Olga Stehlíková

Mojenka

2022 | Host

Erster Herbst

Ich heiße Magdaléna. Daraus kann man Magda oder Maddel oder Madlenka oder Lenchen machen – aber alle diese Möglichkeiten finde ich blöd. Mama nennt mich Majnka. „Du bist doch meine Majnka,“ sagt sie immer zu mir, und dann umarmt sie mich. Meine Mama ist auch so eine Majnka, weil sie ja nur meine ist, aber ich nenne sie Mami. Geschwister habe ich keine. Außer Papa habe ich noch Oma und Opa, aber die wohnen auf dem Land, während wir ein Stück von Prag entfernt sind. Ich sage trotzdem lieber, dass ich auf dem Dorf lebe, Vonoklasy ist ja schließlich ein Dorf, wenn auch bei Prag. Sein Name erinnert im Tschechischen an „Ährenduft“. Meine Mama duftet am besten und hat die schönste Stimme. Ich stelle mir immer vor, dass unser Dorf so heißt, wie es heißt, weil meine Mama duftet wie das Getreide im Sommer, wenn es abends trocken und heiß ist und die Grillen und Grashüpfer ihre Musik machen. Sie ist die Hübscheste, Liebste und Fröhlichste. Mama ist Naturwissenschaftlerin. Dieses Wort ist fast genauso lang wie Magdaléna. Das lange „e“ regt mich da schrecklich auf. Es klingt wie „blee“. Ein Mitschüler nennt mich Bleeena, wenn er mich ärgern will. Ich gehe schon in die fünfte Klasse. Er heißt Viktor, das hat er davon.

Meine Mama hat herrliche lange, schwarze Haare und grüne Augen – das hat fast niemand, meine Mama ist etwas Besonderes. Ich habe zwar auch solche, aber bei mir ist das nicht interessant. Und auch Oma hatte sie, aber ihre Haare sind jetzt schon eher weißgrau. Mein Papa ist witzig, ordentlich beleibt, also eigentlich etwas dick, und mit ihm macht vieles Spaß. Ich finde, es ist wurscht, dass er dick ist. Soll er doch. Papa macht sich aus nichts was, für ihn ist die Welt amüsant und lustig und sicher.

Keine Geschwister zu haben kann lästig sein, weil du niemanden zum Spielen oder Erzählen hast, wenn du abends zu Hause bist oder wenn Ferien sind, alles musst du allein machen. Aber mir macht das nichts aus, weil ich am liebsten alles alleine mache. Höchstens noch mit Mama. Ich habe ein ganzes Zimmer nur für mich, und alle meine Verstecke und Geheimnisse und Plätze, von denen niemand was weiß, gehören nur mir. Und dann erzähle ich Papa davon, wenn er am Herd steht und irgendein delikates Abendessen zaubert, auf das er immer schrecklich viel Wert legt, nur dass mir das Abendessen egal ist. Aber alles erzähle ich ihm natürlich nicht. Er macht sich sowieso über alles lustig.

Meine Großmutter wohnt in einem Dorf, das Lhotka heißt, so wie jedes zweite Dorf, und es liegt im Böhmerwald. Als ich noch klein war, wohnte ich mit Mama monatelang bei Oma in Lhotka, das war mein Kindergarten. Ich hab das dort geliebt, alles: das Dorf, die Scheune, das Feld und vor allem den Wald – die Natur eben. Oma und Mama haben mir alles erklärt, und ich bin ihnen davongelaufen, aus dem Garten in den Wald, und sie liefen mir nach. Ich mag den Duft des Dorfes und seine Geräusche, und am liebsten mag ich den Duft und die Geräusche des Waldes, der Wiese und des Flusses. Zu Hause bin ich im Wald, wo es Moos gibt, Licht und Schatten in den Zweigen, feuchte und trockene und steinige Stellen, Gräser und Farne, verschiedene Tierspuren und Kot, den du bestimmen kannst, Rinde und Nadeln und Zapfen und Blätter von Bäumen, Geheimnisse, die dort auf mich warten, Reste von Fellen, Knochen und Verbisse und Gewölle, frische glänzende Hasenköttel, Triebe, Wurzeln, Zweige und Krümmungen, Samen und Schösslinge, Tau auf dem Unterholz – auch jetzt noch, wo ich schon groß bin, habe ich das alles sehr gern, vielleicht noch mehr. Jedes Mal finde ich irgendeine Überraschung im Wald. Ich mag das weiche Fell der Häschen und Eulengefieder und Habichtsaugen und Spinnenbeine und Waldbienennester und Dachsaugen und Rehhintern und Wachtelpünktchen. Nur Wildschweine mag ich nicht, vor denen habe ich schreckliche Angst.

Auch die verschiedenen Schattierungen der grünen Farbe mag ich. Jeder habe ich einen eigenen Namen gegeben. So etwa das ganz helle Grün, das nenne ich Bleichgrün, das ist Mamas und meine Augenfarbe. Das mittlere Grün, wie es die meisten Laubbäume haben, ist das Blattgrün. Und das Dunkelgrün der Fichten und Kiefern ist das Nadelgrün. Ein dunkles Grün mit Braun, fast wie Khaki, nenne ich Moosgrün. Nach dem Moos. Weil mir das Wort Khaki nicht gefällt. Es gibt noch mehr von diesen grünen Farben, aber das reicht für den Anfang.

Am meisten interessieren mich im Wald die Pilze und Waldtiere, Raubvögel und Raubtiere. Ich versuche absolut alles über sie zu erfahren. Wenn ich in Prag bin, was jetzt wegen der Schule ständig vorkommt, dann zeichne ich diese Tiere, wann immer ich einen freien Moment habe. Ich zeichne und male sehr gern, und zwar immer nach irgendeiner Vorlage, die ich entweder im Kopf habe oder auf einem Bild, oder ich suche das Tier im Internet und zeichne es nach. Diese Bilder lege ich in eine Mappe, in der ich jetzt schon sechsundvierzig Stück habe. Mama und ich blättern sie durch, und sie erklärt mir etwas über diese Tiere. Sie weiß alles über sie. Meine Mama mag aber am allerliebsten Bäume. Bäume sind ihre Leidenschaft. Also ich vergöttere ja Tiere viel mehr als Pflanzen, Pflanzen interessieren mich nicht so, vor allem wenn sie nicht blühen, aber wenn schon, dann wären mir unter ihnen die Bäume am liebsten. Ganz sicher die Nadelbäume, zum Beispiel Lärchen und Kiefern.

Super spannend finde ich auch schwarz-weiße Tiere: bei uns leben zufällig ziemlich viele davon, auch wenn es scheint, dass die Kombination schwarz und weiß in der Natur eine Ausnahme ist. Ist sie nicht. Zum Beispiel die Nonne. Oder die Pfaffenhütchen- Gespinstmotte, die kennt garantiert keiner. Oder der Dachs, ein Waldtier. Viele Tiere haben übrigens im Namen das Wort „Wald-“ oder „Gemeine“. Wenn sie ein „Haus-“ im Namen haben, interessieren sie mich nicht. Es gibt auch eine schwarzweiße Spinne, die Holz- Zebraspringspinne. Oder die Schnee-Eule. Den Waschbär. Den Trauerschnäpper und auch die Elster, wobei die in Wirklichkeit lila- blau-grün ist, metallfarben, nicht schwarz. Wie toll die in der Sonne glänzt, wenn sie auch hässlich krächzt. Die Birke ist ebenfalls schwarzweiß, aber das ist ja kein Tier. Oder, stimmt’s, das Zebra oder der Panda und der Schwertwal – die aber wiederum nicht bei uns leben. Der Skunk. Der Schabrackentapir! Der weiße Tiger, der Pinguin, der Lemur, der Dalmatiner. Und verschiedene Kühe, Pferde und so weiter. Nagetiere, Fische und Schlangen. Aber die zähle ich nicht dazu, weil es bei ihnen nur so eine Variation ihrer Haut ist. Auf meiner Liste schwarzweißer Tiere stehen schon fünfunddreißig. Ich zähle nämlich gern, wie viel ich wovon habe. Das beruhigt mich, wenn ich den Überblick habe und es nicht nur so ungefähr weiß.

Aber am allerliebsten mag ich das Meer und die Meereswelt. Das Meeres-was-auch-immer. Einfach alles vom Meer. Vor allem Wale. Auch die räuberischen. Ich würde schrecklich gern mal einen Wal mit eigenen Augen sehen.

Was ich nicht mag, sind Parasiten und Galläpfel. Das sind solche ekligen Wucherungen auf Blättern und Zweigen, die den Bäumen schaden. Oder Pflanzentumore, die beispielsweise auf Baumstümpfen wachsen. Sie haben verschiedene Farben und Formen und sind alle echt unappetitlich. So entstehen etwa an der Unterseite von Eichenblättern Galläpfel. Also die entstehen da nicht von alleine, sondern die Gallwespe macht sie. Das ist so ein Insekt, das seine Eier in diese Beule legt. Und da kommen dann die Larven raus und fressen die Eichenblätter. Aber erst, wenn die Blätter zusammen mit den Pflanzengallen abfallen. Also ist es wiederum nicht so schrecklich von den Gallwespen. Aber auch verschiedene Milben oder Pilze machen solche Pflanzengallen, und das ist schon schlimmer. Zum Beispiel am Birnbaum oder am Pflaumenbaum im Garten.

Ständig schweife ich ab und mache Gedankensprünge. Das passiert mir, wenn mich etwas interessiert. Ich bin oft in Gedanken, auch in der Schule, dann passe ich nicht mehr auf und meine Mitschüler sagen, Bleeena guckt wieder in die Luft, aber meistens denke ich nach. Und meistens über die Tiere und den Wald. Dann stelle ich mir zum Beispiel junge Wespenbussarde vor, wie sie aus dem Ei schlüpfen. Kleine Wespenbussardchen. Der Wespenbussard ist ein Waldvogel, ein Raubvogel, den ich bewundere, weil er Wespen und ihre Larven frisst. Daher sollte er eigentlich Wespenfresser heißen. Denn Honigbienen frisst er nie, niemals. Oder ich stelle mir vor, wie kleine Fuchswelpen geboren werden und noch ganz blind sind und verklebte Augen haben. Ich denke, dass das Wort blind von blenden kommt. Oder ich sehe vor mir, wie ein Fuchswelpe vor dem Uhu oder dem Adler flieht, der das Junge fangen will. In meiner Vorstellung gelingt es ihm immer zu fliehen, aber in der Natur läuft es so, dass es auch sterben und gefressen werden kann, und gerade die Jungen sind als Nahrung sehr gefragt.

Früher hat mir Mami Märchen von Waldkobolden und Baumfeen erzählt, die man Dryaden nennt. Sie beschrieb mir die Haare dieser Feen und ihre Kleider aus Nebel und Reif oder aus der Rinde und dem Laub von Bäumen, und wie die Kobolde die Bäume hetzen, damit sie schneller wachsen. Und dass diese Kobolde in den Wurzeln der Bäume knapp unter der Erde wohnen und mit ihrem Baum verbunden sind, sich gegenseitig erzählen und vor Unglück oder irgendwelchen Naturgewalten oder menschlichen Gewalten schützen. Aber das habe ich nicht geglaubt. Oder doch? Ich erinnere mich, wie ich an den Wurzeln buddelte und diesen Baumkobold ausgraben wollte, um ihn mit nach Hause zu nehmen. Und ich stellte mir vor, dass er nicht nur lieb ist, dass er so ein kleiner Widerling ist, der hässlich lacht und die Menschen in der Nacht mit seinem spitzen Fingernagel sticht, ihnen aber auch vieles verrät und beibringt und viel von ihnen will.

Trotzdem. Viel mehr interessiert mich, wie der Kuckuck die Eier in fremde Nester zu den kleinen Vögeln legt, deren Tage dann gezählt sind, weil der Kuckuck sie aus dem Nest schubst. Die kleinen Eltern merken es nicht einmal und schaffen es kaum, sich um diesen riesigen Eindringling zu kümmern, den ihnen die Kuckucksstiefmutter da hineingesetzt hat. Ich stelle mir vor, wie jemand ein großes fremdes Kind zu uns nach Hause bringt, das mich aus dem Bett schubst, meine Eltern hören völlig auf, sich um mich zu kümmern und Papa kocht ständig diesem Riesen sein bestes Essen, und während ich in den Wald gehe, füllt das fremde große Kind mein ganzes Zimmerchen aus wie ein Marshmallow.

Mich interessiert auch, wo der Iltis seine Stinkdrüsen hat, mit denen er jeden Angreifer abweist. Ich denke, am Hintern. Es fasziniert mich zu hören, wie sich Wölfe und Luchse im Böhmerwald anzusiedeln beginnen. Ich bin ihr Fan, auch gegen die Menschen. Immer habe ich zu den Tieren und Pflanzen gehalten, auch wenn es selbstverständlich nicht gerade schön ist, dass zum Beispiel der Biber die fleißig gepflanzten Bäumchen vernichtet oder sich dort Dämme baut, wo es niemandem passt, oder dass der Wolf hier und da den Schäfern ein Schäfchen wegfängt. Die dürfen das einfach!

Nur ist bei uns in der letzten Zeit so eine merkwürdige Stimmung. Papa und Mama haben mit einem Mal aufgehört zu lachen, und ich weiß überhaupt nicht, warum. Als ich heute aus der Schule kam, saßen sie in der Küche am Tisch und guckten komisch.

„Hallo, ich hab heute eine Ringeltaube gesehen, echt! Ein Stück vor der Siedlung! Mami, kann es wirklich sein, dass das eine Ringeltaube war?!“ Ich renne noch in der Windjacke in die Küche, aber dann bemerke ich diesen merkwürdigen Gesichtsausdruck meiner Eltern.

„Majnka,“ beginnt Mama mit eigenartiger Stimme. „Papa und ich möchten dir was sagen.“

Blitzschnell spule ich in Gedanken ab, was ich wohl angestellt habe. Wo ich etwas verschüttet oder ein vergammeltes Schulbrot hinter der Heizung vergessen habe. Ob ich irgendeine blöde Zensur in irgendeiner Geographie nicht gebeichtet habe. Ob sich die Lehrerin beschwert hat, dass ich mich in der Klasse absondere. Ob meine Eltern denken, ich hätte mit irgendwas ein Problem.

Schließlich komm ich drauf: „Ich weiß. Der Müll. Ich hab ihn vergessen rauszubringen,“ erinnere ich mich ziemlich spät. Mama ist mir manchmal böse, weil ich zu Hause nicht helfe, und gerade der Müll ist meine Aufgabe. Ich soll selber merken, wenn der Eimer voll ist und ihn raustragen. Aber sie sitzen da, die Köpfe gesenkt, und schweigen. Also versuche ich was anderes: „Die Drei in Tschechisch? Ich hab mir Mühe gegeben. Aber an zwei Stellen hatte ich keine Striche über dem ú. Und dann hab ich noch ein kleines p im Wort Prager geschrieben, weil mir das mit einem großen P falsch vorkam, ich dachte, das sei eine Falle. Aber es war keine. Also habe ich eine Drei bekommen, naja.“

Papa holt tief Luft: „Madlenka, weißt du, Mama ist krank. In einer Woche muss sie ins Krankenhaus und bleibt da eine Weile. Und danach muss sie sich kurieren.“

„Wie, krank? Wie, kurieren? Was fehlt dir, Mami?“, fange ich an zu schniefen, weil ich merke, dass Papas Stimme zittert, also ist es schlimm. „Mami!“, höre ich mich schreien. „Ist es was Ernstes?“ Ich weiß nicht genau, was es Ernstes sein könnte, aber das darf ganz, ganz sicher nicht meiner Mami passieren. Auf keinen Fall was Ernstes!

„Setz dich her zu mir, Majnka. Wir wollten es dir erst sagen, wenn es unbedingt notwendig und sicher ist, weißt du. Wir wollten dir aber auch nichts vormachen. In ein paar Tagen gehe ich zur Operation, nichts Schlimmes, und du wirst mich im Krankenhaus besuchen und mir immer Orangen mitbringen, die ich dann nicht esse, ja? Und ann werde ich wohl eine Zeitlang zu Hause sein, da schauen wir uns diesen Atlas hier an, den ich dir gekauft hab, sieh mal.“

Mama schaukelt mich auf ihrem Schoß wie ein kleines Mädchen und Papa legt die Hand auf das Buch, das die ganze Zeit neben dem Salz und dem Pfeffer liegt. Die beiden Streuer sind von unseren Händen, die auf dem Tisch nach ihnen greifen, etwas speckig, und ich erwische mich dabei, wie meine Gedanken wieder abschweifen und ich diese fettigen Fingerabdrücke ins Visier nehme. Für eine Weile lässt so die Spannung in der Küche etwas nach. Ich bin einfach nicht da.

Mama schiebt diesen herrlichen Wälzer über den Tisch zu mir hin: Lexikon des Waldes. Darin ist komplett alles über unseren gewöhnlichen Wald, so wie er heute in Mitteleuropa verbreitet ist. Über die Pflanzen und Kräuter, über Insekten, Vögel und Raubtiere, über großes, also das Großwild des Waldes, das bei uns lebt, über Spinnen und Mäuse, über Raubvögel und Pilze. Eben über alles! Ich bin ganz aus dem Häuschen, blättere wie verzaubert in dem Buch und kann mich nicht sattsehen. Allerdings nur zum Schein. Ich versuche so zu tun, als ob ich mich auf das Lexikon konzentriere, um Mama wissen zu lassen, dass ich ihr Spiel mitspiele – dabei weiß ich sehr gut, dass es nur meine Aufmerksamkeit ablenken soll, damit ich für eine Weile vergesse, wovon hier die Rede war. Aber das Buch ist wirklich interessant, voller Fotos, Zeichnungen und kleiner Infokästchen über Tiere – alles genau richtig, und dabei behandelt es die Kinder nicht, als wären sie dumm und wüssten überhaupt nichts von der Natur. Das Lexikon hat 590 Seiten und etwa 900 Bilder, das werde ich mal durchzählen. Es verschlingt mich total. Papa sitzt und Mama erklärt. Papa starrt die ganze Zeit auf eine Stelle im Buch, auch wenn wir die Seiten umblättern. 234, 235, 346. Die Buchstaben, schwarz auf weißem Papier, sind beruhigend. Von Mamas Krankheit sprechen wir nicht mehr.

* * *

 

„Oma!“ Meine Oma holt mich von der Schule ab! Das ist ziemlich unglaublich, weil sie noch nie zu mir in die Schule gekommen ist, selbst in der ersten Klasse hat sie nie auf mich gewartet, weil sie ja in Lhotka wohnt. Das ist ungefähr drei Stunden von Prag entfernt, und man muss dreimal umsteigen. Ich laufe in ihre Arme und stocke nur für einen Augenblick, weil ich mit Thaddäus aus meiner Klasse das Schulhaus verlassen habe und es mir peinlich ist, dass mich überhaupt jemand abholt, wo ich doch schon groß bin, und dann noch Oma, die einem mit ihren ganzen Taschen, derben Händen und alten Schuhen schon komisch vorkommen kann.

Normalerweise würde ich Oma einen Kuss geben und eine Weile mit ihr kuscheln, aber das mache ich erst um die Ecke, damit mich keiner sieht. Oma wirkt entschlossen und geschäftig, sie lächelt über das ganze Gesicht und holt sofort Äpfel und Birnen aus ihrer Tasche, die sie für mich im Garten gepflückt hat. Sie ist direkt vom Bahnhof hergekommen und riecht nach Garten, sie hat den Geruch von reifem Obst bis nach Prag mitgebracht.

„Schau, wie schön golden sie dieses Jahr sind,“ sie gibt mir eine Butterbirne, zart gestreift und mit Pünktchen, eine goldgelbgrüne.

„Und die Äpfel, das sind Renetten, die magst du gern.“ Ich beiße in die Birne in einer Hand und in der anderen in den Apfel, und wir gehen.

„Gehen wir in die Konditorei, was meinst du?“ schlägt Oma vor und wendet sich gleich in Richtung des Platzes bei der Schule. „Dann zeigst du mir, wie man mit dem Bus zu euch nach Hause fährt.“ Oma kann das nicht! „Was machst du eigentlich hier, Oma?“ wundere ich mich, aber dann fällt es mir natürlich ein. Oma ist wegen Mama gekommen. „Und Opa hast du zu Hause gelassen?“ frage ich vorwurfsvoll.

„Aber sicher, Opa ist schon groß, Majda, er kommt allein zurecht, keine Angst. Ich werde jetzt ein paar Tage bei euch wohnen und mich um dich und Papa kümmern, wenn Betty im Krankenhaus ist.“ Oma schaut zur Seite.

„Das ist super, Omi! Machst du mir Liwanzen? Wir müssen auch nicht in die Konditorei!“

„Na gut. Ich habe Eier mitgebracht. Von unseren Glucken.“

„Omi, ich bitte dich, sag nicht Glucke. Das ist ein schreckliches Wort. Kannst du nicht ganz normal Hühner sagen?“

Als wir um die Ecke sind, fasse ich sie fest an ihrer trockenen Hand. Die Adern treten auf ihr hervor, und sie hat dunkle Streifen an den Fingerkuppen, weil sie ständig in der Erde wühlt und das nach all den Jahren nicht mehr abgeht. Mir gefallen ihre Hände. Hier sieht uns niemand mehr. Oma tätschelt mit der anderen Hand mein Gesicht und lächelt. Das macht sie immer. Ihre Hände duften nach Äpfeln und kratzen wie ein Reibeisen.

„Kann ich nicht,“ lacht sie, „weil es einfach Glucken sind!“

 

* * *

„Hallo Papa! Du bist zu Hause?“ rufe ich an der Tür. Papa ist sonst um zwei Uhr nachmittags nie zu Hause. „Omi ist da! Hast du das gewusst?“

„Wie ist es ausgegangen, Jindra?“ fragt Oma mit ängstlicher Stimme, und ihre Hand mit einem ausgezogenen Schuh erstarrt in der Luft.

„Gut, es ist weg,“ sagt Papa und atmet dabei aus wie der Luftzug im U-Bahn-Schacht.

„Alles?“ Oma geht – warum auch immer – in den Flur, bleibt dort stehen und schaut auf die geschlossene Eingangstür.

Nicht, dass einer mal sagte: ‚Omas Besuch sollte eine Überraschung für dich sein, Madlenka!‘ oder etwas in der Art.

„Was ist weg, Papa? Was alles?“

„Mama sagt es dir selbst, wenn sie möchte. Jetzt ist sie frisch operiert, aber sobald sie sich etwas erholt hat.“

 

Papa öffnet eine runde Flasche, wahrscheinlich mit Alkohol. Die Flüssigkeit hat eine dunkelbraune Farbe und duftet merkwürdig – bitter, wie verfaultes Holz mit Zimt. Er gießt auch Oma ein: „Nimmst du einen Kurzen?“. Sie stoßen an und kippen es komplett hinunter, dann schütteln sie sich. Einen Kurzen! Dieses Wort hab ich im Leben noch nicht gehört. Einen kurzen Fernet. Den hat Oma wohl als Geschenk für Papa mitgebracht. „Zum Aufwärmen.“

„Ich hasse es, wenn ihr etwas vor mir verheimlicht! Das ist nicht fair. Ich bin nicht mehr klein. Und was ihr da trinkt, stinkt!“

„Ein Furz stinkt. Fernet duftet nach vierzehn Kräutern,“ äußert Papa fachmännisch.

„Komm, Majda, lass uns die Liwanzen machen.“ Oma fasst mich bei den Schultern, als hätte sie mich gar nicht gehört, niemand erklärt mir irgendwas. Aber die Liwanzen waren ausgezeichnet. Mit Heidelbeermarmelade und Schmand. Papa hat mindestens fünfzehn gegessen, ich habe mitgezählt. Aber dann musste ich aufs Klo, also sind mir bestimmt fünf entgangen, die in seinen Bauch wanderten. Den ganzen Abend lang denke ich darüber nach, was weg ist, was gut ausgegangen ist. Mir ist klar, dass es um Mamas Operation ging, aber was war es genau?

Bedeutet es, dass Mama mit mir weiter Ausflüge in die Natur unternehmen wird, weil alles „weg“ ist? Dass sie mich am Wochenende in echte Wälder mitnehmen wird, wo es moosig und feucht und saftig ist? Dass wir davon träumen werden, wie wir Norwegen und Schweden durchwandern und dort Pilze suchen, weil die Einheimischen sie nicht sammeln? Wird sie mir wie früher zeigen, was es im Garten Neues gibt, werden wir am Abend Neuigkeiten in den Büchern über Tiere suchen, und ich werde sie immer wieder über Walfische und Raubtiere ausfragen? Wird sie mit mir Hörbücher hören, während ich zeichne und sie etwas schreibt?

 

Die Eigelbe von Omas Eiern waren ganz orange, aber auf ihre Hühner bin ich echt sauer. Opa hat in einer Ecke des Gartens einen Sandhaufen, falls mal welcher für den Bau von irgendwas gebraucht wird. Daneben steht ein Betonmischer. In den Sandhaufen hatte im Sommer, als ich bei Oma in den Ferien war, eine Eidechse ihre Eier gelegt. Vielleicht mehrere Eidechsen, denn der Sand lag dort lange, es wuchs schon Gras drauf, und für das Eidechsengelege war es der allerbeste Platz im Garten. Eidechsen sind ebenfalls „Gemein“, aber es gibt verschiedene Arten, auch bei uns. Das war aber eben keine gewöhnliche, Gemeine Eidechse, sondern eine Smaragdeidechse, die wie der Edelstein aussieht. Sie hat eine ganz smaragdgrüne Haut, einen türkisfarbenen Kopf und Schuppen, die in der Sonne bunt schimmernde Reflexe werfen. Zumindest meinte ich, dass die Eier von diesen Eidechsen waren. Erst später, als ich schon groß war, stellte ich fest, dass das Männchen der Gemeinen Eidechse an den Seiten auch so herrlich grün ist. Jeden Tag ging ich diese Eier kontrollieren, sanft und vorsichtig schob ich den Sand beiseite und häufte ihn wieder auf. Doch eines Tages war der Sandhaufen ganz zerwühlt und die Eier nirgends: die Hühner hatten sie aufgefressen. Alle! Dreizehn waren es, ich hatte sie gezählt! Gerade, als meine kleinen Eidechsen aus den weichen Eiern zu schlüpfen begannen, die keine Schalen haben, sondern eine Art weißlicher, zarter Haut, da pickten diese dummen Hühner sie aus dem Sand. Sie fraßen die kleinen Eidechschen einfach auf, die blöden Glucken. Und dabei sind die Gemeinen Eidechsen bei uns geschützt, weil sie stark gefährdet sind! Hätten diese Dummbatze doch lieber die schon geborenen Jungen der Waldeidechsen gefressen, die kommen häufiger vor. Ansonsten werden Eidechsen sogar zehn Jahre alt, richtig lange leben sie, wenn man bedenkt, dass das nur so kleine Wirbeltierchen sind.

Ich nehme mir das Lexikon mit ins Bett, um vor dem Schlafen noch darin zu blättern, und versuche mein Spiel damit: Wenn du ganz schnell mit dem Daumen über den Buchblock fährst, als wäre es ein Daumenkino, verschwimmen vor deinen Augen die Farben der Tiere auf den Fotos. Dann sage ich in Gedanken ganz schnell ihre Namen auf, wie bei einem Selbsttest. Wenn ich etwas aus diesem Farbenstrom nicht erkenne, regt mich das auf. Ich schlafe schon fast.

Oma und Papa erzählen am Tisch immer weiter und gießen sich dabei braune Kurze ein. Dann telefonieren sie mit jemandem und dann mit noch jemandem, und je mehr Kurze es werden, desto mehr lachen sie ins Telefon. Als sie Opa anrufen, lachen sie am meisten. Mir haben sie gar nichts erklärt. Aber morgen besuchen wir Mama im Krankenhaus, dann frage ich sie einfach, weil ich mir sicher bin, dass es auch in diesen Telefongesprächen um sie und ihre Krankheit ging. Das letzte, was mir durch den Kopf geht, während ich die Lexikonkapitel über Schmetterlinge betrachte, sind die Worte für Krankheit. Wenn ein Mensch krank ist, kann er vieles nicht mehr, ist er schlapp, leidend, marode, unfähig … zum Beispiel allein aufzustehen. Oder zu trinken. Und dann fällt mir auch ein, dass er dann unfähig sein könnte weiterzuleben. Dabei wird mir ganz eng um den Hals, und ich kann überhaupt nicht mehr schlafen. Also stelle ich mir Widderchen vor. Offiziell sind das Schmetterlinge, aber eigentlich sind es eher Käfer mit schönen Flügeln. Meist sind diese Flügel gepunktet. Widderchen haben ziemlich oft schwarze Flügel mit roten Tupfen, wie ein Marienkäferschmetterling. Das Beringte Kronwickenwidderchen etwa ist wunderschön und hat auch einen niedlichen Namen. Ich kann einfach nicht einschlafen.

 

* * *

 

Es ist Samstagmorgen und nach meiner schlaflosen Nacht darf ich länger schlafen. Ich krabble erst um zehn aus dem Bett, Papa nirgends. Auf dem Tisch liegt eine Nachricht für mich auf einem fettigen Zettel, der mit irgendwelchen Anmerkungen Papas zur Pflichtlektüre seiner Schüler versehen ist:

Oma und ich sind zu Mama ins Krankenhaus gegangen, im Kühlschrank ist dein Frühstück, mach dir einen Tee. Bis zum Mittag sind wir zurück, Papa Pappel Rappel Zappel.

Na prima, ihr hättet auch auf mich warten können, ich hab Mama schon zwei Tage und fünfzehn Stunden nicht gesehen und schreckliche Sehnsucht. Aber vielleicht haben sie das extra gemacht, sich am Morgen ganz still davongestohlen, um mich nicht mit ins Krankenhaus nehmen zu müssen. Krankenhaus: Haus der Kranken. Ich versuche Mama anzurufen, obwohl Papa es mir verboten hat, damit sie nicht gestört wird. Aber ihr Handy ist sowieso aus, wahrscheinlich dürfen sie es dort nicht einschalten.

Wir wohnen in Vonoklasy in einem alten Häuschen, das Papa nur ein kleines bisschen repariert hat und hinter dem gleich das Feld ist, vom Haus nur durch unseren Garten getrennt. Dort sind Obstbäume – alte, krumme Apfelbäume, die aber noch tragen, zwei Aprikosen und ein Pfirsichbaum, der letztes Jahr vertrocknet ist –, Haselnussbüsche und Johannisbeersträucher. Rote Johannisbeeren schmecken mir, die pflücke ich auch gern in den Ferien. Papa stören die Ameisen, die an den Johannisbeeren zu den Blattläusen hochklettern. Die halten sie sich dort, um ihre Milch zu naschen. Und dann diese kleinen Spinnen, von denen ich nicht weiß, wie sie heißen, das werde ich Mama fragen müssen. Aber die ist ja nicht hier. Normalerweise gehe ich in solchen besonderen Momenten des Alleinseins auf den obersten Boden, weil dort jede Menge interessanter, verstaubter Krempel ist, den ich erforschen kann: verschiedene alte Eisengeräte, Reste eines Porzellanservices, Heiligenbildchen und alle möglichen alten Getränke-, Sirup- und Medizinfläschchen. Vielleicht finde ich dort einen Rest irgendeiner uralten Tinktur gegen Mamas Krankheit. Vielleicht könnte man sie auf einen Löffel mit Zucker tropfen und Mama würde sofort genesen wie Dornröschen, als ihr Prinz sie küsste und sie gleich wach wurde und sich direkt in jemanden verliebte, den sie zum ersten Mal im Leben sah. Aber dazu müssten sie mir vorher erstmal etwas über ihre Krankheit erzählen.

Ich beschließe, lieber in den Garten zu gehen, das Frühstück lasse ich aus, denn im Garten findet sich oft was, auch jetzt im September. Äpfel zum Beispiel. Wenn ich will, kann ich auch Kartoffeln ausgraben, aber was sollte ich am Morgen damit anfangen. Außerdem kann ich nicht besonders gut kochen, das macht mir gar keinen Spaß.

Hinter dem Garten ist ein Zaun und dann gleich der Feldweg und das Feld, das am Wald endet. Am Eingang zum Wald steht eine hochgewachsene Linde, wie aus einer anderen Welt. Wobei … Wald! Das ist kein ordentlicher Wald, das nicht, immerhin wohnen wir gleich bei Prag, fast noch in Prag, aber ich bin auch so glücklich, dass ich jederzeit rausgehen kann. Wir haben hier in Vonoklasy einige denkmalgeschützte Eichen, die groß und alt und schön sind. Zum Beispiel die Grenzeiche, die angeblich Stieleiche oder auch Sommereiche genannt wird. Sie grenzte einst die Königsaaler Herrschaft ab und ist wohl sechshundert Jahre alt. Die hat schon alles gesehen, auch wie wir hierhergezogen sind und Papa den Umzugsmännern zuschaute, als sie Möbel schleppten, ständig schwatzte und witzelte er und stand im Weg und lief um sie herum, und die Möbelpacker guckten erst mürrisch und dann lachten sie. Mama war fröhlich und hatte ihren Spaß, weil Papa wie ein Ballon aussah, der ganz aus Versehen hier im Dorf gelandet war. Aber zurück zu unserem Wald. Es ist ein Mischwald mit großen Buchen darin und duftendem Waldmeister drunter, mit Flaumeichen, Hainbuchen, Ebereschen, Feldahorn, Linden, einigen Kiefern und Fichten. Durch das Tal bis zum Nachbardorf Roblín und durch das Naturschutzgebiet Karlik fließt der Karlikbach, an dessen Ufer Erlen und Weiden stehen – an unserem Bach Kluček wächst nicht viel. Unsere Lehrerin wunderte sich, als ich ihr sagen konnte, dass Hainbuche mit „ai“ geschrieben wird.

Als ich kleiner war, habe ich Mama ständig überredet, mit mir zu unserem Bach zu gehen, weil dort bestimmt ein Biber ist. Oder wenigstens ein Otter. Sie lachte und meinte, höchstens ein Nutria, weil der Bach aus dem Teich auf unserem Dorfanger direkt in die Berounka fließt, und dass dort Nutrias sind, die aus der Moldau angeschwommen kamen, wo sie sich stark vermehrt haben. Aber ich weiß doch, wie ein Biber aussieht! Der hat einen flachen Schwanz! Und vor allem trifft man den Biber nicht einfach so am Tage an, weil er ein Nachttier ist und besonders scheu. Einen Otter könntet ihr antreffen, wenn ihr Glück habt. Aber eher nicht.

Also im Garten steht eine Schubkarre mit Mist, und darin geschehen Wunder. Als ich kleiner war, hab ich gern im Lehm gebohrt. Immer habe ich etwas Lebendes rausgebuddelt und es in eine Schachtel getan. Mama hat mir dann erzählt, was für ein Insekt das ist, wie es sich ernährt und vermehrt und so weiter. Ob es räuberisch lebt. Welche Pflanzen es am liebsten mag. Wessen Kokon dies ist. Wer aus jener Papierhaut gekrochen ist. Wir sind zusammen in den Wald gegangen und sie erinnerte sich an jenen hinter dem Bauernhaus in Lhota bei ihr zu Hause, wo jetzt nur noch Oma und Opa wohnen. Dabei hatte ich immer das Gefühl, dass es ihr leid tut, in Prag zu wohnen. Aber bei uns in Vonoklasy gibt es wenigstens etwas Wald, ich will mal nicht undankbar sein. Wir haben hier das Naturschutzgebiet Karlik, in das die Touristen vor allem kommen, um das Grün zu genießen, und an der Berounka fahren sie ständig mit dem Rad bis nach Dobřichovice oder Mönchelein. Und Brdy ist richtig schön. Hier kreuzen sich viele Wanderwege: auf dem roten laufen sie alle nach Zbraslav oder zur Burg Karlstein, wo sich die Leute drängeln wie in einer Sardinenbüchse.

Aber ihr könnt auf dem roten Weg auch ins geschützte Karlik-Tal gehen, und dort ist es wieder ganz anders: Dort gibt es Eichen und Hainbuchen und die stark vom Aussterben bedrohte Waldameise. Oder ihr geht auf dem blauen nach Černošice und Srbsko. Nach Černošice ist es nicht weit, es liegt auf meinem Schulweg. Ihr könnt auch auf dem grünen Wanderweg nach Dobřichovice laufen. Oder auf dem gelben nach Třebotov und ins Naturschutzgebiet um den Berg Kulivá hora. Dieser Berg ist besonders, weil er für Käferfreunde und Frühlingsblumenliebhaber interessant ist. Aber ihr müsst auch nicht unbedingt auf den ausgezeichneten Wegen gehen, weil wenn ihr dort langlauft, seht ihr garantiert nichts, kein Tier. Es gab hier mal Steinbrüche, man kann sich also auch die Aufschlüsse und ihre Faltung anschauen, Trilobite suchen. Den Steinbruch Koníček kennen zum Beispiel viele Leute nicht. Mich interessieren Trilobite nicht, denn ich hab im Leben noch keinen einzigen gefunden. Sonst würden sie mich vielleicht interessieren. Wir haben hier sogar ein Feuchtgebiet, das lustigerweise Pfütze heißt, dort wachsen Wasserpflanzen. Und die tiefe Schlucht mit dem Bach Kluček, den Papa mit verschiedenen lustigen Reimen bedacht hat. Wenn er sie vor sich hin singt, tanzt er dazu und sein Bauch wackelt dabei wie ein Sack Kartoffeln: „An dem Bächlein Kluček fand ich nen Sack voll Bauchspeck, den wollt‘ wohl wer verstecken, doch ich ließ ihn mir schmecken.“

Der Mensch darf nicht zu viel verlangen! Gerade weil unser Dorf nahe an Prag ist und eine sehr vielfältige Natur hat, hat sich Mama damit abgefunden, bei Prag zu wohnen. Und weil Vonoklasy bedeutet, dass hier die Ähren duften, gab der Name schließlich den Ausschlag. Und dann ist es ja noch so, dass unser Dorf im Böhmischen Karst liegt, also gibt es hier viele Vögel und Fledermäuse, zum Beispiel das Große Mausohr und die Hufeisennase, die zur Abwechslung klein ist.

Hier finden sogar Fledermauszählungen statt, und das finde ich nun wirklich komisch, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie sie das machen, wenn die in Geschwadern irgendwo in einer Höhle von der Decke hängen, aber genau das würde mich nun wieder reizen – die Zahlen! Außerdem ist der Boden hier gut zum Höhlenbauen geeignet, daher leben hier Fuchs, Wiesel, Hermelin, Iltis, Marder und Dachs – und das ist für Mama und mich schon aufregend. Leider geht es hier auch den Wildschweinen gut, vor denen ich Angst habe, allerdings weiß das niemand, und es gibt eingeschleppte Mufflons, die nicht hierher gehören. Außer den Rehen kommt ein Hirsch aus Brdy zu Besuch her, zumindest wird das erzählt, aber ich glaub es nicht, das ist bestimmt eine Legende. Keine Legende ist allerdings, dass im Süden bei Rožmitál ein Luchs lebt! Da verlange ich wahrscheinlich schon zu viel, doch einen lebenden Luchs würde ich schrecklich gern mal sehen, nicht nur eine Fotoattrappe. Oder einen Wolf. Also der Mensch darf vielleicht nicht zu viel verlangen, aber ich will manchmal vieles.

Nur würde Mama als Naturwissenschaftlerin in irgendeinem Dorf weit weg von Prag keine Arbeit finden. Sie arbeitet nämlich in einem Forschungsinstitut und unterrichtet an der Hochschule. Bald beginnt das Semester, also das neue Hochschuljahr. Papas Schuljahr hat schon angefangen. Er ist Historiker, interessiert sich für die alten Griechen und sowas und unterrichtet ebenfalls. Am Gymmi. Aber er ist ein Stadtmensch, der die Architektur liebt. Häuser und Straßen, Geschäfte und Cafés. Vor allem Konditoreien. Die am meisten. Er würde dort Törtchen essen, Kaffee mit Schlagsahne trinken und Bücher lesen. Wahrscheinlich ist er ein bisschen traurig, dass mich Geschichte so gar nicht fesselt. Sicher würde er mir auch gern manches aus seinem Fach erklären, das ihn so interessiert – wie Mama. Über Tiere und Pflanzen weiß unser Papa so gut wie gar nichts, sofern sie nicht zum Essen sind. Aber das macht überhaupt nichts, denn er ist der weltbeste Durchkrabbler und kocht ausgezeichnet (das kann Mama nicht besonders gut), wir beide mögen fast alles aus Schokolade und mit Vanille, er kann alle möglichen lustigen Tänze und kennt die besten Witze. Bis vor kurzem hat Papa ständig gelacht. Er dreht auch kaum noch seine allerwitzigsten Tänzchen an der Küchenzeile, wenn er kocht – verschiedene Drehungen mit der Pfanne beim Palatschinkenbacken, Hüftwackeln beim Schlagen mit dem Schneebesen oder lustige Sprünge, wenn der Mixer läuft. Ob Mama dieses Jahr überhaupt Vorlesungen halten wird …

Sobald ich den kleinen Hof hinter mir gelassen habe, sehe ich, dass im Garten Leben ist. Man muss nur leise sein, sich bücken und viel Geduld haben. Am Ende des Gartens in Richtung Feld ist das Haselnussgebüsch. Dorthin hat mich Mama in der letzten Zeit immer geschickt, eine Überraschung sei da. Und stellt euch vor, heute, heute habe ich sie endlich gesehen! Eine Bilchmaus! Eine Haselmaus! Das ist wohl das niedlichste Nagetier, das ich kenne. So eine Art rostrote Maus, die allerdings kein dünnes Schwänzchen hat, sondern eher einen zotteligen. Und im Haselgebüsch hopst sie natürlich deshalb herum, weil sie Haselnüsse liebt. Dafür musste ich ziemlich langsam über den ganzen Garten linsen, aber ich hab sie in den Zweigen gesehen. Ich glaube, dass sie bei uns eher mit den Äpfeln Glück hat, denn die schönen Haselnüsse erntet uns jedes Jahr der Tannenhäher weg. Jahr für Jahr warten wir, bis die Nüsse reif sind, noch eine Woche, sagen wir uns, und noch immer ist der Tannenhäher nicht zu sehen, also noch ein paar Tage, Betty, umso größer werden sie sein, entscheidet Papa immer heimtückisch – und dann werden wir eines Tages wach und der Baum ist komplett abgeerntet, doch der verbrecherische Vogel ist nirgends zu sehen! Vielleicht lässt er wenigstens meiner Haselmaus ein paar kleine Nüsse …

Als ich vom langen Dahocken schon einen Wadenkrampf habe, rennt die Haselmaus weg. Aber ich hab sie gesehen, obwohl sie ein nachtaktives Lebewesen ist, und sie wohnt bei uns!

Inzwischen habe ich Hunger bekommen und mir einen Apfel gepflückt, der war zwar noch nicht reif, aber ein Marienkäfer saß drauf, das muss irgendein besonderer gewesen sein, denn er hatte nur zwei Punkte. Schnell laufe ich hinein, um ihn in meinem Lexikon zu suchen. Ich finde heraus, dass er Zweipunkt-Marienkäfer heißt und das Nationalsymbol von Lettland ist. Wo Lettland ist, das weiß ich nicht, wahrscheinlich in Afrika. Zweipunkt-Marienkäfer … Das klingt genauso lächerlich wie Magdaléna.

Dann höre ich ein Geräusch hinter der Tür, das waren Oma und Papa, und sie sehen aus wie nach einer ordentlichen Sause, da haben sie wohl gestern wirklich noch bis spät in die Nacht gezecht, aber sie lächeln und sehen aus, als wäre ihnen leichter ums Herz und als wäre die Sause gut gewesen, wer weiß, ob sie nicht sogar zusammen getanzt haben.

„Also sagt ihr es mir nun endlich, oder muss ich es im Lexikon suchen?“

„Majda, morgen kommst du mit uns mit ins Krankenhaus, ja? Mama möchte es dir selbst sagen. Jetzt geh deine Hausaufgaben machen, und sag nicht, du hast keine.“

So geht das jedes Mal. Wenn sie mich loswerden wollen, schicken sie mich Hausaufgaben machen.

„Toll. Ich nehme das Mathezeug mit in den Wald.“

„Magdalenchen geht allein in den Wald?“ Oma hebt die Augenbrauen.

„Ja, tut sie. ‚Magdalenchen‘!!“ Ich knalle die Tür zu und renne mit Lehrbuch und Heft unterm Arm über das Feld.

„Meine Majnka!“, ruft Mama vom Krankenhausbett her. Ich stürme mit voller Wucht in ihre Arme. Sie stöhnt kurz auf, ihr Gesicht ist irgendwie kleiner und schmaler.

„Tut mir leid, Mami,“ ich schäme mich gleich, aber sie umarmt mich und hat dabei dunkle Augenringe und ist grau im Gesicht. Oma und Papa lassen uns allein: „Komm, Jindra,“ zwinkert Oma Papa zu, „wir gönnen uns einen Kaffee aus dem Automaten im Erdgeschoss.“

„Mami … wie gehts dir, Mami?“, kann ich endlich fragen. „Ihr könntet mir langsam die Wahrheit sagen. Ich bin kein kleines Kind mehr!“ Mama lächelt. „Erinnerst du dich, wie ich dir von den Pflanzengallen erzählt habe? Von diesen Geschwüren an den Bäumen?“ Sie holt einen langen Atem und beginnt ganz langsam und vorsichtig.

„Ja, da sind Larven unterschiedlicher Insekten drin. Oder Milben,“ stimme ich ihr zu.

„Ja. Und es gibt auch so eine Baumkrankheit, die alle Gehölze bekommen können. Da wachsen ihnen Geschwulste aus der Rinde. Diese Geschwulste haben jeweils eigene Namen, z. B. Kallus oder Chaga.

„Das klingt eher nach irgendwelchen Zaubersprüchen.“

„Stimmt. Einige Birken, Eschen und Eichen haben eben diese Krankheit. Oder der Nussbaum. Nun, und auch ich habe diese Krankheit.“

„Wachsen dir irgendwo solche ekligen Geschwüre oder was?!“

„So könnte man es sagen. In meinem Körper ist ein Geschwür gewachsen, und hier im Krankenhaus wurde es entfernt. Hoffentlich wird es nun gut, hoffentlich sprießt mir nicht anderswo ein Geschwür, das wird man noch sehen, aber ich muss mich lange kurieren. Ich werde zur Chemotherapie herkommen, das ist so eine Art, die Keime dieser Geschwüre aus dem Körper zu vertreiben. Danach kommt noch eine Bestrahlung auf mich zu. Dabei versucht man sozusagen, die Geschwüre zu verbrennen, damit sie dort nicht wieder entstehen. Damit sie der Körper vollständig loswird.“

„Tut das weh? Das muss doch schrecklich weh tun!“

„Was meinst du – die Chemotherapie? Die tut wohl nicht weh, da fließt eine Flüssigkeit in die Ader, und dann wird einem schlecht und manchmal muss man sich auch übergeben. Aber vielleicht wird mir nicht so schlimm übel. Und ich muss nicht einmal die ganze Zeit über im Krankenhaus liegen, ich werde viel zu Hause sein.“

„Das ist toll, Mama! Also wirst du schon zu Hause sein, wenn ich aus der Schule komme?“

„Nun, eher werde ich immer noch zu Hause sein.“

„Darauf freue ich mich riesig! Du wirst mit mir in den Wald gehen! Wir nehmen das Lexikon mit und du zeigst mir alles, ja?“

„Na gut, Majnkalein, so machen wir es.“

„Das ist toll, Mami!“ Ich umarme meine Mama noch einmal, aber ich drücke sie nicht mehr so stark. Ich weiß sehr gut, dass diese Therapie durchaus nichts Tolles ist, und mir wird klar, dass Mama dieses Jahr keine Vorlesungen mehr halten kann und dass sie wegen der Therapie vielleicht sogar ihre Arbeit verliert. Mir kommt der Gedanke, dass sie nicht wie immer herumlaufen können wird, dass es keine herbstliche Spurensuche im Wald geben wird und keine Ausflüge zu unbekannten Stellen in unserer Umgebung, dass sie dieses Jahr vielleicht nicht einmal zu den zwei kleinen Wasserfällen am Bach kommt. Aber ich will fröhlich und sorglos aussehen.

„Alles wird gut, du wirst sehen.“

„Also bist du eigentlich schon gesund? Hat dich die Operation geheilt? Und wohin haben sie eigentlich diese Beule getan?“ füge ich nach einer Weile neugierig hinzu.

„Das weiß ich nicht,“ lacht Mama auf, aber irgendwie traurig. „Das weiß ich nicht.“

„Schau mal, ich hab dir was mitgebracht.“ Ich lange in meine Hosentasche. Auf meiner Handfläche liegen zwei Eicheln, zwei von der Haselmaus angebissene Haselnüsse und eine eingewickelte Eischale irgendeines klitzekleinen Vogels. Sie ist ganz türkis mit Punkten.

„Das ist wundervoll, Majnka. Weißt du, wessen Ei das ist?“ „Könnte es vom Rotschwänzchen sein?“
„Richtig! Könnte sein. Aber es könnte auch von der Amsel sein.

Oder von der Drossel, und ich glaube, in dem Falle ist es auch so. Wo hast du es gefunden?“

„Am Waldrand, gleich am Weg.“

„Weißt du, dass solche farbigen Eier für gewöhnlich die Vögel haben, die in offenen Nestern nisten? Diejenigen, die ihre Nester in Hohlräumen verstecken oder sich selbst geschlossene Nester bauen, haben meistens weiße Eier.“

„Aha, also sollen die farbigen Eier die Prädatoren abschrecken, stimmt’s?“

„Genauso ist es, farbige Eier mit Flecken verschmelzen besser mit ihrer Umgebung, aber in einer Höhle ist das nicht wichtig, dort können sie ruhig weiß sein. Du bist mein schlaues Majnkaköpfchen … Warst du mit Oma im Wald?“

„Nicht ganz. Ich bin weggelaufen.“

„Das solltest du nicht, Majda. Du musst Papa immer Bescheid geben. Und Oma war sicher böse, dass du allein gehst, oder?“

„Aber nicht auf mich, sie war böse auf Papa,“ da lachen wir beide. „Wann kommst du nach Hause, Mami?“
„Vielleicht schon übermorgen, stell dir vor.“

 

* * *

Oma schlug vor, dass wir zwei rausgehen sollten, um Gartenarbeiten zu machen, und das haben wir dann tatsächlich getan. Wir gruben die Beete um, zogen vertrocknete Pflanzenreste heraus und bereiteten den Garten für das kommende Frühjahr vor. Wahrscheinlich gibt es dann wieder Erbsen und Bohnen, Möhren und Zwiebeln, auf dem Kompost werden Kürbisse wachsen und im Gewächshaus Tomaten und Paprikas, und zu ihren Wurzeln wird es Basilikum, Feldsalat und Rucola geben. Der Boden riecht schon ganz anders, herbstlich, und der Wald hinter dem Feld bekommt Farbe. Oma hat aus altbackenen Hörnchen und ausgeschnittenen Äpfeln einen Auflauf zum Frühstück gebacken, den mag ich überhaupt nicht, weil ich das Salzige aus den Hörnchen herausschmecke und es absolut nicht leiden kann, wenn etwas eingeweicht und aufgebacken ist. Diese Semmelbaba ist übrigens etwas Ähnliches wie die Schinkenfleckerl, die kann ich auch nicht ertragen. Ich kann nicht verstehen, wie Papa sein Brot in die Suppe tunken kann. Wenn ich groß bin, fürchte ich, werde ich genau solche komischen Sachen machen: braunen Alkohol trinken, am Rechner sitzen und Hörnchen in die Soße tunken. Mama mag es nicht, wenn Äpfel ausgeschnitten werden, weil sich die Fäulnis ja im ganzen Apfel verbreitet, auch wenn man sie nicht sieht.

Aus ihren mitgebrachten Aprikosen hat Oma Obstknödel mit geriebenem Trockenquark, Butter und Zucker gekocht. Papa hat wohl fünfzig davon gegessen (aber nein, zwölf!), und ich habe Oma geholfen, sie zuzubereiten. Es ist ganz einfach. Zuerst wird ein Teig aus Quark und grobem Mehl mit Ei gemacht, aus diesem Teig werden Kügelchen geformt, und in diese Kügelchen wickelt man Pflaumen- oder Aprikosenhälften, damit die Knödel hübsch klein sind. Mama würde sicher die Aprikose komplett hineinstecken, sogar mit Kern. Die Kugeln werden in heißem Wasser gekocht, bis sie nach oben steigen. Und dann kommen sie auf die Teller und werden mit zerlassener Butter übergossen, mit geriebenem Trockenquark und mit Puderzucker bestreut – und das ist alles. Mama würde die Butter einfach in Scheiben auf die Knödel legen, damit sie dort von selbst zerläuft. Oma trinkt dazu Sauermilch, die schmeckt mir aber nicht, das ist ja wie Joghurt mit Wasser.

„Wenn ihr keinen Gries habt, dann eben mit grobem Mehl,“ zuckt Oma mit den Schultern. „Das macht nichts, es darf nur nicht zu viel sein, sonst wird der Teig zäh.“ Bestimmt würde Papa gerne selber kochen, aber er hat jetzt viel um die Ohren, außerdem hält er solche Gerichte für Nachspeisen.

„Omi? Weißt du, dass du anfängst wie gedruckt zu reden, wenn du mir ein Rezept erklärst? Genau so macht es Mama, wenn sie mir etwas von Tieren oder Bäumen erzählt.“

„Da siehst du mal, Majda, das hat Alžbětka wohl von mir.“ Oma legt das Besteck ganz leise auf die Teller.

„Und was hat sie noch von dir? Ich denke, die Augen, Omi. Opa hat braune, aber Mama und du, ihr habt grüne. Und dann noch die Beine!“

„Die Beine?!“ quietscht Oma. „Die arme Bětka, bloß gut, dass sie das nicht gehört hat!“ Papa muss auch lachen. Zum ersten Mal in diesem Monat, und da haben wir schon Ende September.

* * *

Im Herbst, im September und Oktober, ist es im Wald am schönsten, das ist die richtige Waldzeit. Weil die Pilze wachsen. Ich liebe es, Pilze zu suchen, also vor allem das Finden und Einsammeln der Pilze. Nur essen mag ich sie nicht, sie sind glitschig und schleimig. Mich fasziniert, dass so ein Pilz weder Pflanze noch Lebewesen ist, sondern dass er eher von jedem etwas hat, er ist eigenartig und einzigartig. Mir gefallen Dinge, die nichts anderem ähneln und dadurch etwas trotzig und bockig sind. Außerdem gefallen mir Pilze einfach darum, wie sie aussehen, wie sie duften, woraus sie gemacht sind, was für ein geheimnisvolles Material das ist. Einige Pilzarten sind wie Stückchen alter Schaumstoffmatratzen. Andere sind wie aus Papier. Wieder andere sind zäh wie zerquetschter Reifengummi. Manche haben so hauchdünne Füße, dass sie kaum ihren Hut halten können. Und fast alle haben herrliche Farben: als ob sich jemand Verzierungen für den Wald ausgedacht hätte, es sind die reinsten Waldschmuckstücke. Der Fliegenpilz zum Beispiel. Oder lila Pilze wie der Violette Lacktrichterling. Es gibt auch einen vollkommen türkisfarbenen Pilz: den blaugrünen Kupferkragen. Einen leuchtendgelben oder orangenen, einen grünen, und auch einen ganz weißen oder einen ganz schwarzen. In den tropischen Urwäldern sollen die Pilze in der Nacht sogar leuchten oder phosphoreszieren, meist grün in der Schattierung blassgrün. Aber dort bin ich nie gewesen. Wobei mir Mama versprochen hat, dass wir einmal zusammen dorthin fahren.

Mir gefällt es wahnsinnig, wie Mykologen die Pilze in den Pilzatlanten beschreiben. Einen solchen furchtbar dicken Atlas haben wir zu Hause, und sobald ich lesen gelernt hatte, war dieser Atlas mein allerliebstes Lieblingsbuch. Einige Pilze kenne ich auswendig und kann ihre Einträge aus dem Gedächtnis rezitieren. So die Böhmische Verpel: beliebter Frühjahrspilz mit runzelig-faltigem Hut, der im Unterschied zu den Morcheln nur aufgesteckt ist. Der Hut ist konisch, glocken- oder eiförmig, dünnfleischig, ockergelb oder olivbraun. Der Stiel ist an der Oberfläche flockig gestreift, innen kammerförmig hohl mit watteartiger Füllung. Das Fruchtfleisch ist wächsern mit an Camembert erinnerndem Duft. Und so weiter. Ein Gedicht. Sehr gerne zeichne ich die Pilze auch. In meinem Skizzenblock habe ich vierundzwanzig.

Am tollsten ist es natürlich, einen echten Steinpilz mit weißem Stiel zu finden, aber ich schätze beispielsweise auch Rotkappen oder Birkenpilze oder schöne samtige Maronen. Ganz zu schweigen von der Krausen Glucke, die ist phantastisch. Sieht aus wie ein Blumenkohl oder die Frisur unserer Direktorin.

 

* * *

Ich mag das Herbstlicht, das sich mit einem Mal in Dämmerung verwandelt. Die Sonnenstrahlen am späten Nachmittag, die wie gemalt aussehen und genau zwischen die Stämme zielen. Und dieses Hoffen, eine Abwurfstange zu finden! Eine Abwurfstange, also ein Geweih. Es ist nicht recht, Tiere wegen ihrer Geweihe zu töten. Das ist nur akzeptabel, wenn es um ihr Fleisch geht, und auch dann nur ausnahmsweise. Hirsche und Rehe für ihr Geweih zu töten, als Trophäe, ist für mich absolut dasselbe wie Nashörner und Elefanten wegen ihres Elfenbeins, ihrer Stoßzähne und Hörner umzubringen. Aber ich bringe keinen um. Ich suche nur, was das Tier von selbst abgeworfen hat. Und dafür brauche ich nicht unbedingt noch ihren Schädel.

„Du darfst im Wald nicht suchen. Sobald du suchst, findest du nichts. Das ist dasselbe, wie den Wald als Holzlieferanten zu betrachten. Er ist auch kein Geweihlieferant,“ lächelte Mama damals, als sie mir Tipps gab, wie ich es anstellen soll. Es war noch kalt, vergangenes Jahr Anfang März. Wir sind nachschauen gegangen, was der Bach Kluček macht und ob ein paar Vögel über den Winter dageblieben sind. Aber um ganz ehrlich zu sein, wollte ich dorthin, weil im Februar und März die Hirsche ihre Geweihe abwerfen. Ich weiß natürlich, dass bei uns im Wald nur Rehe sind, aber auch das ist nicht schlecht.

„Ja, aber die Rehböcke, Majnka, die werfen ihre Geweihe von Oktober bis Dezember ab, und die Dammhirsche im April,“ lachte mich Mama auf einmal unterwegs aus, obwohl ich ihr nichts gesagt hatte. „Und selten werfen sie beide Stangen gleichzeitig ab.“ Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte.

Als ich heute in der Schule war, hat sich Mama auf den Weg in die Stadt gemacht und brachte mir genau das Buch mit, das ich brauchte.

„Wir lesen es am Abend zusammen im Bett, was meinst du,“ lächelte mich Mama an, aber dann musste sie sich gleich hinlegen, und aus dem Lesen wurde nichts.

 

Aus dem Tschechischen von Jana Krötzsch