Jana Guljuškina

Frau S.

2023 | Dybbuk

Als unsere neue Mietwohnung im neunten Stock in der Sina-Portnowa-Straße zum ersten Mal betrat, war ich begeistert. Die Sonne ging gerade unter, wie auf eine Filmleinwand fiel ihr rotgoldenes Strahlen durch das Eckefenster im Wohnzimmer. Das Fenster war riesig, dreiteilig, zwei Teile rechts, einer links, und es bot eine wirklich phänomenale Aussicht. Darüber hinaus hatte es breite Fensterbretter an der Innenseite, auf denen Fíla später oft saß, und ich stand daneben und gemeinsam schauten wir uns das Leben da unten an: die Kreuzung mit viel Verkehr, die breite Straße, die nach rechts führt, die endlos langen Autokolonnen, auch die Häuser, unschöne und nicht sehr hohe alte graue Plattenbauten aus der Chruschtschow-Ära so weit das Auge reicht, und dazwischen ein paar neuere Hochhäuser, so wie das, in dem wir jetzt gerade, Anfang September, Unterschlupf gefunden haben. Sankt Petersburg. Petrograd. Piter. Keine vergoldeten Kuppeln von prunkvollen Kathedralen, keine breiten Boulevards mit grellen Schaufenstern und Restaurants, keine Paläste oder gepflegte Parks, kein glitzernder Fluss mit Menschen am Uferkai. Das war alles dort irgendwo, zehn U-Bahn-Stationen von hier. Das war ein „Spalnyj rajon“, ein Viertel, in das die Menschen abends zum Übernachten kamen. Außer jemand hatte ein anderthalbjähriges Kind, so wie ich.

Bis auf das luxuriöse Fenster war die Wohnung mehr als eigenartig. Hinter der Eingangstür befand sich ein langer Gang, die erste Tür rechts führte ins Wohnzimmer, die weitere Tür rechts in ein kleines Schlafzimmer, dann machte der Gang eine Biegung nach rechts und an seinem Ende war die Küche. Vor der Küche gab es noch zwei Türen links, sie führten ins Bad und zum WC. In der Küche stand am Tisch ein weiches Sofa statt Stühlen, man sank beim Sitzen ein und aß mit dem Kinn knapp über dem Tisch. Und noch ein Fenster mit breitem Fensterbrett, auf dem Fíla saß. Und er saß auf der Lehne des Sofas. Es gab keinen Kindersitz. Die Wohnung hatte keinen und wir kauften auch keinen. Wovon denn auch.

Nicht nur die Wohnung war seltsam. Wir waren seltsam. Wir hatten Tschechien mit einem einjährigen Kind verlassen. Wir hatten eine schöne sonnige Mini-Wohnung gemietet und von meinem Stipendium und Elterngeld gelebt, und das reichte uns, aber Oleg hatte in Tschechien keine Arbeit und konnte auch keine finden, und nach einem Jahr meinte er, gehen wir doch zurück nach Russland, hier bin ich niemand, dort wahrscheinlich auch, aber zumindest muss ich dort nicht Däumchen drehen. Er hatte auch in Tschechien nicht Däumchen gedreht. Das ganze Jahr über hatte er für mich unbegreifliche Programmiersprachen gelernt, und nach der Rückkehr nach Russland fand er auch einen Job als Programmierer. Wer will, der kann. Aber nur im Heimatland. Oder auch im Ausland, aber da musst du unten anfangen, im Supermarkt, in der Fabrik, von Grund auf und am Boden. Statt der Position tschechischer Arbeiter wählten wir lieber: russischer Programmierer. Das wäre vollkommen in Ordnung gewesen, wenn es nur uns gegeben hätte. Doch wir hatten ein einjähriges Kind. Zuerst kamen wir bei den Schwiegereltern unter, um die richtigen Ansuchen für die richtigen Dokumente einzureichen, dann wohnten wir zwei Wochen in einer Einzimmerwohnung von einem befreundeten Physiker, der auf Dienstreise in der Schweiz war, dann bei Olegs Großtante, bis wir eine eigene Wohnung fanden, doch eine Wohnung finden war problematisch, alle wollten 30.000 Rubel Miete plus 30.000 Kaution plus 30.000 für den Makler. Das konnten wir uns nicht leisten.

Sankt Petersburg. Petrograd. Piter. Olegs ehemalige Vorgesetzte bat ihm an, ihre Wohnung zu übernehmen, sie ziehe um, billig, ha ha, nur 28.000 im Monat. Aber dafür an einer guten Adresse, in der Sina-Portnowa-Straße, in der Nähe der U-Bahnstation Leninksij Prospekt. Sie vertraut uns. Also keine Kaution. Kein Makler. Olegs Gehalt sollte 32.000 Rubel betragen. Ohne Kaution. Ohne Makler. Aus allen blöden Varianten war diese die am wenigsten blöde.

 

Liebe Mama,

wir sind gut angekommen. Die erste Nacht waren wir bei Freunden in Petersburg, am Nachmittag haben wir den Zug genommen und nächsten Morgen waren wir schon bei Olegs Eltern. Sie freuen sich sehr, dass wir da sind. Morgen fahren wir in die Bezirksstadt und registrieren uns. Und sonst werden wir den goldenen Spätsommer genießen. Spaziergänge zum See machen und die Kiefern bewundern … Alles bestens.

Ich wünsche dir schöne Herbsttage!

Jola

 

Doch nichts war bestens. In Tschechien war uns das noch wie ein Kinderspiel erschienen: Wir fahren nach Russland, Oleg findet einen Job, wir mieten eine Wohnung und leben glücklich und zufrieden. Wie hatten wir so naiv sein können! Wir übernachteten zwar bei Freunden in Petersburg, aber ihre erste Frage lautete: „Wie lange bleibt ihr bei uns? Wir wollen euch nicht loswerden. Nur, damit wir Bescheid wissen …“ Wir kauften die Fahrkarten für den Zug und verabschiedeten uns, denn wir mussten ja sowieso zu Olegs Eltern fahren, allerhand Dokumente beantragen, vorübergehende und Daueraufenthaltsgenehmigungen und weiß Gott was noch.

Der Norden von Russland. Immer noch Sommer. Immer noch Nächte, in denen es nicht dunkel wird und der Himmel sich nur leicht violett und grau färbt. Große Kiefern und blaue Seen. Holzhäuser, Holzzäune, Garagen aus Holz, löchrige Straßen. Sand vor Geschäften, entlang der Landstraßen, auf ihnen und statt ihnen. Glasscherben im Sand an den Stränden beim See. Kiefern. Möwen. Lada Samaras und Lada Kalinas und Lada Nivas und chinesische Jeeps. Räder. Am Brunnen hölzerne Karren mit Eimern aus Eisen. Birken. Fichten. Auf dem Kinderspielplatz ein einziges kaputtes Karussell und eine mit Aluplatten verkleidete Holzrutsche, deren abstehende Nagelköpfe kurze Hosen in Streifen reißen und die Beine blutig machen. Drei Läden im Dorf und ein Plumpsklo im hohen Gras dahinter. Eine Schule, dahinter drei kleinere Plumpsklos für die Kinder und ein größeres für die Lehrerinnen, mit Guckloch zwischen den Brettern. Dunkler Sand auf dem Fußballplatz mit Holztoren ohne Netz, heller Sand und Gras auf dem Volleyballplatz ohne Netz. Zwei Reihen halb eingegrabene Autoreifen unterschiedlicher Größe, ein rostiges Klettergerüst aus Rohren. Kiefern. Möwen.

Oleg ist weg. Fíla ist eingeschlafen. Der Ramsch aus China – Oleg hat mir noch einige Bücher raufgeladen – ist kaputt und ich hab nicht mal was zum Lesen. Verschrobene Romantik: das Ende der Welt, Papier und ein Kugelschreiber. Früher schrieb ich Briefe: Liebe(r) …, auf meinen Reisen, Ausflüchten, oder was das eigentlich war. Und weiterhin ist. Oleg ist nach Petersburg gefahren, um Arbeit zu finden, und ich bin hier in seiner Welt mit seiner Mama, seinem Papa, seiner ehemaligen Schule, mit Leuten, die ihn kennen. Die auch mich kennen. Nur ich kenne niemanden.

„Sind Sie Tschechin?“

„Kennen Sie mich?“

„Ihr Mann war mit meiner Frau (meiner Schwester, meinem Sohn) in der Klasse.“

„Aha.“

„Was sagen Sie zu dem hier? Bei Ihnen ist‘s besser, oder?“

„Es ist anders …“

„Sagen Sie das nicht. Es muss besser sein. Sie sehen ja selbst, wie wir hier leben.“

Letzte Woche ging ich mit Oleg und Fíla noch am Rathaus vorbei, da kam der Bürgermeister raus und rief uns zu, wir mögen doch kurz zu ihm kommen. Holzboden, Holzwände, die russische Flagge und ein altes Foto des Präsidenten, aus der Zeit, als er gerade zum ersten Mal gewählt worden war. Der Bürgermeister so: „ähm, ähm“. Jemand aus dem Bezirk hätte ihn angerufen und bräuchte eine Kopie von meinem Reisepass …

„Mir ist das auch unangenehm, aber Sie wissen ja …“

„Wer braucht das?“, fragte Oleg.

„Na, die aus dem Bezirk …“

Heute hab ich dem Bürgermeister die Kopie gebracht. Olegs Mama hab ich lieber nichts davon gesagt. Der Bürgermeister so: „Oleg ist weggefahren, oder?“

„Wissen Sie denn alles?“

„Unser Dorf ist klein …“

Und dann interessierte er sich für unsere Einkünfte. Ich habe ehrlich geantwortet, dass Oleg Arbeit sucht, und dass ich aus Tschechien 3.600 Kronen Elterngeld bekomme. Oleg später am Telefon verständnislos: „Warum sagst du ihm das?“

„Er hat mich gefragt.“

„Begreifst du denn nicht, dass du die Aufenthaltsgenehmigung nicht bekommen könntest? Dass ich nicht im Norden Arbeit suche, sondern in Piter, dass das eine andere Oblast ist?“

„Ich begreife nur, dass alle hier alles über alle wissen, aber man das nicht laut sagen darf. Aber warum?“

„Ach …“

Heute bei der Schaukel habe ich mit der Mutter eines Mädchens gesprochen.

„Wie alt ist sie?“

„Zwei Jahre und eine Woche. Und ihrer?“

„Ein Jahr und vier Monate. Sagt sie schon was?“

„Alles.“

„Und geht sie schon in den Kindergarten?“

„Ja. Nur schicken wir sie da jetzt nicht hin. Sie heizen noch nicht und alle Kinder sind krank. Und wir wollen nicht, dass sie krank wird …“

Zwischen dem Kindergarten und der Straße liegt ein „Garten“. Ein bisschen Gras, Sand, ein paar alte Autoreifen, in verschiedenen Farben bemalt, ein Pilz aus Blech, Bretter, die sowas wie eine Sandkiste umzäunen, warum eigentlich, wenn hier doch überall Sand ist. Auf der einen Seite des „Gartens“ sind ganz kleine Kinder, etwa zwei Jahre alt, auf der anderen größere. Drei kleine Kinder tragen warme Overalls, sitzen im Sand und stochern mit Schaufeln in der kalten, feuchten Erde herum, ein Kind wirft etwas auf ein anderes, das dann in Tränen ausbricht, daneben stehen zwei tratschende Frauen, und als das Weinen einsetzt, beginnt eine von ihnen zu schreien, und wischt dem weinenden Kind das Gesicht mit einem großen Stofftaschentuch ab, das sie aus der Jackentasche herausgeholt hat. Das Kind beruhigt sich und stochert weiter mit der Schaufel in der feuchten Erde.

Am Nachmittag ist Olegs Papa zum Angeln gefahren. Also sind hier nur Fíla, ich und Olegs Mama. Neben dem Essen, Waschen und den Autos für Fíla kümmern wir uns um nichts. Sie vertraut mir nicht. Sie hat Angst vor mir. Das wundert mich nicht. Sie hat im Zimmer aufgeräumt und meine Zettel mit dem für Sie unverständlichem Gekritzel gefunden. Klar, dass sie das befremdend findet. Die Einzige, von der ich weiß, dass sie mit Kugelschreiber auf Papier schreibt, und zwar egal wo, an der Bushaltestelle, mitten auf dem Gehsteig, oder zu Hause, auf Klopapier, das sie dann samt den Notizen runterspült, ist meine Tante, eine Schizophrenikerin, so lautet die Diagnose. Die Schwiegertochter schreibt. Sie schreibt Berichte, wie so eine ausländische Agentin. Allerdings hat deshalb inzwischen das ganze Herumdrucksen aufgehört, ich soll doch was essen, mir mehr nehmen, mich nicht schämen, dies und das so und nicht anders machen, mich doch überreden lassen … Als hätte ich mir mit den verräterischen Noitzen das Recht erkämpft, anders zu sein, ich selbst. Wie grausam. Das Recht, rücksichtslos und fremd zu sein.

In der Früh war es regnerisch, und jetzt, wo die Sonne rauskam, schmücken breite Pfützen den Weg. Fíla lacht, von seinen blauen Gummistiefeln wird keine ausgelassen. Im Laden kam es heute eine Warenlieferung, die Schlange reicht bis zur Tür. Ungeduldig warten die Menschen, bis sie drankommen, und ich hab das komische Gefühl, als hätte mich eine Zeitmaschine um einige Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt.

Während wir zu Mittag essen, sendet Doschd die Liveübertragung aus dem Gerichtssaal, in dem man das endgültige Urteil im Prozess gegen Pussy Riot erwartet. Die Verkündung des Urteils durch die Richterin dauert länger als drei Stunden, und wir verlassen den Raum, kommen wieder zurück, und bald ist klar, dass die drei jungen Frauen schuldig gesprochen werden, wir warten nur mehr darauf, wie viel sie bekommen werden.

Oleg sagt: „Zwei Jahre!“

Seine Mama dazu: „Was willst du denn, dass sie die einfach so gehen lassen?“

„Mama, weißt du überhaupt, worum es geht?“

Sie nickt, im Fernsehen wurde doch gesagt, was die Rowdy-Mädchen in der Kathedrale aufgeführt hatten.

Oleg überrascht mich mit seiner Hartnäckigkeit: „Weißt du, was sie gesungen haben? Was da eigentlich passiert ist?“

Nach der offiziellen Version, die Olegs Mama kennt, erniedrigten die Rowdy-Mädchen die orthodoxen Gläubigen, obwohl, entgegnet Oleg, das besondere Gebet der Frauen in den bunten Sturmhauben gegen Putin gerichtet war, und gegen den Patriarchen und deren Machtbündnis.

Oleg redet noch von anderen Prozessen, von Alexei Nawalny, Sergei Magnitski, und seine Mama schüttelt nur den Kopf, kennt sie nicht, davon hat sie nichts gehört, und Oleg solle nicht so viel nachdenken und nicht zu aktiv werden, sonst könnte er genauso enden. Sie spricht davon, dass man auf sich selbst schauen und sich nirgends einmischen soll, Oleg dann davon, dass er, um auch sich selbst schauen zu können, erstmal hoffen muss, dass ihn keiner dieser unerreichbaren Machthaber mit einem teuren Auto auf dem Zebrastreifen überfährt. Sie wirft ihm Radikalität vor, er nur: na und?, und sie: schau auf dich selbst, und der Kreis schließt sich.

 

Aus dem Tschechischen übersetzt von Julia Miesenböck.