Jiří Padevět

Stacheln und Schlingen

2018 | Host

.Die meisten Geschichten

in diesem Buch spielen im Zwanzigsten Jahrhundert oder enden wenigstens dort, in diesem Jahrhundert der gebrochenen Charaktere, zerbrochenen Familien und Knochenbrüche. Fast alle haben einen wirklichen Kern oder zumindest wahrscheinliche Kulissen. Geschichten, wie sie sich zu tausenden ereignet haben …

.Sie spürte

das Brennen ihrer Wangen, versuchte vergebens nachzuzählen, wie viele Trinksprüche auf die Gesundheit des jungen Paares sie schon absolviert hatte. Neben ihr saß Alois und mühte sich, ein Stück Fleisch von der Gänsekeule abzusäbeln. Dann blickte er sich spitzbübisch um, mit genau dem Blick, mit dem er sie das erste Mal angeschaut hatte, griff nach der Keule und biss hinein. Sein Kinn glänzte vom Fett. Dann legte er seine Beute wieder ab und sah sich erneut um. Sie hielt es nicht mehr aus und lachte laut auf. Er drehte sich zu ihr und küsste sie mit seinem fettigen Mund. Während des Kusses gelang es ihm, unauffälig die fettige Hand an der weißen Tischdecke abzuwischen. So ein Schlingel. Ihre Freundin Vlasta erhob sich, schwankte leicht und trank den Neuvermählten zu. Marie versuchte zu erraten, ob die orange Flüssigkeit in ihrem Glas der Sanddornwein vom Herrn Pfarrer aus Vrbatův Kostelec war, den sie auf dem Rückweg aus der Kirche bekommen hatten. Falls er es war, hoffte sie, dass die Flasche nicht bis zu ihr weiterwandern würde. Schon jetzt hatte sie leichte Kopfschmerzen. Der kleine Jiří Sýkora schob einen Kinderwagen im Garten umher, aus dem sich hartnäckig seine kleine Schwester Miládka zu Wort meldete. Man sah, dass ihm das kein bisschen Spaß machte und da und dort riss er kleine Zweige von den Obstbäumen ab, unter denen er entlangschob. Die zuzzelte er immer eine Weile zwischen den Zähnen und warf sie dann ins Gras. Endlich war Miládka wohl eingeschlafen. Alois gab Marie noch einen Kuss und tauschte sie dann wieder gegen die Gänsekeule aus. Sein Vater Václav beobachtete die Jungvermählten lächeld. Dann schaute er auf seine Hände auf der weißen Tischdecke und legte seine Rechte auf die Hand seiner Frau. Jiří war endlich den Kinderwagen los und rannte mit den anderen Jungs um die lange Hochzeitstafel herum. Die Musikanten spielten auf und die Kinder beganne als erste zu tanzen. Brautmutter Františka beugte sich über den Tisch und nahm sich einen Apfel aus der Schüssel. Als sie ihn aufhob, flog aus einem Spalt zwischen den übrigen Äpfeln eine Wespe entgegen, summte gereizt und verschwand im Obstgarten. Irgendwie früh dran, dachte Františka und schnitt mit einem kleinen Messerchen ein Stückchen vom Fruchtfleisch ab. Einem der Jungen, Olda Dušek, war es endlich gelungen, eine der Frauen in der Küche zu überreden, ihm eine Scheibe Brot mit dunklem Honig zu bestreichen. Der Honig troff über die Rinde und schlich lief sich Olda aufs Handgelenkt. Er wolte den Honigfluss ablecken, kapierte dann aber zum Glück, dass er dazu die Hand umdrehen müsste und damit eine noch größere Katastrophe verursachen würde. Draußen wurde schon getanzt, das Glas mit dem Sanddornwein malte in der Sonne ein orangefarbenes Zeichen auf das Tischtuch und in der Küche duftete es nach Kraut.

Ležáky, Anfang Sommer 1940.

Vorsichtig

schob er sein Kinn unter der sicheren Bettdecke hervor. Er wusste selbst nicht, wie er das immer wieder hinbekam, das Federbett war doch viel länger als er. Trotzdem guckte an der einen Seite sein Kopf heraus und an der anderen die Füße. Er zappelte mit den Zehen, winke winke, und lächelte ihnen zu. Ein bisschen kalt war ihm da schon, an den Füßen. Zwar schien die Mittagssonne vor dem Fenster, aber auf dem Dach gegenüber lagen noch Reste von Schnee. Einer hatte die Form eines Nilpferds, ein anderer erinnerte ihn an Herrn Krause, den Drogisten eine Straße weiter. Sie hatten es einmal geschafft, dort an einem Tag eine Schachtel Streichhölzer und ein Fläschschen Petroleum zu kaufen. Das hatte schön gebrannnt, als sie dann im Park, hinter der künstlichen Grotte, in dem Teil, wo nicht einmal der Wächter hinging, einen Lumpen mit dem Petroleum begossen und angezündet hatten. Aber dann wwar er krank geworden, weshalb er schon lange nicht mehr beim Dorgisten oder im Park vorbeigekommen war. Doch wenn er Fieber hatte, reiste er in seinen Träumen oft nach Afrika, hatte einmal sogar einen schlafenden Löwen gestreicheln. Er strampelte sich frei und zog dicke Wollsocken, wie Tante Julie sie für die ganze Familie strickte, über die Zehen, die ihm vor eine Weile zugewunken hatten. Er hatte hellblaue, na, besser als die gelben, die seine Schwester erhalten hatte. Die sah er nie an ihr, wahrscheinlich hatte sie sie ganz tief in der Kommode vergraben. Er ging zum Fenster und stellte sich auf die Zehenspitzen, um hinauszusehen auf die Straße. Dort waren kaum Menschen, nur ein Mann mit aufgestelltem Kragen und Hut war eilig irgendwohin unterwegs und der Zeitungsverkäufer an der Ecke rief, gebeugt unter der Last der Ereignisse und Zeitungen, aus, was es Neues gab. Hier oben hörte man ihn nicht. Dann rannte eine Bande Jungs über die Straße und er kriegte Sehnsucht. Auch nach dem Park. Aber es hatte geheißen, da dürfe man nicht mehr hin, da war es am Ende vielleicht sogar gut, zu Hause zu sein. Wenn es ihm besser ging, zeichnete er, oder er spielte mit der Modelleisenbahn, die Vater ihm gekauft hatte. Vater war immer bis in die Nacht hinein in seinem Anwaltsbüro gewesen und hatte Menschen geholfen, ihr Leben zu bewältigen, aber jetzt arbeitet er nicht mehr dort. Jetzt war es besser, er kam immer am frühen Nachmittag nach Hause, zwar schmutzig vom Kohlenstaub und mit Rückenschmerzen, aber dafür konnte er mit ihm Eisenbahn spielen. Gestern hatten sie zusammen einen Zug gebaut, der so lang war, dass er in der Kurve entgleiste. Aber vielleicht nur weil die Weiche falsch gestellt war. Er öffnete die Tür und ging ins Wohnzimmer. Die Eisenbahn war am Boden aufgebaut, an der Stelle, wo früher das Klavier gestanden hatte. Vor seiner Krankheit hatte er darauf üben müssen. Hatte versucht mit seinen kleinen Fingern die Melodie zu treffen, was ihm jedoch nie besonders gut gelungen war. Den Drehhocker mochte er, aber das Klavier nicht besonders. Als die Möbelpacker es durch den Flur trugen, hatten sie eine Schramme in die Wand gemacht. Es machte ihm Spaß, langsam den Flur entlangzugehen und seinen Finger in diese Furche zu drücken. Der duftete dann nach Putz und war fast ganz weiß. Wenn er gesund geworden war, würde eigentlich alles besser sein. Er würde kein Klavier üben müssen, Vater würde früher nach Hause kommen und viel mehr mit ihm spielen. Vielleicht würde er bald rausgehen, an die Sonne. Er ging in die Küche und lächelte seiner Mutter zu, die am Küchentisch saß. Gerade hielt sie seinen Mantel in der Hand und nähte einen kleinen Stern aus gelbem Stoff darauf.

Praha, Maiselova ulice, September 1941.

.Hans klebt

das geborstene Fenster in der Krankenbaracke mit einem Stück Karton zu, auf dem ein Rest der Aufschrift Maggi zu lesen ist. Jacek und Vladimir schleppen den riesengroßen Topf, in dem gerade eben noch eine Haut im warmen Wasser schwamm, wohl von einem Schwein, dazu ein einsames Stückchen Steckrübe ganz unten am Grund. Jetzt ist der Topf leer und hinter der Baracke prügeln sich Kazimír und Samuel um das Hautstück. Völlig geräuschlos versucht einer dem anderen die Faust ins Gesicht zu setzen. Jeweils die rechte Faust, ihre linken Hände sind fest in das Hautstück verkrallt. Die Männer sind schwach, und so sieht ihre Rauferei eher aus wie ein verlangsamtes Ballett oder ein Film, den Jakob, der Filmvorführer, nicht richtig eingelegt hat. Der ganze Block schaut ihrer Prügelei zu, ebenfalls ohne Mucks. Als das nicht enden will, verliert der Kapo die Geduld und zieht den beiden Männern nacheinander mit dem Spatenstiel eins über. Da er gute Laune hat, kickt er die Haut zu Kazimír hinüber. Der greift sie sich und stopft sie unter seine Bluse. Samuel bleibt nach dem Schlag am Boden liegen und merkt eigentlich erst jetzt, dass es ein völlig wolkenloser Tag ist. Dann dreht er sich zur Seite, rollt sich zusammen und stellt sich vor, er sei krank und läge zu Hause in Łódż. Aus der Küche hört er ein Klappern, wie seine Mutter mit dem Teelöffel den Tee umrührt, damit sich der Honig ganz auflöst. Das ist lange her und weit weg. Auch seine Mutter ist hier durchgegangen. Als ihn der Kapo in die Nieren tritt, verschwinden Łódż und die Mutter in einer Wolke von Schmerzen, trotz des klaren Himmels. Mordechaj hat in der Tasche eines Mantels, der irgendwem gehört hat, der gestern angekommen und gestern auch gestorben ist, ein Stück Brot gefunden. Beim Sortieren der Sachen findet man so Manches. Es muss alles abgegeben werden, aber ein Stück Brot kann man gleich essen. Mordechaj hat die Hälfte gegessen, dann noch ein kleines Stückchen abgebrochen und es sich mit der Spucke auf der Zunge zergehen lassen. Und noch ein Stückchen, das so etwa eine halbe Stunde vorhielt. Dabei hat er aber weitersortiert, damit niemand etwas merkt. Aus dem Rest versucht er ein kleines Pferdchen zu kneten, , ohne zu wissen warum, es sieht aber eher aus wie ein dicker Hund. Den hört er auf einmal bellen, sieht ihn mit dem Schwanz wedeln. Er geht in seinem Heimatdorf am Zaun des Bürgermeisters entlang und der Hund, dick wie sein Herr, läuft mit und bellt. Mordechaj steckt die Hand zwischen den Zaunlatten durch und streichelt ihm den Kopf. Besser ein Hund als ein Pferd, was soll man mit einem Pferd, wenn man die Sachen der Toten sortiert. Ein Hund könnte vielleicht dabei helfen können, in den Taschen Essen zu finden.

Konzentrationslager Auschwitz, März 1942.

 

Er trat vors Tor

und überlegte einen Augenblick, ob er zurückgehen solle und den Regenschirm holen. Letzlich schritt er doch aus, durch den kleinen Park zum Straßenbahndepot, die Wolken hatten sich verzogen, zur Seite, und die Aprilsonne malte ihm seinen Schatten auf den Gehweg. Am Ende entschied er durch den Park zu gehen, nach Michle runter, und dort auf die Straßenbahn zu warten. Vorn im Park setzte er sich für ein Weilche auf eine Bank und legte seinen rechten Arm auf die Lehne. Da rollte plötzlich ein Lumpenfußball auf ihn zu und hinter einem Busch tauchten zwei Bubenköpfe auf. Der eine lachte, der andere zog eine Grimasse. Er bückte sich nach dem Ball und warf ihn den Jugen zu. Der mit der Grimasse kam aus dem Gebüsch und trat den Lumpenball bis in den Himmel. Er erhob sich von der Bank und setzte seinen Weg durch den Park fort. Der sanfte Abhang brachte ihn dazu in Laufschritt zu verfallen. Die Aktentasche schlug ihm gegen den Schenkel, und als er bei dem Laubengang ankam, hielt er wieder ein Weilchen an. Der Briefträger mit seiner Tasche kam vorbei und grüßte. Er erwiderte den Gruß und lief wieder los. Erst unten vor dem Wirtshaus blieb er endlich stehen. Er betrat den Schankraum und bestellte sich ein Bier. Der Rauch aus der Pfeife eines alten Mannes, der in einer Ecke saß und wohl seinen Tee trank, stach ihm in die Augen. Der Alte nickte pausenlos mit dem Kopf, auf und ab, es sah so aus, als brumme er etwas vor sich hin, eine Melodie. Der Mann stellte den Halbliter auf das Thekenblech, legte eine Münze dazu und trat hinaus auf den Gehweg. Gerade hielt eine Straßenbahn an der Verkehrsinsel. Er ging schneller und half einer alten Frau die Stufen zur Bahn zu erklimmen. Dann reichte er ihr eine Tasche mit Äpfeln an und sprang selbst hinauf. Die beiden setzten sich und die Frau schenkte ihm zwei Äpfel. Er lächelte ihr zu und steckte den einen in die Aktentasche. Den anderen rieb er am Revers seines Sakkos blank und biss dann hinein. Saft lief ihm über die Hand, und troff, noch bevor er sie noch ausstrecken konnte, auch auf die Hemdmanschette. Er biss noch einmal zu, um die Hände frei zu haben, und versuchte den Fleck mit den Finger zu verreiben. Dann entdeckte er auf der Manschette noch einen zweiten Fleck. Er würde bei der Arbeit die Ärmel hochkrempeln müssen oder ein altes Hemnd nehmen. Robert Týfa, der Gehilfe des Prager Henkers, überlegte, ob er den Blutspritzer abbekommen hatte, als das Messer der Guillotine herabsauste, oder ob er sich beschmiert hatte, als er mit dem Kopf zugange war. Ab sofort würde er immer ein altes Hemd in seiner Aktentasche haben.

Prag, Pankrác, April 1943

 

Sie war sich nicht sicher,

ob das frühe Morgenlicht sie aus dem Schlaf geholt hatte oder der fremde Mann. Mit einem Ruck setzte sie sich im Bett auf und wischte die träumerische Hand von ihrem Schenkel. Sie spürte noch deren feuchte Wärme. So langsam dämmerte es ihr, dass Morgen war, dass es hinter den Fenstern des Bauernhofes tagte, dass Hans länger weg geblieben war, als er versprochen hatte. Sie stieg aus dem Bett, ging in den Saal und schöpfte mit der hohlen Hand Wasser aus dem Bottich. Es lief ihr über das Gesicht, den Hals und dann den Köprer. Gestern vormittag war Konrad aus dem Nachbardorf gekommen und hatte eine Weile mit Hans gesprochen. Der hatte dann das Gewehr geholt, das er vor zwei Wochen gefasst hatte, hatte den Patronengurt um seinen alten Wintermantel mit den tiefen Taschen geschnallt und sich die Armbinde auf den Ärmel geschoben. Sie hatte ihm gerade noch ein Stück Speck und eine ordentliche Scheibe Brot abschneiden können. Als sie sah, wie Konrad das Essen anschaute, hatte sie auch ihm noch etwas abgeschnitten, aber weniger. Hans hatte sein Essen in den Brotbeutel getan, Konrad hatte es sich unter die alte Lederjoppe gesteckt. Auch er trug seinen Gurt. Die beiden Männer hatten ihr versichtert, sie würden zur Nacht zu Hause sein. Waren sie aber nicht. Sie hatte am Fenster gestanden, von wo aus man die Straße zum Nachbardorf, die sie gegangen waren, am besten sehen konnte. Gegen Morgen war sie eingeschlafen. Sie waren immer noch nicht zu Hause. Weder Hans, noch Konrad. Sie zog sich an und fütterte die Tiere. Dann ging sie hinaus in den Obstgarten. Bald würden Bäume ausschlagen. Sie streichelte einen Apfelbaum und wandet sich wieder zum Weg um. Niemand. Sie aß den Rest Brot und gönnte sich noch ein ganz kleines Stückchen Speck. Wieder blickte sie zum Weg hinaus. Nichts, niemand. Eine zeitlang hackte sie im Schuppen Holz, musste aber die gnaze Zeit an Hans denken. Er hätte doch längst zurück sein müssen. Sie schlug die Klinge in den Hauklotz, warf sich in der Stube das Wolltuch über und ging los, den Weg, den sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Hinter ihrem Hof ging es bergauf in den Wald. Tausendmal war sie hier schon entlang gegangen, aber noch nie war es so dringend gewesen. Ab und zu knirschte ein Steinchen unter ihrem Schritt, dann blieb sie stehen und hob einen Stein auf. Einen Kiesel mit einer weißen Ader. Sie steckte ihn in die Tasche und ging weiter bergauf. Nach dem Anstieg schmiegte sich der Weg an den Hang und wand sich hinunter zu den Weiden und dem nächsten Dorf. Konrad kam um die Kurve, er trug das Gewehr über der Schulter und hielt einen Knüppel in der Hand. Hinter ihm eine Kolonne von Frauen. Sie waren in Lumpen gekleidet und jede zweite hatte Schorf, oder was das war, auf dem geschorenen Kopf. Einige waren barfuß. Neben dem Zug liefen ein Soldat und ein Junge in den kurzen Hosen der Hitlergugend herum. An seinem Hals schaukelte ein Maschinengewehr. Zum Ende hin franste die Menschenlange aus, eine der Frauen war auf den Weg gestürzt. Endlich sah sie Hans. Er hob einen schweren Knüppel und schlug damit mehrmals der Frau auf den Kopf. Seine Volkssturm-Armbinde zeichnete rote Linien in die Luft. Sie drehte sich um und bog ab in den Wald. Nie wieder würde sie sich um ihn Sorgen machen.

Böhmerwald, April 1945.

 

.Durch einen Spalt

zwischen zwei Brettern sickerte Licht herein. So lag sie immer in der Scheune auf dem Balken unter dem Dach, ein bisschen erschrocken von dem Abgrund unter ihr. Durch denselben Spalt beobachtete sie den Hof, den Vater, wie er mit dem Knecht das Heu vom Wagen ablud, die Mutter, wie sie versuchte einer Gans das wohl zehnte Klößchen in den Hals zu stopfen. Die Scheune duftete nach Heu und dem Holz des Dachstuhls und der Wände. Als sie Öffnung zwischen den Brettern größer machen wollte, indem sie einen Splitter abbrach, rammmte sie ihn sich unter den Fingernagel. Der Schmerz schüttelte sie so, dass sie fast von ihrem Balken gefallen wäre. Vorsichtig kroch sie zur Leiter und stieg hinunter. Gerade öffnete der Knecht das Scheunentor und sah im Licht, das hereindrang, viel größer aus als er war. Sie zog ihren Rock bis zum Knie hinunter und klopfte sich das Heu ab, ging an ihm vorbei und blinzelte ins Licht. Dann lief sie zu ihrer Mutter, den Tränen nahe, und zeigte ihr den Finger. Der Splitter unter dem Nagel färbte sich blutig. Die Gans reckte neugierig den Hals. Die Mutter lachte, griff aber dabei mit der Linken fest ihre Hand und zog mit der Rechten den Splitter heraus. Endlich löste sich Schmerz in Tränen auf. Die Mutter nahm sie bei der anderen Hand und brachte sie in die Stube. Der Kater sprang vom Ofen und leckte drei Bltustropfen vom Boden auf. In der Kredenz stand Vaters Flasche mit Birnengeist, der würde jetzt als Desinfektionsmittel dienen. Es brannte und duftete zugleich nach Birnen. Die Mutter trank ein Schlückchen und lachte noch einmal. Sie zog ein Taschentuch aus der Schürze und wischte ihr das Gesicht ab. Der Finger hatte praktisch aufgehört zu bluten und der Kater kehrte enttäuscht auf den Ofen zurück. Sie hatte Lust, wieder in die Schueune zu gehen und das Loch zwischen den Brettern zu ihrem privaten Kino zu machen. Im Kino war sie nur einmal gewesen, mit Vater und Mutter. Als sie auf die Veranda trat, kam der Hund angerannt. Sie kraulte ihn mit der linken Hand und Verbarg die rechte lieber hinter dem Rücken. Dann ging sie zur Scheune zurück und kletterte die Leiter hinauf. Sie hatte das Gefühl, der Spalt sei wirklich größer, es war den Schmerz wert gewesen. Auf einmal war sie unendlich müde. Nicht einmal die Hand konnte sie mehr heben. Nicht einmal den toten Körper konnte sie wegschieben, der sich da an sie drückte. Durch den Spalt sah sie die Landschaft vorbeilaufen, eben waren sie an einem blühenden Obstgarten vorbeigefahren. Vielleicht blühten dort die Birnbäume. Die Erinnerung war futsch. Es war heiß im Waggon, der Atem Dutzender Frauen verband sich in das Röcheln eines einzigen Geschöpfs. Die Toten waren ganz still. Durch diesen Spalt konnte sie ein bisschen atmen, das war den Splitter unter dem Fingernagel wert. Sie leckte sich den blutetenden Finger.

Eisenbahnstrecke nahe Lovosice, Anfang Mai 1945

 

Claudiu

zog sich die Schuhe aus und dann die Strümpfe, die von undefinierbarer Farbe waren. Er knöpfte seine Leutnants-Uniform der königlich rumänischen Armee auf und setzte sich auf den Stuhl. Dann konnte er nicht widerstehen und legte die Füße auf den Tisch. Die Nägel mussten Geschnitten werden. Er musste sich waschen und rasieren. Gestern vormittag war noch geschossen worden, die Wehrmacht wollte nicht aus Kroměříž weichen, aber am Ende hatten sie sie verdrängt. Seine Männer hatten eine leere Schule gefunden, wo sie sich einquartierten, und machten Feuer auf dem Hof. Die Offiziere und er nahmen nahmen die Villa gegenüber auf der anderen Straßenseite in Beschlag. Er betrachtete seine Füße. Es sah so aus, als ob der Krieg wirklich zu Ende war oder bald enden würde. Ein leeres Fuhrwerk fuhr die Straße entlang. Die Soldaten riefen dem Mann auf dem Kutschbock etwas zu, der drehte sich nicht einmal um. Hätte er etwas geladen gehabt, hätten sie ihn angehalten. Furchtbar viele von seinen Männern waren unterwegs gefallen. Einige hatten sie nicht einmal begraben können. Sie hatten Deutsche und Ungarn getötet, und die wiederum sie. Hier, in dieser Stadt mit dem unaussprechbaren Namen hatten sie auch ein paar Deutsche erschlagen. Kaum war die Schießerei vorbei, hatten die Einheimischen begonnen, ihnen Essen und Trinken zu bringen. Auf dem Tisch stand eine Flasche Schnaps, daneben lagen ein Laib Brot, ein Stück Rauchfleisch, ein großes Glas mit eingelegten Gurken und ein kleineres mit Kirschkompott. Er beugte sich auf dem Stuhl vor und versuchte, einmal durchs Gurkenglas, dann durch die Kirschen und dann durch den Schnaps hindurch die Sonne draußen vor dem Fenster zu betrachten. Er überlegte ob es wohl Sauerkirschen waren ,das Glas wirkte irgendwie sauer. Ein Klopfen erklang, er drehte den Kopf. Zur Tür herein kam eine ältere Frau mit Schultertuch, die eine Bratpfanne trug. Sie sagte etwas in einer Sprache, die er kein bisschen nicht verstand, und stellte die Pfanne auf den Tisch. Eine gebratene Ente glänzte von Fett und ein bisschen auch vor Scham. Die Frau sagte noch etwas und ging dann. Claudiu stellt die Füße auf den Boden und durchbohrte den Vogelkörper mit dem Messer. Er biss in das Fleisch, das Fett troff ihm aufs Hemd. Er schnitt sich etwas vom Brot ab und griff in das Glas nach einer Gurke. Dann schnupperte er an seinen Fingern. Ein wenig Ente, ein wenig Gurken. Er ging mit dem Gelfügelkeule zum Fenster, der Teppich kitzelte ihn an den Füßen. Der Krieg war wohl wirklich vorbei. Vor der Schule versuchte einer seiner Männer Fahrrad zu fahren, hatte aber schon zweimal das Gleichgewicht verloren und sich am Boden gewälzt. Ein zweiter lockte mit einem fettigen Stück Papier einen Hund. Der Hund musterte ihn eine Weile und rannte dann weg. Aus einem Fenster im ersten Stock zog ein trauriges Lied auf die Straße hinaus. Zum Abschluss aß er etwas Brot nach und entkorkte den Schnaps, der nach Aprikosen und Sommer duftete. Die Kirschen würde er sich heute nicht mehr genehmigen. Wieder klappte die Tür, und wieder kam die Frau herein. Wieder eine Pfanne, diesmal eher ein Blech. Ein Kuchen, wahrscheinlich mit Mohn. Wieder sagte sie etwas, was er nicht verstand, aber diesmal versuchte er wenigstens zu danken. Zur Sicherheit auf Rumänisch und auf Deutsch. Der Tisch war schon fast voll. In dieser Stadt würden sie die Feldküche und die Gespanne voller Kartoffeln und Rüben wohl gar nicht brauchen. So viel zu Essen. Ein Mann stand in der Tür und knetete seinen Hut in der Hand. Mit der anderen gab er ihm eine weitere Flasche Schnaps. Claudiu lachte und zeigte auf seine Flasche. Der Mann schüttelte den Kopf, zog zwei Gläschen aus seinem Jackett und entkorkte die seine mit den Zähnen. Er goß die Flüssigkeit in die Gläschen und zwischen dem Duft der Ente und der Gurkensäure drängte der Duft von Getreide in den Raum. Claudiu streckte sich nach dem hingehaltenen Gläschen und stieß mit dem Mann an. Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass der Soldat draußen wieder vom Rad gefallen war. Der Schnaps schoss ihm bis in den Magen und Claudiu atmete scharf aus. Er war großartig. Der Mann trank sein Glas aus und stellte die Flasche auf den Tisch. Und verschwand mit einer winzigen Verbeugung. Claudiu schaute auf diesen Berg von Proviant, dann griff er in die Jackentasche und holte eine Zigarette heraus. Eine deutsche. Er zündete sie an, spuckte auf das Streichholz und warf es in das leere Gläschen. Soviel zu Essen und zu Trinken hatten sie zuletzt wohl im Oktober vor drei Jahren gehabt, als sie in Odessa den Befehl bekommen hatten, alle Juden abzuschlachten.

Kroměříž, Mai 1945.

 

.Ein kurzer

Halt, einige Panzer müssen ihre Tanks auffüllen. Die Zisternenwagen werden sie in ein paar Minuten einholen. Der Leutnant lehnt sich mit Kopf und Rücken gegen den Turm seines Panzers und ist so müde, dass er nicht einmal weiß, ob der Stahl wärmt oder kühlt. Mit den Händen kann er den Ast eines Baumes mit weißen Blüten greifen, er tippt auf Süßkirsche. Schade, dass es nicht einen Monat später ist. Fahrer Ilja liegt neben ihm und zündet sich seine Papirossa an der vorigen an. Oft hat er schon überlegt, wo der bei seinem Verbrauch dauernd die Rauchware hernimmt. Die aufgehende Sonne kitzelt im Gesicht und die Vögel schreien in den Bäumen und Sträuchern, als ginge es um ihr Leben. Kolja vom Panzer hinter ihnen ritzt mit seinem Bajonett seinen Namen in den Baum. Dieses deutsche Bajonett hat er seit der Oder dabei, als Talisman. Zuletzt hat er damit seinen Nemen in die Wand irgendsoeiner Kirche in Dresden eingeritzt. Eine der wenigen Wände, die von der Kirche übrig waren. Nikolaj, sein Befehlshaber, steht neben ihm und erklärt ihm irgendwas. Im Lärm der Vögel ist er nicht zu hören. Der Leutnant versucht in die aufgehende Sonne zu blinzeln und denkt an warmes Essen. Vielleicht am Ende der Straße. Dann sieht er sich richtig um und begreift, dass die Panzer in einem Garten oder Park stehen. Blühende Bäume gibt es hier reihenweise, dahinter Gewächshäuser. Dann irgendein Gebäude. Der Leutnant war vom Kasten seines Panzers gesprungen und machte sich auf den Weg zu den Glashäusern. Unterwegs trat er mit dem Stiefel in den Kies auf dem Pfad, schaute in die Baumkronen und bedauerte, dass sie erst blühten. Er hatte Lust auf Obst. Die Glashäusern reflektierten das Sonnenlicht. Er hörte Vögel, aber auch Automotoren. Er drehte sich um. Die Zisternenwagen kamen näher. Er musste sich beeilen. Da hörte er durch den Lärm der Vögel ein Mädchen schreien. Er konnte in das Glashaus nicht hineinsehen, weil die Sonne auf dessen Seite schien. Aber das Geschrei kam sicher von dort. Er öffnete die Türe, in der sich die das Licht brach und ihm in die Augen stach. Dann schlug ihm ein weiterer Aufschrei entgegen, und Weinen. Endlich begannen seine Augen normal zu funktionieren. Das erste, was er sah, waren ein haariger nackter Po und heruntergelassene Militärhosen. Und weiter unten Stiefel. Der Po bewegte sich schnell, je mehr desto schneller. Das Mädchen, von dem nur die Beine in blauen Kniestrümpfen und ein Schuh zu sehen waren, schrie nur noch. Dann brüllte auch der Soldat auf und sein Hintern hörte auf sich zu bewegen. Danach passierten rasch mehrere Dinge gleichzeitig. Der Leutnant packte den Soldaten mit einer Hand am Kragen, mit der zweiten am Arm und schleuderte ihn gegen die Wand des Gewächshauses. Der Soldat verhedderte sich in seinen heruntergelassenen Hosen und schlug mit dem Kopf durch die Glaswand. Der Leutnat kapierte erst jetzt, dass es Grigorij war, vom Panzer Nr. 25. Das Mädchen hörte auf zu schreien und drehte sich auf die Seite. Tränen liefen ihr übers Gesicht und über ihre Schenkel floss Blut. Beides tropfte über die Tischkante auf den Boden. Überall um sie herum standen kleine Pflanztöpfe mit Blumen. Einige waren zerbrochen. Sie hatte sicher Schnitte im Rücken. Der Leutnant versuchte ihren Rock über die Hüften herabzuziehen, aber das Mädchen zuckte zusammen und begann zu wimmern. Er drehte sich zu dem Soldaten um, der auf dem Boden lag und aus Wunden im Gesicht blutete, packte ihn am Arm und stellte ihn auf die Füße. Der leistete keinerlei Widerstand. Er versuchte nicht einmal sich die Hosen hochzuziehen, blutete nur still vor sich hin und hielt die Augen lieber geschlossen. Der Leutnant schob ihn aus dem Glashaus. Das Mädchen begann wieder zu wimmern. Der Leutnant ging zurück und warf seine Soldatenjacke über sie. Dann bemerkte er an der Wand des Glashauses, die das Gesicht des Soldaten durchschlagen hatte, einen Busch mit kleinen Tomaten. Sie waren noch nicht ganz rot, aber eine riss er ab und kostete sie. Besser als nichts. Er ging zu dem Soldaten zurück, der inzwischen versuchte, seine Hose hochzuziehen. Er hatte es fast geschafft. Der Leutnant zog die Pistole aus dem Halfter und schaute sie eine Weile an. Dann steckte er sie wieder weg. Sollte ihn doch sein Befehlshaber erschießen. Die Zisternenfahrzeuge waren mit dem Tanken fertig. Er packte den Soldaten am Arm und brachte ihn zurück zu den Panzern. Er steckte sich das letzte Stückchen Tomate in den Mund. Er hätte sich noch eine pflücken sollen. Die Panzermotoren übertönten die Vögel. Und auch die Sonne. Er übergab den Soldaten seinem Befehlshaber. Der überlegte nicht einmal. Der Schuss war kaum zu hören. Leutnant Gončarenko kletterte auf den Panzer Nr. 24 und schob sich in den Turm hinein. Die Panzer ruckten einer nach dem anderen an und setzten sich dann in Bewegung Richtung Prag.

Veltrusy, 9. Mai 1945 morgens

 

Aus dem Tschechischen von Kathrin Janka