Miroslav Pech

Cobains Schüler

2017 | Argo
Ich bin John

Unsere Stadt hat ungefähr dreieinhalb Tausend Einwohner. Die meisten davon arbeiten in Fabriken, und zwar im Dreischichtbetrieb. Auch mein Papa. Mama nicht. Die hat in der Buchhaltung aufgehört, und jetzt hat sie ein Zoogeschäft. Da gibt es Hamster, Meerschweinchen, Wanderratten, Rennmäuse, Springmäuse, Schlangen, Wasserschildkröten, Landschildkröten, Vogelspinnen, Fische, Papageie und Wellensittiche. Außerdem verkauft sie dort auch Granulat-Säcke für Kaninchen, Katzen und Hunde. Auch Halsbänder und Leinen. Und Körner. Ich hoffe, dass ich nie im Deischichtbetrieb arbeiten werden muss. Wenn Papa Nachschicht hat, ist er nicht ansprechbar. Wenn Papa nicht in der Arbeit ist, sitzt er vor dem Fernseher. Wenn es kein Fernsehen gäbe, wäre das Leben von ganz vielen Menschen total leer. Aber ich brauche kein Fernsehen mehr. Ich hab die Beatles.

In unserer Stadt gibt es fünfzehn Kneipen, ein Hotel mit einem Fitnesscenter, acht Vietnamesenläden, einen Juwelier, ein Geschäft mit Textilien und Schuhen, zwei Fleischereien, eine Konditorei, eine Buchhandlung wo man sich auch Videos ausleihen kann, eine Bibliothek, eine Kirche und zwei Bordelle. Die Stadt durchlebt goldene Zeiten. Mama sagt, dass jede Menge Österreicher im Zoogeschäft einkaufen, was gut ist. Nach der Schule werd ich bei Mama arbeiten. Da werd ich nicht in den Dreischichtbetrieb gehen müssen und ganz sicher ansprechbar sein.

 

In der Schublade finde ich eine runde Sonnenbrille. Eine Lennon-Brille. Ich habe wirklich großes Pech, dass ich solche Adleraugen habe. Denn wegen denen bekomm ich keine optische Brille. Also drück ich das schwarze Glas aus der Lennon-Brille und setze mir die Fassung auf. Meine Haare sind vierzehn Zentimeter lang. Ich schau in den Spiegel und blinzle ein bisschen. Ich forme meine Augen zu so Schlitzen, wie John Lennon sie hat.

Dann geh ich raus und zeig mich der Öffentlichkeit.

In unserer Schule ist John Lennon nie gewesen. Die Leute kommen zu mir in die Klasse und wollen mich anschauen. Meine Mitschüler können ihre Augen nicht von mir losreißen. Sogar die Lehrerinnen kommen mich anschauen, und in der großen Pause kommt der Herr Direktor.

Ich sitz in der Bank, und mit meinen dünnen Fingern zeig ich allen das V. Jetzt bin ich ein Hippie, und ein Hippie ist dazu berufen, das V in alle Himmelsrichtungen zu zeigen und Frieden zu verkünden.

Und genau das mache ich.

Jedem, der mich anschaut, der an mir vorbeigeht, oder der mich auch nur ein bisschen mit dem Blick streift, zeig ich das V und sage:

Peace Bruder

Peace Schwester

Peace Brüder und Schwestern

Peace Frau Lehrerin

Alle lachen darüber. Ich bin berühmt, und weil ich Celebrities schon immer geliebt habe, tut mir das gut. Die rosa Kumpelin nennt mich John. Und bald sagen alle John zu mir.

 

Es freut mich, als ich bemerke, dass meine Augenbrauen zusammenwachsen. John Lennon hatte das auch. Meine krumme Nase hab ich nie gemocht, aber seit ich weiß, dass auch John Lennon eine krumme Nase hatte, macht mir das nichts mehr.

Mit meiner Zahnspange ist es schlimmer. Ich hab eine festsitzende. Ich lieg mit verrenktem Kiefer im Sessel, und die Zahnärztin zieht mir mit einem Schraubenschlüssel die Muttern nach. Das passiert jeden Monat. Danach fahren wir einkaufen zum Penny Markt.

„Erledigen wir gleich alles auf einmal, wenn wir schon da sind“, sagt Mama.

Mit einem Kofferraum voller Essen fahren wir dann nach Hause, und ich muss leiden. Ich werde nichts davon wirklich essen können, weil ich nachgezogene Drähte habe, die mir die Zähne auseinanderziehen, und das tut weh. Ich kann nichts kauen und eine Woche lang ess ich gerade mal Suppen und Grießbrei.

„Jetzt musst du leiden“, sagt Papa, „aber später wirst du schöne Zähne haben, und dann wirst du froh darüber sein.“

Mama hat mir einmal verraten, dass ich mit ungefähr zwei Jahren eine Kopfverletzung hatte. Ich bin vom Sessel gefallen und habe einen Bluterguss am Scheitel bekommen. Die Ärzte wollten mich operieren. Und als es schon so weit war, ging der Bluterguss wieder zurück. Das war ein Phänomen, das niemand begriffen hat, niemand konnte sich das erklären. Der Bluterguss wurde immer kleiner und alle Spezialisten schüttelten den Kopf. Er verschwand direkt vor ihren Augen, bis überhaupt nichts mehr zu sehen war. Die Ärzte verkündeten, dass ich ohne Bluterguss nicht mehr interessant sei. Sie meinten zu meinen Eltern, dass sie mich wieder nach Hause holen sollen, was sie dann auch machten. Mama vermutet, dass diese Kopfverletzung für meine schiefen Zähne verantwortlich ist, weil meine Zähne nicht wie die der Anderen sind. Vielleicht wäre es für mich leichter gewesen, wenn ich mal wo gelesen hätte, dass auch John Lennon eine Zahnspange getragen hatte. Aber John Lennon musste keine tragen, er hat keinen Schlag auf den Kopf erlebt, so wie ich, und wurde nicht schon im vorpubertären Alter zu einer Missgeburt.

 

Ich gründe die Beatles

Mit meiner Begeisterung für die Beatles stecke ich ein paar andere aus der Klasse an. Die Magnettafel schreiben wir dann mit Schlüsselwörtern voll, zum Beispiel:

Give Piece A Chance

Al You Need Is Love

A Day In the Life

Strawbery Fields Forever und Ähnliches.

Die Magnettafel wird sofort zu einer ähnlichen Attraktion wie auch ich. Am nächsten Tag gründe ich die Beatles. Ein Fan von Schiffen, Zügen und von Adolf Hitler, der an Ohrenentzündungen leidet, und dem immer gelber Saft aus dem Ohr herausrinnt, ist George.

„Sig hail!“

„Dschordsch überkommt es schon wieder.“

Ich versuche, George davon zu überzeugen, dass der echte Harrison kein Nazi war, sondern ein Anhänger der Hare-Krishna-Bewegung. Ich bring ihm sogar das Krishna-Mantra bei. George hört mir zu, und gelbes Eiter rinnt ihm übers Gesicht.

„Verstehst du jetzt?“

„Sig hail, Hare Krishna!“

Kartoffel wird zu Ringo ernannt. Er hat die meisten Kassetten und CDs mit Musik von den Beatles.

Paul ist ein Computerprofi mit blondem Afro. Er spielt als einziger von uns ein Instrument, und zwar Piano. Paul kann Let It Be spielen, und seine Eltern haben die LP Abbey Road. Wie in Trance hören wir Come Together, I Want You, Here Comes The Sun, Octopus Garden und noch mehr. Das einzige, was mir nicht recht passt, ist Pauls Haarfarbe. Er hat sogar selbst zugegeben, dass die blonden lockigen Haare nicht so gut passen, und sie sich schwarz färben lassen. Jetzt kommen die Leute aus der Schule nicht nur mich und die Magnettafel anschauen, sondern auch Paul.

Sie nennen ihn Bubo.

 

Auf dem betonierten Sportplatz neben der Schule steht ein Pingpong-Tisch. Binnen kurzer Zeit wird er zu einem Kult-Ort. Alle fangen an, Pingpong zu spielen. Ich sitze auf einer Bank und schaue mir durch das leere Lennon-Brillengestell ein spannendes Vierer an.

„Servus, kleiner Lennon!“

„Peace, Bruder!“, grüße ich meinen gelben Kumpel.

Er setzt sich neben mich und beginnt, an einem riesigen Schorf auf seinem Unterarm herumzukratzen.

„Spielst du Pingpong?“, fragt er.

„Nein.“

„Und hast ‘nen Schläger?“

„Ja.“

„Ich nicht.“

„Aha.“

Der gelbe Kumpel verstummt für eine Weile. Er zeigt mir den abgeschälten Schorf.

„Schau mal.“

„Wahnsinn.“

„Ich hab gehört, dass du ‘ne Gitarre suchst“, sagt er.

„Ja, das stimmt.“

„Meine Schwester hat eine.“

„Ich hab keine. Aber ich such eine.“

„Und ich brauch ‘nen Schläger fürs Pingpong.“

Wir einigen uns auf ein Tauschgeschäft. Noch am selben Abend läutet der gelbe Kumpel bei mir an und bringt mir die Gitarre vorbei. Dafür bekommt er den Schläger.

 

Allmählich hört alles auf zu existieren

In den USA wüten Terroristen und fliegen mit Flugzeugen in amerikanische Handelszentren. Ich schau mir ein Benefizkonzert an, das in Gedenken an die Verstorbenen veranstaltet wird, aber es ist langweilig. Zumindest den Auftritt von Mick Jagger und Keith Richards koste ich aus. Mick bewegt sich wie eine Marionette.

 

Mit einer Gitarre ist das Leben vollkommen anders.

Ich fange an, eigene Lieder zu schreiben. Vor allen auf der oberen und unteren Saite.

 

Vor kurzem hab ich erfahren, dass George Harrison gestorben ist. Der echte. Daraus entstand ein Song, den ich ihm gewidmet hab.

Die übrigen Beatles haben ein weiteres Mitglied verloren. Der Krebs hat es ihnen weggenommen. Es war komisch, zu erfahren, dass ein paar Jahre vor Harrisons Tod auch auf ihn, ähnlich wie auf John Lennon, ein Attentat verübt wurde. George ging durch seinen Garten, als ein geisteskranker Kerl aus dem Gebüsch sprang und einige Male mit einem Messer auf ihn einstach. Angeblich schaute George zu, wie der Mörder zu ihm lief, und bewegte sich überhaupt nicht. Er wartete, bis er mit dem Messer auf ihn losging, und um sich die Zeit zu vertreiben sang er das Hare Krishna. Also hab ich einen Song für Harrison geschrieben. Ich freue mich darüber. Aber es stimmt, dass es eher um so eine traurige Freude geht, weil das Lied nie entstanden wär, wenn es Harrisons Tod nicht gegeben hätte.

 

Am Hauptplatz treff ich die Schwester vom gelben Kumpel.

„Angeblich hast du ‘ne neue Gitarre.“

„Stimmt.“

„Dieses Arschloch hat sie mir einfach geklaut.“

„Ich hab ihm den Pingpongschläger dafür gegeben.“

„Das hab ich schon herausgefunden.“

Die Schwester vom gelben Kumpel hat große Brüste und ein kleines T-Shirt.

„Das tut mir leid. Ich hab nicht gewusst, dass die Gitarre dir gehört.“

„Ist egal. Ich hab sowieso nicht darauf gespielt.“

Im Laufe des Tages schau ich bei der Schule vorbei. Der gelbe Kumpel sitzt auf einer Bank und schaut seiner Schwester zu, wie sie Pingpong spielt. Sie spielt mit meinem ehemaligen Schläger.

 

Ich bin im Gitarrenklub. Unser Physiklehrer leitet ihn, und er findet in der Werkstatt unserer Schule statt. Der Physiklehrer hat eine Glatze und ganz kurz geschnittene rote Haare rund um die Ohren. Er trägt eine Brille, hat eine kleine Nase und eine Hasenscharte. Wegen seinem kleinen fettigen Doppelkinn sieht er aus wie ein Frosch. Er kann kein r sagen und spricht es aus wie ein w.

„Jetzt pwobiert mal nach miw zu spielen.“

„Ich komm nicht mit, Herr Lehrer. Sie spielen zu schnell.“

„Tut miw leid. Ich machs langsamer.“

Im Gitarrenklub lerne ich die Grundlagen des Rhythmus und die Akkorde E und G.

Ansonsten ist es hier aber peinlich und ich hab nicht vor, mehrmals zu kommen.

 

Meine Cousine gibt mir Nachhilfe in Mathe, damit ich nicht durchfalle. Gerade paukt sie mir Textaufgaben ein, da fällt mir ein gelbes Liederbuch in einem ihrer Regale auf.

„Ich hab gar nicht gewusst, dass du auch was spielst.“

„Aber ich spiel nichts. Das Buch liegt hier einfach so.“

„Und borgst dus mir?“

„Ok. Aber du darfst nichts damit machen.“

„Ich werde es lesen.“

„Na gut.“

 

Sobald ich zu Hause bin, stürze ich mich auf meine Gitarre und öffne das gelbe Liederbuch. Zwischen allem möglichen Unsinn ist auch Yesterday. Leider kann ich nur zwei Akkorde, und in Yesterday gibt es so viele wie Sand am Meer. Macht nix. Das ist sowieso Scheiße. Wär da bloß Help. Help ist echt spitze. Help ist Raserei, Manifest, Slogan; Help ist ein Aufschrei. Doch Help gibt es im gelben Liederbuch nicht. Dafür gibt es Adresát neznámý, Adressat unbekannt, von Karel Gott. Ich muss keine Lieder lernen. Das gelbe Liederbuch werde ich nur verwenden, damit ich Akkorde lerne. Bis jetzt hab ich mir meine eigenen Akkorde ausgedacht. Es macht mir Spaß, wenn ich einfach so in die Gitarre dresche. Wenn ich immer wieder irgendwelche zwei Töne wiederhole und dabei in Trance komme. Die Umgebung loslassen. Allmählich hört alles zu existieren auf. Das Bett, auf dem ich sitze, die Poster an den Wänden, die Wände, allmählich verschwindet mein ganzes Zimmer, das Haus und die Stadt.

(…)

 

Entzugserscheinungen

In der Tschechischstunde nehmen wir Vergleiche durch. Um mich irgendwie zu beschäftigen, ritze ich den Schriftzug Come As You Are in die Bank. Ich denke an Kurt Cobain und den hypnotischen Sound von diesem Song.

„Und jetzt versucht, mich mit etwas zu vergleichen“, fordert uns die Tschechischlehrerin auf. Unsere Köpfe sind schwer, weil wir so viel wissen, und wir müssen sie abstützen. Mit abwesendem Blick gaffen wir die Lehrerin an und zählen die Minuten und Sekunden bis zum Läuten.

„Zum Beispiel du, Denisa.“

„Ich?“, piepst Denisa, rot bis zum Haaransatz.

„Ja. Schau mich an und versuch mich mit etwas zu vergleichen.“

Denisa ist verlegen.

„Na, zum Beispiel meine Augen. Wie sind sie?“

„Ihre Augen sind wie zwei Brunnen“, stammelt Denisa heraus.

„Ausgezeichnet!“, lobt sie die Lehrerin und Denisa atmet erleichtert auf.

„Jetzt du, Tomáš.“

„Ihr Kostüm ist blau wie das Meer.“

Standas Hand schießt nach oben zu den Leuchtstoffröhren.

„Kateřina.“

„Sie haben Ohrringe wie zwei Korallen.“

„Ich!“, ruft Standa. Die Lehrerin ignoriert ihn.

„Pavla.“

„Sie sind weise wie eine Eule.“

„Ich, hier, hier!“, ruft Standa.

Die Lehrerin gibt Standas Drängen nach und nimmt ihn dran.

„Sie sitzen da wie ein Haufen Scheiße!“

Trotz Standas offensichtlicher Retardation blitzen da und dort zweifellos Anzeichen von Genialität in seinem Verhalten auf. Ähnlich wie Pepa Josef ist auch Standa fettleibig und wird für seine Einfachheit regelmäßig verprügelt. Er kommt aus einer bäuerlichen Familie, deshalb ist hat Kraft wie ein Ochse. Leider ist er nicht fähig, sie effektiv gegen diese Aggressoren zu nutzen, die sich dauernd um ihn kreisen und auf einen passenden Augenblick warten, in dem sie sich dann auf den armen Standa stürzen und ihn dreschen können. Einmal sind sie zu sechst auf ihn losgegangen. Sie hängten sich um seinen Hals und Standa schleppte sie durch den Gang und murmelte ununterbrochen: „Lasst das, lasst das …“ Irgendwer hat ihm sogar mal einige Ladungen Tränengas in die Augen gespritzt. Einen normalen Menschen hätte das umgehauen. Standa hat sich aber nur die Augen gerieben und dabei gesagt: „Was ist das, das brennt aber …“

Einmal hab ich Standa heulen sehen. Er saß alleine da, mit dem Rücken zu den anderen Kindern, die ihn auslachten und ihm irgendwas zuriefen. Es hat mich überrascht, dass sogar Leuten wie Standa die Tränen kommen können, ganz ohne Tränengas.

So einer ist Standa also. Zu Hause auf dem Hof fährt er mit dem Traktor und mistet den Kuhstall aus.

Seine Hände sind immer schmutzig von der Erde.

Er schafft es, einen Tschick in nur drei Zügen zu rauchen.

Mit dem roten und dem blauen Kumpel gründe ich eine Band, wir nennen sie Entzugserscheinungen. Zum Proben treffen wir uns in der Hütte vom Roten. Wir bauen Trommeln aus Plastikeimern und Becken aus Blechstücken. Der rote Kumpel bekommt eine Gitarre. Die hat zwei Saiten. Niemand von uns kommt auch nur auf die Idee, neue zu kaufen oder die Gitarre vielleicht zu ersetzen. Wir wollen keine Volksmusik spielen. Hinterm Schlagzeug sitzt der blaue Kumpel, und ich singe. Mein Lennon-Image hab ich schon längst abgelegt und mich in einen teuflischen Mix aus Kurt Cobain und Iggy Pop verwandelt. Unsere Songs entstehen durch Improvisation, und wir nehmen sie gleich auf, weil wir sie sonst vergessen würden. Ich singe in einen kleinen Kassettenrekorder hinein. Den muss mir ganz nah an den Mund halten, weil man mich sonst durch das starke Blechdonnern überhaupt nicht hören würd. Unser größter Hit wir der Song Ich habe keine Befriedigung:

Einen Tschick

Einen Joint

Einen Wein

Einen Trip

Und nix tut sich!

Es gibt da auch noch andere Hits. Zum Beispiel das hymnische Ich muss mich schlagen, oder Beschissene Leute ausm Bus. Das hat der rote Kumpel in seiner Frustration produziert; der muss jeden Tag in dieser fahrenden Schachtel hocken, die ihn in die Berufsschule bringt.

Das Bus-Milieu hat starke Wirkung auf ihn:

Wenn ich morgens in den Bus steig

Will ich kotzen, was ich da seh

Sind ekelige Leute, die quatschen da

Über ihre Erlebnisse von gestern

Beschissene Leute

Beschissene Leute

Beschissene Leute ausm Bus!

 

Die Gitarre vom roten Kumpel klingt bei jeder Probe anders. Der Blaue muss seine Schlagzeug-Garnitur oft ändern. Er hat nämlich festgestellt, dass die Stöcke nix aushalten, also hat er angefangen, mit Hämmern zu trommeln.

Bei den Proben rauchen wir das Gras von meinem Bruder. Die Buds pflück ich von einer halbvergessenen Pflanze bei uns im Garten. Die hats schon mehrfach gefroren. Sie ist nicht grün, sondern braun.

Wir nennen sie die Braune.

(…)

 

Auf der Flucht

Ungefähr eine halbe Stunde, bevor mein Wecker läutet, öffne ich die Augen. Unten höre ich Papa, er macht sich für die Frühschicht fertig. Ich krieche aus dem Bett, räume alle Schulsachen aus dem Rucksack und leg sie auf ein Regalbrett. Ich suche mir die Klamotten, die ich brauchen werd, aus dem dem Schrank heraus. Den übrigen Platz im Rucksack füll ich mich Büchern.

Die Gitarre nehm ich auch mit, das ist klar.

Ich hab sie mir von meinem Onkel ausgeborgt. Eine Gibson aus den dem zweiundsiebziger Jahr. Auf dem vergilbten Schild ist ihr damaliger Preis noch zu erkennen. 349 tschechoslowakische Kronen.

Den Wecker schalte ich aus, jetzt ist es nicht mehr nötig, dass er läutet.

Ich setze mich aufs Bett und warte. Ich hör, wie sich Papa seine Jacke zumacht. Dann das Knarren der Wohnungstür.

Papa ist weg.

Ich pack meinen Rucksack und die Gitarre, geh die Stiege hinunter und steuere auf die Küche zu. Im Kühlschrank liegen Brote, die mir Mama für die Schule vorbereitet hat. Sie passen grad noch in den vollgestopften Rucksack. Das Geld für den Bus liegt wie immer an derselben Stelle. Ich steck es mir in die Tasche. Dann stöber ich noch in Mamas Geldbörse herum. Ich nehm mir drei Hunderter und ein bisschen Kleingeld raus. Im Vorzimmer schlüpf ich in die Jacke und binde mir Schuhe zu.

Ich kontrolliere die Brusttasche.

Der Umschlag mit dem Brief ist an seinem Ort.

Draußen fällt leichter Schnee. Ich schau auf das Thermometer. Es zeigt fünf Grad unter null. Ich sperre zu und werfe den Umschlag in den Briefkasten.

Dieses Mal geh ich nicht zum Busbahnhof. Ich gehe stadtauswärts, wo die Bewohner der hiesigen Plattenbauten ihre Gärten und Hütten haben.

Eine davon soll mein vorübergehendes Zuhause werden. Blaubart hat mir die Schlüssel gegeben.

„Meine Eltern gehen da über den Winter nicht ihn“, hat er mir gesagt.

Neben Blaubart ist auch die rosa Kumpelin in die Aktion eingeweiht.

„Wir bringen dir was zum Essen vorbei“, hat sie mir versprochen.

„Na gut.“

„Willst du dir das nicht noch mal überlegen?“, hat sie gefragt.

Ich hab den Kopf geschüttelt und die sie hat mich umarmt.

„Du bist ja vielleicht ein Würstel.“ Dabei hat sie geschmunzelt.

„Nichts Neues.“

Dann habe ich meine Hand ausgestreckt und Blaubart hat mir den Schlüssel gegeben.

 

Schade, dass ich keine Stirnlampe habe. In dieser Gegend gibt es nämlich keine öffentliche Beleuchtung. Unter meinen Sohlen knirscht der Schnee und manchmal knackst eine gefrorene Pfütze. Als ich endlich bei der Hütte ankomme, wird es schon hell. Unterwegs hab ich niemanden getroffen. In der Ferne seh ich die Hauptstraße und die Lichter der Autos, die in beiden Richtungen darüberrasen.

Ich sperre die Hütte auf.

Sie ist klitzeklein, etwa zehn Quadratmeter groß. Es gibt zwei Zimmer. Ich kenn mich hier aus, ich bin hier nicht zum ersten Mal.

Neben dem Bett steht es eine Lampe und auf einem der Regale liegt eine Taschenlampe. Ich mach die Lampe an und setz mich. Dann nehm ich eine Schachtel Start aus meiner Tasche und zünde mir eine an. Ich beobachte meinen Rucksack und die Gitarre. Es ist sechs in der Früh. Papa hat gerade mit dem Hackeln angefangen. Mama steht um Acht auf. Bevor sie den Laden aufmacht, geht sie mit dem Hund Gassi. Sie wird in den Briefkasten schauen und meinen Brief finden.

 

Den ganzen Tag les ich und klimpere auf der Gitarre herum. Ich probe ein paar Songs, die ich geschrieben hab. Ich singe leise, obwohl bei den meisten Liedern richtigerweise geschrien werden soll. Aber das werd ich hier nicht proben. Nicht dass mich noch jemand hört.

 

Ungefähr um halb drei am Nachmittag kommen die Rosafarbige und Blaubart. Sofort fang ich an, sie auszufragen, ob in der Stadt schon irgendwas los ist. Beide schütteln den Kopf. Bis jetzt haben sie nichts vernommen.

„Bring mal die Würstchen her“, sagt Blaubart.

Die rosa Kumpelin gibt mir ein paar Teebeutel und Zucker. Dazu noch zwei Tschick. Sie bleiben dann noch etwas da und versprechen, dass sie morgen zur gleichen Zeit nochmal vorbeikommen und mir was bringen.

Doch kurz darauf sind sie zurück. Angeblich haben sie meine Mama getroffen. Sie hat gefragt, ob sie nicht etwas von mir wissen. Die Rosafarbige meint, dass Mama den Tränen nahe war.

„Geh, sie hat schon geweint“, sagt Blaubart.

„Hat sie nicht.“

„Aber ja.“

„Sie hatte rote Augen. Wahrscheinlich hat sie davor geweint. Aber als sie mit uns gesprochen hat, da hat sie nicht geweint.“

„Bist du dir da sicher, ja?“

„Na ich werd wohl wissen, was ich gesehen hab …“

Ich lieg im Bett und beobachte den vergilbten Vorhang im Fenster. Ich denk an Mama. Ich stell mir vor, wie sie von einem jungen Menschen zum anderen geht und alle fragt, ob sie mich nicht zufällig gesehen haben.

 

Am Abend leuchte ich mir zum Lesen mit der Taschenlampe. Ich habe beschlossen, die Lampe nicht zu benutzen. Ich hab mich in Decken eingewickelt. Es gibt keinen Elektroheizkörper hier, also zittere ich vor Kälte.

Ich schlag das Buch zu.

Dann steh ich auf und geh zum Fenster.

Mein Ausblick geht auf die Hauptstraße, von der aus ein schmaler Weg hierher führt. Da liegt zwar Schnee, aber mit dem Auto könnte man ohne Probleme hierherfahren.

Jedes Mal, wenn ich die Lichter der Autos sehe, die bei der Abzweigung langsamer werden, schlägt mein Puls schneller. Aber es fährt niemand hierher. Ich überlege, ob unter den Autos nicht vielleicht auch auch welche von der Polizei sind. Sie müssten schon mit dem Suchen angefangen haben. Wie viele es wohl sind? Ich habe immer noch Lust zu rauchen, doch die Tschick verschwinden schnell. Ich muss anfangen zu sparen. Die zwei kommen erst morgen Nachmittag, und wer weiß, ob sie überhaupt Tschick dabei haben werden. Mit dem Tabak wirds schwierig. Früher oder später könnt ich mit dem Rauchen aufhören. Woher werd ich denn das Geld dafür haben? Ich hab fast Fünfhundert dabei. Morgen geb ich ihnen was, davon sollen sie mir eine Stange kaufen. Ja klar, eine Stange. Und dann werden sie hier bei mir bleiben.

Ja, so würd das dann ausschauen.

In die Stadt kann ich nicht. Hier kennen sich ja alle. Vielleicht weiß die ganze Stadt schon davon, dass ich verschwunden bin.

Ich erinnere mich an die Worte, die ich im Abschiedsbrief verwendet habe. Vor allem an die letzten. Der Text endet mit den Worten: Habt euch lieb.

Das ist so eine Botschaft. Ich habe den Satz zweimal unterstrichen. Er kommt mir echt stark vor. Das hab ich schön geschrieben. Der ganze Brief ist mir gut gelungen. Aber vor allem dieser eine Satz.

Bestimmt waren auch Mama und Papa davon ergriffen.

Ich schaue aus dem Fenster auf die Hauptstraße. Die brennende Zigarette halte ich in der halb geschlossenen Hand, damit nicht zufällig jemand in dieser Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern das rote Lichtlein im Fenster bemerkt.

Was, wenn genau jetzt auch Mama und Papa am Fenster stehen? Schön nebeneinander. Sie haben sich gegenseitig einen Arm um die Schultern gelegt und denken an meine letzten Worte. Sie schauen auf die beleuchtete nächtliche Straße, denn es ist gut möglich, dass an deren Ende wie aus dem Nichts eine einsame Gestalt mit einem Rucksack auf dem Rücken und einer Gitarre in den Händen aus dem Dunkel auftaucht.

 

Am nächsten Tag dasselbe: Bücher, Gitarre, Tschick, Bücher, Tschick, Tschick. Auf dem Tisch liegen unangerührt die Teebeutel und Würstchen. Der Boden vom Einmachglas ist mit Asche und Zigarettenstummeln bedeckt. Momentan hock ich unter der Decke und glotze ins Leere …

Mir fällt ein Song ein. Ich schreibe die einzelnen Wörter und Sätze auf ein Stück Papier. Das ganze handelt von mir und meiner Flucht: Ich sitz in der Hütte inmitten einer verschneiten Landschaft. Jede Nacht treibt sich eine komische Kreatur in der Gegend herum. Ich weiß nicht, wie sie ausschaut, weil ich mich jedes Mal, wenn ich ihr leises Auftreten höre, unter der Decke verkrieche und lieber den Atem anhalte. Eigentlich bin ich mir nicht sicher, ob es sich wirklich um irgendein schreckliches Wesen handelt, oder nur um einen Menschen, der da herumirrt. Und genau das soll der Text einfangen. Unsicherheit, Unruhe, Beklommenheit und wer weiß was noch … Die Musik soll ruhig und unklar sein … kann Musik unklar sein?

Am Nachmittag kommen die Rosafarbige und Blaubart. Eigentlich wollte ich ihnen den Torso meines neuen Songs vorspielen, aber dann höre ich lieber zu, was die Rosafarbige erzählt. Die Polizei war in der Schule und sie haben nach mir gefragt. Sie haben mit der rosa Kumpelin, mit Blaubart und noch ein paar anderen geredet.

„Und was habt ihr ihnen gesagt?“

„Ich nichts“, antwortet Blaubart, „ich hab gesagt, dass ich nicht weiß, wo du sein könntest.“

Ich schau zur rosa Kumpelin. Auch sie hat den Polizisten nichts gesagt. Dafür legt sie mir jetzt ans Herz, dass ich zurück nach Hause gehen soll.

„Ich kann nicht“, sag ich.

„Warum nicht?“

„Das geht einfach nicht.“

„Aber was wirst du machen?“, fragt Blaubart, „hier kannst du maximal bis zum Frühling bleiben. Und was dann?“

„Ich fahre weg und suche mir irgendwo eine Arbeit“, sage ich nicht sehr überzeugend.

Die Rosafarbige bittet Blaubart, einen Moment nach draußen zu gehen. Missmutig stimmt er zu. Er setzt sich seine Mütze auf und geht.

Die rosafarbige Kumpelin kränkt mich. Sie meint, ich muss nach Hause gehen und alles in Ordnung bringen.

„Ich kann das nicht rückgängig machen“, sag ich.

„Dann hör wenigstens auf.“

Die Tür geht auf und Blaubart guckt in die Hütte herein.

„Gebt mir einen Tschick, wenn ich schon draußen stehen muss“, ruft er uns zu. Ich beobachte die Knie von der rosa Kumpelin. Sie zittern, und ihre Hand ist kalt wie Eis.

 

Auf dem Weg nach Hause hat mich niemand aufgehalten. Ich hatte die Kapuze aufgesetzt und auf Polizeiwagen aufgepasst. Nicht mal einem bin ich begegnet.

Das Haus ist leer.

Ich geh zum Schlafzimmer von meinen Eltern. Die Decken sind aufgebettet, auf den Nachttischchen ticken die Wecker.

Dann geh ich in mein Zimmer.

Ich werf mich aufs Bett und versteck mich unter der Decke.

 

Ich hör sie.

Sie sind draußen.

Ich steh auf, gehe hinüber ins Stiegenhaus und hör zu. Meine Eltern informieren die Polizisten, dass ich wieder da bin. Sie können die Fahndung also einstellen. Einer der Polizisten sagt irgendwas in der Art, dass alles gut ausgegangen ist. Papa fügt etwas hinzu, aber das höre ich nicht.

Ich werd auf die Station gehen müssen, damit sie ein Protokoll mit mir schreiben.

 

Am Abend bringt mir Mama einen Teller mit dem Abendessen in mein Zimmer. Ich hebe nur leicht meinen Kopf vom Kissen. Mama stellt den Teller auf den Tisch und steht schweigend über mir. Das weiß ich, obwohl ich mit dem Gesicht zur Wand daliege.

„Das Abendessen steht auf dem Tisch.“

„Danke“, sag ich.

„Möchtest nicht später nach unten kommen? Wir schauen fern.“

„Vielleicht komm ich.“

„Na gut. Wir sind unten.“

 

Mitten in der Nacht verlass ich mein Zimmer und geh über die Stiege nach unten. Ich geh leise zum Schlafzimmer. Die Tür ist offen. Vorsichtig schaue ich hinein.

Das Bett meiner Eltern ist bis auf zwei zerknitterte Decken leer.

Am Fenster stehen zwei starre Gestalten und betrachten die beleuchtete nächtliche Straße.

Sie stehen weit voneinander entfernt. Papa hat einen Pyjama an, Mama ein Nachthemd. Ich habe keine Ahnung, wohin sie schauen.

Da ist doch nichts!

Ich werde unsicher. Ich schaue auf die zwei Gestalten, meine Eltern, und mir graut davor, dass sie sich jetzt umdrehen und mir ins Gesicht schauen werden.

Mit Entsetzen trete ich zurück und warte auf nichts. Ich laufe los und in mein Zimmer.

 

Rehabilitation

„Wenn du mal irgendein Problem hast, musst du uns davon erzählen“, belehrt mich Papa.

Meine Flucht hat ihm zu schaffen gemacht. Und Mama auch. Mein Bruder hat gesagt, dass mein Vater in die Knie ging, als er meinen Abschiedsbrief gelesen hat. Sie tun mir leid. Mama und Papa. Ich find es schade, dass sie so einen Sohn haben wie mich. Mama und Papa wären froh, wenn ich mich ihnen anvertrauen würde. Ich weiß, dass sie sich um mich sorgen. Aber ich werd mich niemandem anvertrauen. Es gibt ja nicht mal jemanden. Ich bin okay.

 

Jetzt ist es schon sonnenklar, dass aus mir kein Koch und auch kein Kellner werden wird. Ich hab mit meinen Eltern ausgemacht, dass ich diese Schule nicht fertig mache und ab September woanders anfange. Es hat keinen Sinn, sich unnötig zu quälen.

Nach Oxford kriegen mich keine zehn Pferde mehr, und bis das Schuljahr zu Ende ist, melde ich mich krank wegen meinem Rücken. Ich fahre regelmäßig auf Rehabilitation. Mein Genesungsprogramm besteht, neben Gymnastikübungen, noch aus zwei Prozeduren:

Ich liege auf einer Liege, rund um die stehen Geräte, die piepen, und ich komme mir vor wie in einem Horror von Cronenberg. Die stumme Krankenschwester legt mir weiße, feuchte Kissen auf den nackten Rücken, durch die sie mir Elektroschocks schickt. Die haben verschiedene Intensitätsstufen.

Manchmal versuche ich, wie viel ich aushalte.

Nach den Elektroschocks erwartet mich ein Sprudelbad. Ich ziehe mich aus und steige in eine Wanne voll mit heißem Wasser.

„Bei Ihnen müssen wir kein Röntgen von der Wirbelsäule machen“, lacht die Ärztin, „so eine Bohnenstange hab ich schon lange nicht mehr gesehen.“

Danach dreht sie an einem Rädchen, irgendwo unter mir dröhnt es ordentlich los und es fängt an: Tausende Bläschen heben meinen Körper, massieren meine nichtexistierende Rückenmuskulatur, platzen in der Nähe meiner Ohren und kitzeln meine schlaffen Eier.

Nach alldem kann ich nach Hause fahren. Meistens stopp ich, damit ich spare. Wenn ich keine Tschick hab, sammel ich die Stummel an der Haltestelle ein.

 

Aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck