1
Hubert war ein großer Erfinder, auch wenn er erst in die vierte Klasse der Evelyn-Saturejková-Grundschule ging. Wer diese Evelyn Saturejková gewesen war, daran erinnerte sich in der Stadt keiner mehr, höchstwahrscheinlich Opernsängerin, denn nachts spukte sie in der Schule und kreischte dabei mit einer so fürchterlich durchdringenden Stimme, dass im Chemielabor die Reagenzgläser zersprangen.
Das Problem war, dass Hubert nie genau wusste, wann und was er erfinden würde. So konnte es passieren, dass die Mama ihn zum Bäcker Frühstücksbrötchen holen schickte und er stattdessen eine Seifenblasen-Klarinette erfand, die beim Spielen wunderschöne, in allen Farben schillernde Blasen aus den Löchern aufsteigen ließ. Ein andermal sollte er sein Zimmer aufräumen, doch am Ende räumte er nicht auf, sondern richtete sogar noch größeres Chaos an, weil er einen siamesischen Zwillingsteelöffel erfand, in der Mitte gespalten wie die Zunge einer Schlange. Der Zwillingslöffel war sehr praktisch, denn wer gern zwei Löffel Zucker in den Kaffee tat, wie zum Beispiel Huberts Papa, konnte damit eine ganze Bewegung einsparen.
Und so weiter.
Eines schönen Tages zu Beginn des Schuljahres ging Huberts Mama der Haartrockner kaputt. Es war ein richtig guter Haartrockner der alten Schule, seine Mama hatte ihn von der Uroma geerbt, die ihn als kleines Mädchen vom Kaiser bekommen hatte, weil ihm ihre schönen, langen Locken von der Farbe der aufgehende Sonne so gefallen hatten. Ganz genau solche Haare, wie sie auch Huberts Mama auf dem Kopf hatte.
Der Föhn war aus solidem Blech gefertigt und laubfroschgrün lackiert. Er sah aus wie eine große 6 mit Griff dran, in seinem Bauch war ein Elektromotor versteckt und mit dem Beinchen pustete er heiße Luft direkt auf die nassen Haare. Bloß, dass er im Moment überhaupt nicht mehr pustete.
Die Mama bat Hubert zu schauen, ob er den Haartrockner reparieren konnte. Er war zwar so schwer, dass sie beim Föhnen das Gefühl hatte, als säße ihr ein stattlicher Adler auf dem Arm, und er rauschte dabei auch noch wie ein Wasserfall. Aber schließlich war es eine Familienerinnerung und eine geschichtsträchtige obendrein.
Hubert legte das antike Stück auf den Arbeitstisch in seinem Zimmer und begann, es vorsichtig auseinanderzunehmen. Zuerst musste er tonnenweise Schrauben lösen, dann erst gelang es ihm, die Blechhülle abzunehmen und zu den Eingeweiden des geheimnisvollen Geräts vorzudringen. Aus dem Innern grinsten ihn ungefähr eine Million Teile in allen erdenklichen Formen und Farben an, verbunden mit kilometerweise steinalten, mit Seidenfaden umwickelt Drähten. Hubert demontierte alle Teile und ordnete sie in malerischen geometrischen Bildern um den ausgeweideten Föhn herum an. Er besah sich eins nach dem anderen und schüttelte jedes, aber sie schienen alle völlig in Ordnung zu sein. Also fing er an, den Haartrockner wieder zusammenzusetzen, doch, oh je, er hatte völlig vergessen, wo welches Teil hingehörte. Er konnte sie zusammensetzen, wie er wollte, es blieb immer etwas übrig. Erst spät am Abend gelang es ihm, alles, was er herausgeholt hatte, wieder in den blechernen Bauch zu stopfen. Danach schraubte er das Ganze wieder zu und machte sich zur Feier des Tages ein Glas echte Limonade mit Eiswürfeln. Die Zitrone drückte er mit Hilfe einer weiteren seiner Erfindungen aus – dem Entsaftungs-Jojo. Man musste nur eine halbe Zitrone ins Jojo stopfen, ein paar Mal an der Schnur ziehen und es war vorbei. Manchmal auch komplett am Ziel vorbei.
Als er zurückkam, richtete er den Haartrockner wie eine Pistole auf seinen Hamster Harpagon und drückte auf den Knopf am Handgriff. In diesem Moment geschah etwas Unglaubliches. Obwohl der Stecker nicht in der Steckdose war, sprang der Föhn mit bedrohlichem Dröhnen an, aber er blies nicht. Stattdessen kam ein leuchtend grüner Strahl aus seiner Düse und als er auf den Hamster traf, wurde das Tier kleiner und kleiner, bis es kaum noch zu sehen war.
Hubert schnappte sich seine Lupe und betrachtete den winzigen Hamster durch das Vergrößerungsglas. Zum Glück schien ihm nichts zu fehlen. Harpagon machte fröhlich Männchen und suchte wie üblich nach etwas, das er sich in die Backen stopfen konnte. Nach etwa einer Stunde hörte man ein seltsames Gurgeln, wie das Geräusch, das die Teufel am Nikolaustag mit der Zunge machen, und der Hamster wuchs wieder auf seine vorherige Größe an. Anscheinend hatte ihm die Größenveränderung nicht geschadet.
Hubert wurde klar, dass ihm durch Zufall eine weitere Erfindung gelungen war, und wie ein echter Wissenschaftler beschloss er, den ehemaligen Haartrockner und nun Verkleinerer an sich selbst auszuprobieren. In dem Moment kam Huberts Mama ins Zimmer und Hubert musste sich waschen, Zähne putzen, den Schlafanzug anziehen und ins Bett gehen.
An Schlafen war natürlich nicht zu denken. Er knipste das Licht aus und nahm den Verkleinerer mit ins Bett. Unter der Bettdecke schaltete er die Taschenlampe ein, zielte mit der Blechdüse auf sich, machte die Augen zu und drückte auf den Knopf.
Als er die Augen wieder öffnete, sah alles völlig verändert aus. Die Bettdecke hatte sich in eine riesige rot-weiß gestreifte Höhle verwandelt, die von der Taschenlampe aus der Ferne wie von einer unterirdischen Sonne erleuchtet wurde. Hubert kletterte unerschrocken über die Dünen und Bergkämme, die das Bettlaken aufgeworfen hatte und hätte es fast bis zur Taschenlampe geschafft, doch dann begann die Höhle zu schrumpfen und wurde schließlich wieder zu seinem guten, alten Federbett.
Erschöpfte von der ganzen Bergsteigerei, beziehungsweise Bettlakensteigerei, schlief Hubert sofort ein und träumte einen wilden Traum nach dem anderen.
2
Am nächsten Tag lud Hubert nach der Schule Hugo zu sich nach Hause ein. Er zeigte ihm seine Sammlung von Übungsmarken, auf denen die Postbeamten früher stempeln geübt hatten. Außerdem die autarke Behausung seines Hamsters, beleuchtet mit Strom aus einem Dynamo, der von Harpagon persönlich durch unablässiges Rennen in einem Drahtzylinder angetrieben wurde. Und auch das Fünfzig-Liter-Aquarium für drei Guppys und eine Schatztruhe, in der ein Schatz aus Luft verborgen war, deren Bläschen alle halbe Minute den Deckel anhoben.
Das Beste hob er sich bis zuletzt auf. Er öffnete eine Schublade und zog einen Ständer mit einer Röhre auf den Schreibtisch. Er schaltete eine Lampe an und gab Hugo eine starke Lupe, damit er es sich genau ansehen konnte.
„Aber das ist ja – ein U-Boot! Also, eher ein U-Bötchen“, rief Hugo überrascht aus, als er es durch das Vergrößerungsglas betrachtete.
„Klar ist das ein U-Boot und kein Popel. Ich baue schon seit einer Woche mit der Pinzette dran.“
„Also, ich weiß nicht, Hubert. Ein Verkleinerer ist eine geniale Erfindung, aber zum Tauchen eignet er sich nicht besonders.“
„Doch, doch, lieber Hugo. Ich will nämlich nicht einfach bloß in einem Fluss oder Teich tauchen, sondern …“ Hier machte Hubert eine dramatische Pause, allerdings ging genau in dem Moment die Tür auf und seine Mama schaute herein. Sie war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte ihnen Zitronenlimo gemacht.
Hugo liebte Zitronenlimo über alles und diese war auch noch von allen Zitronenlimos, die er kannte, die allerzitronigste. Trotzdem konnte er sich jetzt nicht aufs Trinken konzentrieren, auch wenn er einen Strohhalm bekommen hatte. Er war nämlich furchtbar neugierig, wo sein Freund mit dem winzigen U-Boot tauchen wollte. Aber es war wie verhext, denn Huberts Mama fragte ihn lang und breit nach diesem und jenem, vermutlich war er ihr einfach besonders sympathisch. Normalerweise hätte sich Hugo geschmeichelt gefühlt, aber jetzt war er froh, als sie wieder allein im Zimmer waren.
„Also, wo war ich?“, spannte ihn Hubert weiter auf die Folter. „Ach ja, ich will nicht einfach bloß in einem Fluss oder Teich tauchen, sondern in einer Wasserleitung!“
„Warum ausgerechnet in einer Wasserleitung?“, überschlug sich Hugo fast vor Aufregung.
„Weil man durch die Wasserleitungen überall hinkommt, sie führen nämlich einfach überall hin. Sogar an Orte, wo man auf keinem anderen Weg hinkommt. Zum Beispiel zum Tresor der Nationalbank, zu den Leichen im Seziersaal, in den Hangar zu den Jagdflugzeugen, in die supergeheimen Winkel der U-Bahn-Tunnel, wo sie einen nicht mal bei Klassenausflügen hinlassen, zu Staudämmen oder in Räuberhöhlen. Da gucken überall Wasserhähne aus der Wand und keiner überwacht sie. Außerdem regnet es in den Rohren nie. Na ja, das war ein Scherz.“
„Das hört sich superurwaldkrass an“, musste Hugo zugeben. „Aber in einen Seziersaal kriegst du mich nur über meine Leiche.“
„Keine Sorge, der Seziersaal steht erstmal nicht auf dem Plan. Ich komme nämlich einfach nicht drauf, wie ich mit dem U-Boot in die Leitung und vor allem wieder rauskommen soll“, gab Hubert zu. „Stell dir mal vor: Wir machen den Wasserhahn auf, das Wasser läuft, dann verkleinern wir uns, klettern ins U-Boot, bis dahin ist alles babyleicht, aber wie kommen wir dann im U-Boot in den Wasserhahn?“
„Na, einer könnte nicht verkleinert draußen bleiben und das U-Boot mit dem anderen an Bord in den Wasserhahn stecken.“
„Dann ist einer der berühmter Entdecker und Herr der Sieben Weltmeere und der andere nur der U-Boot-in-den-Hahn-Stecker. In dem Fall reserviere ich den Entdecker für mich“, wand Hubert ein. „Und was ist am anderen Ende der Reise? Das U-Boot schwimmt durch die Rohre zum Wasserhahn am Ausgang. Wunderbar. Aber was dann? Von innen kann man den Hahn nicht öffnen.“
Sie betrachteten das Problem von allen Seiten und merkten gar nicht, dass es draußen schon dunkel wurde.
3
Die gesamten Limo-Vorräte waren ausgetrunken und die Sonne neigte sich bereits bedenklich nach Westen, also verteilten sie noch schnell die Rollen:
Hubert – wissenschaftlicher Klan-Chef und leitender Konstrukteur, Meister der Verkleinerung, U-Boot-Kapitän
Hugo – Häuptling der Leibwache, zweiter Pilot und Navigator, Fecht-Champion und Sicherheitsberater
Ophelia – Superspionin, Schlangenmädchen, Verpflegungskönigin, Chef-Taucherin und Präsidentin der Mode-Polizei
… und dann trennten sich auch schon ihre Wege. Morgen war auch noch ein Tag.
Und wirklich. Am nächsten Tag trafen sie sich auf dem Tulpenbaum und Ophelia brachte den Block mit ihren ersten Entwürfen für die Superhelden-Anzüge mit. Sie gefielen den Jungs sehr, man konnte sehen, dass sie eine wirklich gute Designerin war, aber es fehlte noch eine Kleinigkeit.
„Da fehlt noch was“, sagte Hugo.
„Aber was?“, überlegte Hubert.
„Ich verrate es euch“, erwiderte Ophelia. „Unserem Klan fehlt ein Name. Wir müssen uns irgendwie nennen. Alle Banden, die es in der Geschichte weit gebracht haben, hatten einen hammerhart sitzenden Namen.“
„Du hast recht“, musste Hubert zugeben. „Zum Beispiel die Tempelritter“.
„Die Tempelritter haben es tatsächlich weit gebracht, bis auf den Scheiterhaufen, wo sie verbrannt wurden“, bemerkte Hugo.
„Also nicht die Tempelritter, aber vielleicht die Argonauten“, beharrte Hubert.
„Wer waren denn die Argonauten?“
„So was wie Astronauten, nur dass sie kein Raumschiff hatten, sondern nur ein Schiff, mit dem sie über die Meere fuhren und das Goldene Vlies suchten.“
„Und was war das Goldene Vlies?“, bestürmte ihn Hugo.
„Weiß ich nicht genau. Irgendwas aus Schafwolle, glaub ich. Vielleicht ein Pulli.“
„Warum sollte jemand wegen eines Pullis über die Meere irren?“
„Hört endlich auf mit diesem Unsinn, ihr Schafsochsen“, unterband Ophelia energisch den aufkommenden Streit, „und helft mit, einen Namen für uns zu finden.“
„Wie wär’s mit: die Prachtkerle?“, schlug Hugo vor.
„Gruslig“, erklärte Ophelia und Hubert nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf, um zu zeigen, dass er mit ihrer Ablehnung übereinstimmte.
„Dann denk dir doch selbst was aus, wenn du so schlau bist“, erwiderte Hugo beleidigt.
„Drei Tröpfchen Glück.“
„Zu mädchenmäßig. Und überhaupt sollte es was Tiefsinnigeres sein. Die Wasserleiter? Die Tauchabsteiger? Die Wassermänner?“, überlegte Hubert.
„Die Seerosen.“
„Ihr Rohrkrepierer!“
„Ist das ein Name oder deine Meinung?“
„Seid still und hört zu, ich hab’s.“ Ophelia hielt den beiden den Mund zu. „Wie lautet die chemische Formel für Wasser? H2O. Und wie heißen wir? Hubert – Hugo – Ophelia. Die Anfangsbuchstaben ergeben zusammen H2O. Also heißt unserer Klan ab sofort H2O.“
Dem gab es nichts hinzuzufügen. Der Name H2O gefiel allen dreien und so blieb es dabei.
Am nächsten Tag in der Schule tauschten die Lehrerinnen Zeugnisse gegen Bonbonnieren und Blumen. Hurra, die Ferien gingen los!
Der frischgebackene Klan H2O teilte seine Arbeit gerecht auf: Hubert hatte die Aufgabe, das U-Boot zu vergrößern, damit sie alle drei an Bord gehen konnten, und vor allem, es endlich fertigzubauen. Ophelia sollte die Superhelden-Anzüge nähen und Hugo einen Plan des Wasserleitungsnetzes der gesamten Stadt besorgen. Nach einer Woche trafen sie sich wieder in Huberts Zimmer und über beschlagenen Gläsern voller Zitronenlimo berichteten sie einander, wie weit sie gekommen waren.
Hugo holte aus einer Aktentasche einen dicken Stapel zwischen zwei schwarze Pappdeckel gequetschter, vergilbter Papiere. Er löste die Fäden, mit denen die Pappdeckel verschnürt waren und der Papierstapel wuchs augenblicklich auf die doppelte Höhe. Auf dem Boden breiteten sie ein großes Blatt aus, das ganz oben auf dem Stapel gelegen hatte. Darauf war das sorgfältig nachgezeichnete Wasserleitungsnetz der gesamten Stadt zu sehen. Überraschenderweise sah es ganz ähnlich aus wie der Blutkreislauf eines Menschen. Das zentrale Wasserwerk war das Herz. Von ihm aus wuchsen in alle Himmelsrichtungen Leitungen wie Arterien, anfangs breit und gerade, nach und nach verzweigten und verjüngten sie sich in alle Straßen, Häuser und Stockwerke, bis sie schließlich – ähnlich wie Blutkapillaren – frisches Trinkwasser zu jedem Wasserhahn beförderten. Das benutzte Wasser floss anschließend in umgekehrter Richtung durch die Ausgüsse der Spülbecken, Waschbecken, Badewannen und Duschen. Die venenartigen Röhren der Kanalisation verbanden sich und wurden dicker, bis sie schließlich in die Abwasserreinigungsanlage mündeten, von wo aus das von Schmutz befreite Wasser wieder in den unendlichen Kreislauf der Natur zurückkehrte.
Unter dem Stadtplan fanden sich in den Akten gezeichnete Pläne der Leitungen in jedem einzelnen Haus, alphabetisch geordnet nach Straßennamen und Hausnummern.
Wie die Mündungen von vier Wasserrohren stierten Hubert und Ophelia sie an.
„Wo hast du denn diesen Schatz ausgegraben?“
„Das hat eine Ewigkeit gedauert“, erklärte Hugo. „Zuerst habe ich im Bauamt nachgeforscht. Da haben sie mir geraten, dass ich den Herrn Ingenieur Strakykrad suchen soll, der sich dieses Leitungssystem, beziehungsweise, wie die Fachleute es nennen: das Wasserverteilungssystem, einst ausgedacht hat. Allerdings arbeitet Strakykrad nicht mehr im Bauamt, weil er in Rente gegangen ist. Und keiner wusste, wo er wohnt und ob er überhaupt noch lebt.
Also musste ich weiterforschen. Eine Frau, die vor Jahren mit ihm dort gearbeitet hat, erinnerte sich, dass Strakykrad ein besonderes Hobby hatte – er hat nämlich alte Zeitungen gesammelt. Und zwar nicht nur ganz alte, wie den Prager Postillion von 1783, sondern auch gar nicht so alte, die zum Beispiel nur eine Woche oder weniger alt waren.“
Das Interessante an Zeitungen ist nämlich, dass nur sie und die Eintagsfliegen schon am zweiten Tag alt sind. Hugo hatte in einer Zeitung gelesen, dass sich jeden Donnerstag im Hinterzimmer der Gaststätte Zur Goldenen Rotunde der Klub der Sammler alter Zeitungen traf, also war er am Donnerstag hingegangen. Er hatte Glück gehabt und den Ingenieur Strakykrad dort angetroffen. Tatsächlich ging dieser inzwischen nirgendwo anders mehr hin als zu den donnerstäglichen Treffen des Klubs der Sammler alter Zeitungen. Er wohnte in der Tiskař-Straße Nummer 17, Hugo könne kommen, wann er wolle, außer am Donnerstagabend, wenn er zum wöchentlichen Treffen der Sammler alter Zeitungen gehe.
Hugo wusste, dass er nicht ohne Erlaubnis fremde Leute besuchen durfte, also erzählte er seinen Eltern davon. Zum Glück stellte sich heraus, dass sein Papa Herrn Strakykrad als anständigen Menschen kennengelernt hatte, als er vor Jahren beim Bauamt etwas mit ihm besprechen musste und so durfte Hugo ihn besuchen gehen.
Hugo hatte in seinem ganzen Leben noch nie so etwas Schreckliches gesehen. Die ganze Wohnung des Ingenieurs war vom Boden bis zur Decke komplett vollgestopft mit alten Zeitungen, die sorgfältig zu wackeligen Türmen gestapelt waren. Der einzige freie Fleck war eine Nische um einen Stuhl am Fenster, auf dem Strakykrad saß und auch schlief. Von dort führten nur vier enge Tunnel hinaus. Einer zur Tür, der zweite zur Duschkabine, der dritte zur Toilette. Der vierte und letzte Tunnel führte in die Küche zu einer Kochplatte, auf der sich Strakykrad Würstchen kochte und mit dem fettigen Wasser anschließend Kaffee in einer Tasse aufgoss. Außer Würstchen und Kaffee aß oder trank der alte Mann nichts.
Drei Tage lang räumte Hugo bei ihm vergeblich Zeitungen von einem Stapel auf den anderen. Am vierten Tag legte er hinter den Zeitungen eine Tür zu einem weiteren Zimmer frei, die Strakykrad schon lange vergessen hatte. Als sie die Tür mit vereinten Kräften öffneten, entdeckten sie in der Mitte des Zimmers einen Schaukelstuhl und darin eine alte Dame, die aus Wolle einen Norwegerpulli strickte. Strakykrad umarmte die alte Frau liebevoll und den Pulli gleich mit und es machte ihm überhaupt nichts aus, dass ihn die Stricknadeln in die Brust piekten.
„Geliebte Martina! Ich dachte, du wärst mir wegen meiner Zeitungssammlung davongelaufen!“
„Aber wo denkst du hin, Jindřich! Ich warte hier seit Jahren treu auf dich.“
„Warum hast du nicht aus dem Fenster um Hilfe gerufen?“
„Ich wollte dir keine Schande machen.“
„Und was hast du die ganze Zeit über gemacht?“
„Einen Pullover gestrickt.“
„Und als er fertig war?“
„Dann habe ich ihn wieder aufgetrennt. Und immer so weiter.“
„Wie ist es möglich, dass du nicht verhungert bist?“
Frau Strakykrad deutete mit dem Pullover auf einen Haufen bunter Papierchen in der Zimmerecke.
„Ich habe nach und nach deine Bonbons aufgegessen, die du vor den Zeitungen gesammelt hast. Das war nahrhaft, aber auch etwas einseitig. Ich habe fürchterlichen Appetit auf eine gebackene Gänsekeule.“
„Wissen Sie zufällig, wo die Pläne der städtischen Wasserleitungen und Kanalisation sind?“, fragte Hugo.
„Sicher, mein Junge. Hier hast du sie.“
Worauf sie einen Korb voller verschiedenfarbiger Knäule hochhob, der – wie sich gleich herausstellen sollte – auf ebendieser Mappe voller Pläne stand, die Hugo so lange gesucht hatte.
Der Ingenieur Strakykrad versprach seiner lieben Frau Martina noch am selben Tag, dass er die ganzen alten und völlig nutzlosen Zeitungen zum Altpapier bringen würde und anfangen würde zu leben, statt weiter irgendwelchen Blödsinn zu sammeln, und dass er sie für die langen einsamen Jahre entschädigen würden, in denen sie nichts als Bonbons gegessen hatte, die ihr nun wirklich zum Halse raushingen. Und was er versprochen hatte, hielt er auch. Für das Geld, das er für das Altpapier bekommen hatte, kaufte er ihnen eine Weltreise auf einem Luxusdampfer, von der sie noch nicht zurückgekehrt sind.
4
„Ophelia, kann ich deinen Arm brennnesseln?“, fragte Hubert.
„Warum solltest du?“
„Ich hab gelesen, dass Rothaarige Schmerz stärker empfinden, deshalb würde ich das gerne mit einem kleinen Experiment ausprobieren.“
„Meinetwegen, aber dann dreh ich dir mit der anderen Hand den Hals um“, antwortete Ophelia mit einem zuckersüßen Lächeln.
Hubert verging zwar die Lust auf Experimente mit Rothaarigen, die Hauptsache war jedoch, dass die Test-Mission Abramis erfolgreich verlaufen war, ja sogar triumphal. Sie legten mit dem U-Boot in ihrem geheimen Trockendock in einem aufgeschnittenen und innen ausgehöhlten Seifenstück an, tauschten die Superhelden-Anzüge gegen ihre normale Kleidung und gingen ins Kino, um sich den unglaublich spannenden Science-Fiction-Film Invasion der mutierten Seepferdchen anzusehen.
Genau in dem Moment, als die mutierten Seepferdchen das erste Kampfschiff versenkten, klingelte an der Wohnungstür von Huberts Familie ihr Nachbar, Professor Hermenegild Vulpes, und wollte sich einen Föhn ausleihen, um seinen langen Kinnbart zu trocknen, den er sich gerade mit Bartshampoo gewaschen hatte.
Dieser Professor Vulpes war ein berühmter Erfinder, nur dass er noch nie etwas erfunden hatte, nicht mal eine einzige total mikrige Mini-Erfindung. Und weil er keine eigenen Erfindungen hatte, hatte er sich damals beim Patentamt anstellen lassen, wo er fremde Erfindungen geklaut hatte. Ein Erfinder wollte sich beispielsweise einen Verschließer für Konservendosen patentieren lassen, eine sehr praktische Erfindung. Stellt euch zum Beispiel vor, ihr öffnet mit einem Dosenöffner eine Dose Thunfisch im eigenen Saft, esst nur die Hälfte und der Rest wird schlecht. Dumme Sache. Wenn ihr jedoch außer einem Öffner auch einen Verschließer hättet, könntet ihr die Dose nach dem Essen wieder verschließen und den Rest aufheben, für schlechte Zeiten.
Es dauerte nicht lange, bis sich Vulpes vom Erfolg seines ersten Verbrechens ermutigt eine zweite Entdeckung angeeignet hate: einen Dampfkochtopf, der beim Kochen mit Hilfe des Dampfes eine hübsche Melodie pfiff. Und als Drittes stahl er die wegweisende Erfindung einer Gabel mit Kurbel zum Spaghetti-Aufrollen mit integriertem Schutzblech für die Soße. Zum Glück hatte ihn dabei die Polizei erwischt und Vulpes hatte drei Jahre im Gefängnis gesessen, für jede geklaute Erfindung ein Jahr.
Hinter Gittern hatte er sich jedoch nicht gebessert, ganz im Gegenteil. Seit seiner Entlassung war er beim Stehlen vorsichtiger und außerdem hatte er von seinen Zellengenossen alle möglichen Tricks gelernt – Schlösser mit einer Büroklammer zu öffnen, den Leuten ins Gesicht zu lügen, ohne mit der Wimper zu zucken, und fremde Zeitungen aus dem Briefkasten zu ziehen, ohne dass sie dabei zerrissen.
Und wenn er grade nichts klaute, war er zumindest furchtbar geizig: Hatte er eine Tasse Kaffee ausgetrunken, trocknete er den Kaffeesatz auf der Heizung und goss Besuchern daraus wieder Kaffee auf. Damit er nicht zu blass aussah, färbte er ihn mit Tusche ein. Er kochte sich Suppe aus Wurstpellen und kratzte Eiweiß-Reste aus Eierschalen heraus. Benutzte Briefmarken löste er über Wasserdampf ab, kratze mit einer Rasierklinge den Stempel ab und klebte sie wieder auf seine Briefe. Die schrieb er absichtlich mit fürchterlich kleiner Schrift, um Stifte einzusparen. Und auf der Post bot er Fremden an, ihre Briefumschläge abzulecken, um sich am Kleber satt zu essen.
Und was noch viel schlimmer war: Er quälte Tiere. Zum Glück nur die aus Plüsch, weil er vor echten Angst hatte. Jeden Abend fischte er aus einem Beutel voller Spielsachen ein Plüschtier heraus, um es zu quälen. Bei seinen Bärchen, Giraffen und Hunden war das Fell voller Flicken und die kleinen Glasaugen starr vor Entsetzen.
Dieser Vulpes hatte einfach alle möglichen Untugenden und fast keine Tugenden. Daher versetzte sein Besuch Huberts Mama nicht gerade in Begeisterung. Aber weil sie eine gute Seele war, beschloss sie, ihm den Haartrockner zu leihen. Auch wenn er Läuse haben sollte, würden sie wohl nicht auf den Föhn überspringen.
Huberts Mama unterdrückte die Vorstellung, wie das Gerät eine Flut von blutrünstigen Schmarotzern direkt auf die Haare pustete, nahm den Haartrockner vom Tisch in Huberts Zimmer und gab ihn dem Nachbarn. Erst als Vulpes ging, fiel Huberts Mama ein, dass Hubert ihn vielleicht noch nicht repariert hatte, aber dann winkte sie ab. Egal, ob er kaputt ist, der Professor wird ihn sowieso wieder zurückbringen, also was soll’s.
Entlang der nassen Spur, die sein tropfender Kinnbart auf dem Boden hinterlassen hatte, kehrte Vulpes in seine Wohnung zurück. Im Bad stellte er sich vor den mehrfach gesprungenen und wieder zusammengeklebten Spiegel, richtete den Haartrockner auf seinen Bart und drückte den Knopf am blechernen Handgriff. Aus der Düse kam anstelle von heißer Luft ein leuchtend grüner, spiralförmiger Strahl und bohrte sich in seinen Kinnbart, der sogleich auf die Größe eines Härchens zusammenschrumpfte. Der Professor schrie erschrocken auf, warf das Gerät weg und rannte panisch in seinem Badezimmer hin und her, bis er auf den feuchten Fliesen ausrutschte und auf dem Rücken landete. Sein Kinnbart war sein ganzer Stolz und seine einzige Liebe und so verfiel er nach dessen Verlust in schiere Verzweiflung. Fast wäre er aus dem Fenster gesprungen, aber zum Glück erschien nach einer halben Stunde der Bart wieder auf seinem Kinn.
Ihm wäre aber sowieso nichts passiert, denn er wohnte im Souterrain und sein Fenster war nur einen knappen Meter über dem Gehsteig.
Vulpes wurde klar, dass ihm das Schicksal eine weitere Erfindung direkt vor die Füße gelegt hatte, noch dazu eine, mit deren Hilfe er die Welt beherrschen könnte. Jetzt würde ihn nicht mal mehr das patenteste Patentschloss aufhalten können, und auch nicht der einbruchssicherste Tresor. Er kletterte vom Fensterbrett und begann, den seltsamen Haartrockner mit dem Schraubenzieher zu untersuchen. Wenn es darum ging, fremde Erfindungen zu kopieren, war er ein wahrer Meister.
Nach ein paar Minuten, als er sicher wusste, wie er seinen eigenen Verkleinerer bauen konnte, brachte er Huberts Mama den Föhn zurück. Genau in diesem Moment kam Hubert aus dem Kino nach Hause und sie trafen sich vor der Wohnungstür.
Vulpes tat, als wäre nichts, und schwärmte lauthals, wie gut dieser Haartrockner trocknen würde, obwohl sein Bart noch immer tropfnass war.
Aus dem Tschechischen von Katharina Hinderer