sie ganz.
„Wenn der Kapitän sehr geduldig ist“, sagte er schließlich, „wenn er fest daran glaubt und die Hoffnung in den Wellen nicht verliert, wenn er immer nach vorne schaut und genauso gründlich nach dieser Linie sucht wie wir, Fánek, dann glaube ich, dass er es schaffen könnte.“
„Dass er durch den Himmel segeln könnte und immer höher und höher?“
„Dass er durch den Himmel segeln könnte und immer höher und höher.“
„Bis in den Weltraum, Papa?“
„Vielleicht bis in den Weltraum. Aber das wäre sehr kompliziert. Stell dir vor, jedes Tier im Raumschiff müsste seinen eigenen Raumanzug haben…“
Papa schaute immer noch ernst drein und ich hörte ihm mit weit geöffneten Augen zu, aber dann stellte ich mir all diese Zebras, Flamingos, Eichhörnchen und Schlangen in kleinen Raumanzügen vor und musste lachen. Ich fing an zu lachen, mein Vater und ich lachten beide, und das Buch leuchtete golden vor uns.
Als Papa mir sagte, er müsse weg, konnte ich mir nicht vorstellen, was er meinte. Er war immer bei mir. Manchmal den ganzen Tag und manchmal abends, wenn er jemandem auf einer Baustelle half oder einfach nur in der Stadt herumlief und nach Arbeit suchte. Aber abends war er fast immer zu Hause. Er ging mit Opa und mir spazieren, badete mich in der Blechwanne im Garten und erzählte mir dann eine Gute-Nacht-Geschichte.
Papa versuchte mir zu erklären, dass er für eine lange Zeit weggehen würde. Nur wusste ich nicht, was eine lange Zeit war, wo sie begann oder wo sie endete. Hauptsache Papa war heute noch da war, mir fehlte es an nichts. Es war meine Mutter, die weinte. Das machte mich traurig.
„Mach dir keine Sorgen, ich bleibe bei dir!“ Ich tröstete sie.
„So ist es richtig“, sagte Papa, „du wirst jetzt an meiner Stelle hier sein, und du musst Mama helfen, und dich um Oma und Opa kümmern. Jetzt wirst du mit Opa spazieren gehen, okay?“
Opa konnte nichts mehr sehen, seine Augen waren milchig weiß und er brauchte ständig jemanden, der ihn an der Hand führte. Ich nickte.
„Und wo fährst du hin?“, fragte ich Papa.
„Weit weg“, sagte er achselzuckend.
Wir hatten eine Landkarte zu Hause. Ich mochte es, wie sie roch, aber sonst mochte ich sie nicht. Obwohl sie auf glattem Papier gedruckt war, sah sie holprig aus wie eine Drachenhaut. Mein Vater erklärte mir, dass es sich um Berge, Kämme, Hänge, Pässe und Täler handelte, aber ich sah immer noch den Rücken des Drachens und die knubbelige Haut in den Falten seiner Klauen. Ich konnte unsere Stadt auf der Karte zeigen. Die ganze Stadt war nur ein einziger roter Punkt inmitten anderer Punkte auf der Schwanzwurzel des Drachens.
„Also: Wo fährst du hin?“, fragte ich und hielt meinem Vater die Landkarte vor die Nase.
Er winkte mit der Hand irgendwo weit weg, weit über den Rand des Papiers hinaus. Weit über den Rand der ganzen Welt hinaus.
„Und warum, Papa?“
„Weil ich dort Arbeit haben werde, Fánek. Ich werde arbeiten und Mama das Geld schicken, damit ihr hier ein gutes Leben führen könnt. Wenn ich genug Geld verdient habe, komme ich zurück.“
„Und wann wird das sein?“, wollte ich wissen. Damit ich mich darauf freuen konnte. Damit ich etwas zählen konnte.
Mama und Papa sahen sich kurz an. Plötzlich schien die Frage uns alle auf geheimnisvolle Weise zu verbinden. Dass auch sie die Antwort nicht wussten. Es machte mir Angst, dass meine Eltern auch ratlos waren. Dass sie sich dieselbe Frage stellten wie ich.
In der Nacht, in der mein Vater und ich zum letzten Mal lasen, schlug ich erneut das Goldene Buch auf. Wir sind jedes gemalte Tier sorgfältig durchgegangen. Wir haben alle unsere Farben benannt. Und zuletzt suchten wir den Horizont. Der Horizont, so heißt die Linie, die das Wasser mit dem Himmel verbindet, sagte Papa an diesem Abend zu mir.
„Du bist jetzt der Kapitän, Fánek. Du musst geduldig sein, ganz fest glauben, Ausschau halten und darfst die Hoffnung nicht verlieren. Du musst den Horizont im Auge behalten. Der Horizont ist der Zeitpunkt, an dem ich zurückkomme. Wir wissen nicht genau, wann wir ihn erreichen, aber wir beide wissen, dass er da draußen ist. Und eines Tages wirst du ihn erreichen.“
„Und dann?“ Ich schluckte und starrte auf das Buch.
„Dann werden wir durch den Himmel segeln“, sagte Papa mit fester Stimme.
„Bis ins Weltall?“
„Bis ins Weltall“, sagte Papa und drückte meine Schulter. „Ich verspreche es.“
Ich sah zu ihm auf, und das Lampenlicht leuchtete in seinen Augen wie die goldene Farbe im Buch. „Ich verspreche, dass wir gemeinsam zu den Sternen segeln werden.“
Am nächsten Morgen war Papa schon weg, bevor ich aufwachte. Den ganzen Tag über war alles seltsam. Niemand redete, meine Mama umarmte mich oft, und ich bekam eine Gänsehaut an den Armen. Am nächsten Tag war es genauso. Und am folgenden Tag auch. Aber nach einer Weile begann es, sich normal anzufühlen. Papa war einfach nicht da. Mama war einfach nur traurig. Und jeden Abend nahm ich Opa mit auf einen Spaziergang.
Ab und zu rief Papa spät abends an. Mama ließ alles stehen und liegen, sprang auf und drückte mit zitterndem Finger auf die Taste ihres alten Telefons. Papas Gesicht erschien auf dem Display. Es war ganz dunkel und bewegte sich ruckartig. Ich winkte ihm mit beiden Händen zu und erzählte ihm, was es Neues gab. Ich musste furchtbar schnell reden, um ihm so viel wie möglich zu erzählen. Dass ich eingeschult worden war. Dass meine Mutter Riemen an seine alte Tasche genäht hatte, damit ich sie wie eine Schultasche auf dem Rücken tragen konnte. Dass viele der Kinder in meiner Klasse irgendwo einen Vater oder eine Mutter haben, der oder die auch weit weg ist. Dass einer nur mit seiner Oma wohnt. Ich erzählte ihm, dass ich im Garten Sonnenblumen züchtete, dass ich die Dachrinne repariert habe und sie tatsächlich eine Weile hielt, und dass Opa es nur noch bis zur Brücke schafft. Dass wir von dort Steine in den Fluss werfen. Und dass ich schon weiter werfen kann als er.
Manchmal klapperte und klickte es im Telefon. Ich hörte, wie meine eigene Stimme in die Ferne zischte und sich dabei drehte und wand. Manchmal redete ich, und dann stellte ich plötzlich fest, dass mein Vater nicht mehr da war. Die Verbindung brach ab, und ich wusste nicht, was er alles von mir noch gehört hatte.
[…]
Zu meinem Geburtstag hat mir meine Mutter nicht nur einen dünnen Kuchen gebacken, sondern sogar eine richtige Torte. Eine richtige Torte mit Zuckerguss! Ich konnte es nicht fassen. Das ist mir noch nie passiert. Und ich habe nagelneue Schuhe bekommen. Ich starrte verwundert auf die Schachtel, in der die Schuhe lagen, eingewickelt in knusperiges Papier, als wären sie ein seltenes Stück Porzellan.
„Papa hat Geld geschickt“, flüsterte meine Mutter verschwörerisch. „Jetzt können wir ein bisschen besser leben.“
Und endlich dämmerte es mir. Dass Papa nicht hier war. Dass er sich nicht hinter der Tür versteckte. Dass er nicht gekommen war und dass er auch nicht so bald kommen würde. Dass all das wahrscheinlich bedeutet, besser zu leben. Und Mama lächelte, als wäre sie erleichtert, und Oma schaufelte fröhlich den letzten Bissen Kuchen auf Opas Gabel.
Spät am Abend rief Papa an. Das Bild auf dem Telefon funktionierte schon lange nicht mehr, aber ich hörte aus der Ferne seine Stimme, die mir zum achten Geburtstag gratulierte. Ich biss mir auf die Lippe, aber am Ende hielt ich es trotzdem nicht aus und schrie, dass mir Kuchen mit Zuckerguss oder in Papier gewickelte Schuhe egal seien, dass er hätte kommen sollen, dass ich ihn erwartete, dass ich es nicht aushielte. Meine Mutter nahm mir das Telefon aus der Hand, meine Oma schob mich in mein Zimmer, aber ich schrie weiter, ich konnte mich nicht beruhigen, ich trat und schlug gegen die Wand, und in der Nacht bekam ich Fieber.
Wochenlang hütete ich das Bett. In dieser Zeit kostete ich einige andere unerhörte Dinge, wie Hühnerbrühe oder Brot mit Honig. Und ich hatte unglaubliche Träume von Booten, Springbrunnen, wilden Raubtieren, Klippen, Dieben und auch von Marylka aus unserer Klasse.
Mein Vater schickte mir ein Ausmalbuch mit Booten. Unter jedem Bild stand eine Inschrift in einem fremden Alphabet, daneben in Papas Handschrift die Worte in unsere Sprache. Zum Ausmalen fehlte mir die Kraft, aber ich bat meine Großmutter, mir die Namen immer wieder vorzulesen, bis ich sie auswendig kannte. Eine Brigg, ein Schoner, eine Schaluppe, eine Dschunke, ein Katamaran. Kajak, Skiff, Floß, Motorboot. Yacht, Schaufelraddampfer, Kreuzfahrtschiff. Eisbrecher, Schlepper, Containerschiff, Tanker.
Als ich schließlich aufstand und zum ersten Mal auf die Straße ging, stach mir die Sonne scharf in die Augen. Aber ansonsten war alles genau wie vorher. Es war, als ob die Zeit die ganze Zeit über stehen geblieben wäre. Ich konnte es nicht verstehen, irgendetwas musste doch anders sein, zumindest musste etwas neu sein, irgendwann musste doch etwas passieren! Aber es war nur heiß und staubig.
Ich ging hinunter zum Fluss und überquerte die Brücke ohne Erlaubnis. Ich machte mich auf die Suche nach Marylka.
Aus dem Tschechischen von Hana Hadas