Dieses Buch beruht weit mehr auf der Wahrheit, als es dem Leser scheinen mag.

 

EIN LÄUFER, DER FRÜHLING UND EIN SCHWARZER MANTEL

 

Es hörte auf zu schneien. Letzte Flocken kreiselten und zerschmolzen im Nebel wie Zucker im Tee. Die Eiszapfen schienen darauf zu warten, dass jemand sie ein letztes Mal in den Mund nahm. Mirek Hromada besah sich das alles von seinem Fenster aus und schlüpfte in seine Jogginghose. Mirek mochte den Winter, den Frühling nicht. Der Frühling machte ihn nervös und unruhig. Brachte ihn durcheinander. Das helle Sonnenlicht und all das Gewucher zerrten sinnlos an seinen Nerven. Die Auren verwischten, zerfaserten. Der Frühling drückte einfach zu sehr auf die Tube.

Meistens ging Mirek vor dem Abendessen laufen. Dann wurde er eher müde und konnte einschlafen. Inzwischen wurde es erst gegen halb sechs dunkel, was natürlich schön war gegenüber den dunklen Winternachmittagen schon ab vier Uhr. Das muss man dem Frühling lassen, die längeren Tage sind eine nette Abwechslung, dachte Mirek schon zum x-ten Mal. Und musste dann daran denken, dass er sich ständig wiederholte. „Unser Mirek wiederholt sich mal wieder“, hatte die Physiklehrerin Matějíčková gesagt. Sie war sich dabei witzig vorgekommen, dabei war es einfach nur typisch Lehrerin. Wie Mireks Mutter. Aber genauso gerne schweifte Mirek Hromada von einem Thema ab, wenn er auch jedes Mal – sei es über Umwege – brav dahin zurückkehrte. Jetzt war es halb fünf und Mirek würde laufen gehen. Er mochte Hromada heißen wie der „Haufen“, aber er wollte ganz sicher kein Haufen Fett werden. Hätte er sagen sollen, wer oder was er sei, dann am ehesten ein Läufer.

Jeder versuchte sich irgendwie zu definieren. Zu bestimmen. Zu verwirklichen. Man sagte: Ich bin Lehrer, Schweißer, Schriftsteller, Maurer, Journalist. Mirek kam das albern vor. Wie sollte ein dämlicher Beruf irgendetwas definieren können? Er zweifelte generell an der Bedeutung von Arbeit. Glaubte kein bisschen an ihre Notwendigkeit. Und er konnte es nicht leiden, wenn es hieß, man solle als Beruf das tun, was man liebe, dann werde man schon glücklich. Schon die Wörter tun und arbeiten waren ihm suspekt. Arbeit bringt weiter, macht gesund dich und heiter gehörte seiner Meinung nach ins Repertoire kommunistischer Fernsehmärchen und war ein gefährlich manipulatives Konzept. Wenn möglich, sollte der Mensch überhaupt nichts tun. Dumm war nur, dass er etwas essen und irgendwo wohnen musste. Mirek konnte sich nie für einen Beruf und eine Arbeit begeistern, er hatte auch keinen richtigen Beruf, wenn man davon absah, dass er Menschen massierte, Chakren ausglich und schlechte Auren reinigte. Die Matějíčková als eingefleischte Physikerin schlug da nur die Hände über dem Kopf zusammen und spuckte in einen Blumentopf. Ja sicher, Mirek leugnete jegliche physikalischen Gesetze, und er tat es gerne. Immerhin bezahlten die Leute ihn dafür, und er musste fast nichts tun.

Mirek dachte jetzt nicht mehr weiter an die Physiklehrerin und ihre potenziellen Grimassen, zog sich ein T-Shirt über mit der Aufschrift Der schlechteste Tag in den Bergen ist immer noch besser als der beste Tag im Büro und brach auf. Der Frühling schlummerte noch und die Landschaft um Velké Losiny war vereist, auch wenn der Schnee schon weicher wurde und nicht mehr so unter den Füßen knirschte wie im vergangenen Monat. Mirek war ohne Mütze losgelaufen, und auf seinem fast kahl geschorenen Kopf und dem dichten schwarzen Vollbart setzte sich Raureif ab. Sein Holzfällerkörper, der ohne das regelmäßige Laufen wie der eines Sumoringers ausgesehen hätte, tauchte lautlos in die Landschaft ein. Es war ordentlich glatt, weshalb Mirek mehr vor seine Füße sah als auf die Berge ringsum, auf diese verschwenderische Pracht der Natur, deretwegen er hierhergezogen war, in das kleine Haus, in dem früher sein Onkel Hans gelebt hatte. Aber er würde sich diesem Anblick noch oft genug widmen, jetzt richtete er seine Augen auf die gefährliche Rutschbahn unter seinen Füßen. Als er dann doch noch für einen Moment auf das weiße Land vor sich sah, fiel sein Blick auf einen elektrischen Weidezaun und stieß sich schmerzhaft daran, als stünde der Draht auch jetzt im Winter unter Strom und peitschte ihm unbarmherzig über die Augäpfel. Von einem Pfahl des Zauns hing schlaff ein Mantel herab. Ein schwarzer, teuer aussehender Mantel. Er war feucht und hing wohl schon eine Weile hier, trotzdem erkannte man, dass er gut geschnitten und von raffinierter Schlichtheit war. Schon als Mirek näherkam, verströmte der Stoff einen heftigen Alkoholgeruch, und als er vorsichtig einen schwarzen Zipfel in die Hand nahm, heftete sich der Gestank an seine Finger, als hätte er versucht, bei Nässe ein Lagerfeuer anzuzünden. Unter der schwarzen Farbe, dem luxuriösen Schnitt, dem unleserlichen, in winzigem Zierstich in den Kragen eingenähten Markennamen ließ sich neben dem Alkoholdunst noch ein anderer Geruch wahrnehmen. Ein schweres, süßes Parfüm. Als hätte man Fruchtbonbons in Rosenwasser aufgelöst, es in einem Kaugummisud eingekocht und Marshmallows hinzugegeben. Das war kein billiger Duft, solche geballte Exzentrik wurde nicht von einer piefigen Parfümschmiede in Kleinkleckersdorf produziert. Es war ein dreister, teurer Duft. Ein Duft für eine teure Hure, eine ausgehaltene Frau, eine Alltagsmätresse. Instinktiv wich Mirek zurück. Wandte sich ab von dem alkoholgeschwängerten Mantel. So aufdringlich riechen und duften konnte nämlich nur das Sterben. Ein langsames, lang andauerndes und hilfloses Sterben. Mirek sprintete den ganzen Weg zurück. Zu Hause angekommen, maß er lieber gar nicht erst seinen Puls. Der Tod rührt ihn an, so sagt man, wenn es einen fröstelt. Aber so war es nicht. Er, Mirek Hromada, hatte selber den Tod angerührt. Und sein Geruch hing noch an seinen Fingerspitzen. Vergeblich versuchte er ihn anschließend in der Badewanne abzuschrubben, mit der Lavendelseife, die er in Tante Hedas altem Schrank gefunden hatte.

Dieser Mantel, dieser verdammte Mantel. Mirek musste den ganzen Abend an ihn denken. Er dachte an ihn in der Nacht. Und am nächsten Tag lief er noch einmal zu dem Elektrozaun. Aber ein Mantel, der nach einem langsamen Tod roch, hing dort nicht mehr.

 

MARIASCH IN DER SCHLANGENGRUBE

 

„Ashes to Ashes, funk to funky
We know Major Tom’s a junkie”

David Bowie

 

Spielen wir eine Runde?”

Ich trink nur ein Bier und dann geh ich”, erklärte Ingenieur Hejzler.

„Sei kein Spielverderber, Rudy, nur ‘ne kleine Runde Mariasch“, beredete ihn schief grinsend Popescu, der in den Fünfzigern aus Rumänien eingewandert war. Er hatte einen langen Wallebart, in dem jetzt Spritzer vom Hanušovicer Lagerbier hingen, trug ein kittelartiges Leinenhemd und sah aus wie ein russischer Muschik. Vor dem Wirtshaus, das ganz friedliebend „Bei Vilínek“ hieß, aber von allen „die Schlangengrube“ genannt wurde, stand Popescus Fahrrad mit seiner vorsintflutlichen Lampe. Das Rad hatte ihn noch nie im Stich gelassen und brachte ihn jeden Abend zuverlässig wie ein Pferd, das alleine den Weg kennt, nach Hause, in eine Hütte am Ende von Bukovice, wo keine Füchse sich Gute Nacht sagten, weil sie sich dort oben nie aufhalten würden.

„Dann verbieg uns einen Löffel, Rudy“, bettelte Popescu „Einen kleinen Kaffeelöffel, komm schon, sei doch nicht so, was bist du heute für eine Spaßbremse“, fügte er weinerlich hinzu.

„Bin ich etwa dazu da, dir jeden Abend ein Unterhaltungsprogramm zu servieren?“, brummte der Ingenieur Rudy Hejzler, aber er verborg den Löffel für Popescu.

„He, wer soll denn das zahlen, die ganzen Löffel?“, schimpfte die rundliche kleine Wirtin Alena Vilínková, die mit einem Hanušovicer Bier in jeder schwieligen Hand an ihren Tisch gewalzt kam. Aber genau wie alle anderen ließ sie sich die Nummer mit dem Löffel nicht entgehen. Alle Löffel, die Rudy Hejzler schon in ihrem Lokal verbogen hatte, waren sorgfältig in ihrem Sekretär verschlossen, damit niemand behaupten konnte, das Ganze sei ein Schwindel. Rudy schwindelte nicht. Was hätte er auch davon gehabt. Die Seufzer der Bewunderung und die staunenden Gesichter der Stammgäste taten ihm gleichwohl gut.

Er trank zwei Bier und ging dann zu Fuß nach Hause. Am nächsten Morgen würde er in die Sechs steigen, die ihn zum Šumperker Forschungsinstitut brachte, wohin er sich, obwohl längst in Rente, regelmäßig begab. Er fungierte dort als unabhängiger Berater des derzeitigen Chefs und kam so zu einem günstigen Mittagessen. Vor allem aber war er wohl eine Art Maskottchen. Er hatte das Gefühl, man duldete ihn im Büro, damit er Pech von dort fernhielt. Manchmal konnte er mit seinen warmen Händen die Rückenschmerzen seiner Kollegen oder Kolleginnen lindern, und dasselbe tat er im örtlichen Krankenhaus, unter den bewundernden Blicken der Schwestern. Rudolf stand jeden Morgen um fünf Uhr auf. Er war überzeugt, dass man eine Gewohnheit nicht nur schwer ablegen konnte, sondern sie ihn zugleich vor dem Bösen schützte wie ein eisernes Kettenhemd. Obwohl er seinem ganzen Wesen nach Wissenschaftler war, verneigte er sich tief vor dem, was die Wissenschaft nicht zu erkunden vermochte. Und Gewohnheiten gehörten dazu. Zum Dunkel, zum Unwissen. Zu den Dingen, die sich aufeinandertürmten und weiterperlten wie winzige Feuchtigkeitströpfchen, die auf einen Kalkstein herabtropften. Im Laufe der Jahre bildeten sie dann einen Tropfstein, der wie angenagelt an der Wand einer tiefen Höhle verharrte. Gewohnheiten gehörten ins dunkle Reich des automatisierten Unbewussten. Sie waren etwas Ursprüngliches, Unwiderrufliches. Und das teuflisch Schöne an ihnen war, dass wir sie uns selbst erschaffen konnten, dass sie uns das Gefühl gaben, sie würden uns helfen, den eigenen Verstand und die Moral zu stärken. Ein Lichtblick. Wir bilden uns ein, wenn wir uns an etwas gewöhnen, macht es uns nicht mehr verrückt. Schön dumm. Wir begreifen nicht, dass Routinen jede Wachsamkeit, jeden Scharfsinn und jedes rationale Denken aus uns tilgen. Wir halten ihnen freiwillig den Kopf hin und schlüpfen in die Schlinge hinein. Es ist etwas Verlässliches, Konstantes. Wie seit eh und je, wie die Rituale von Naturvölkern. Gewohnheiten und Bräuche waren schon hier, als wir noch nicht geatmet haben, als wir noch Nebel über dem Altvatergebirge und Nieseltropfen über den ewigfeuchten dünnen Wäldern der Sudeten waren. Gewohnheiten – die geweiteten Nüstern der Finsternis. Und auch an die hatte Rudolf Hejzler sich in all den Jahren gewöhnt.

Und so trugen auch seine Besuche des Insti den harten Panzer der Regelmäßigkeit. Das Insti. So nannten alle das Institut zur Erforschung paranormaler Phänomene, das eigentlich Zentrum der Mentionenforschung heißen sollte, aber irgendein Schlaumeier im Politbüro hatte die Institutsbezeichnung durchgesetzt. Rudy selbst hatte es mit Insti abgekürzt, und die anderen hatten es von ihm übernommen. Institut zur Erforschung paranormaler Phänomene klang für ihn wie der Name eines Irrenhauses. Dann doch lieber Insti. Die gesamten Siebziger- und Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts war er jeden letzten Freitag im Monat mit dem Schnellzug dorthingefahren. Erster Klasse. Was zu der Zeit bedeutete, dass die Bezüge nicht aus Lederimitat, sondern einem abgewetzten Kunstgewebe waren, das sich als Samt ausgab, und die einzige Überlegenheit bestand darin, dass im Abteil niemand saß und Rudy in aller Ruhe Unterlagen durchlesen, Berechnungen anstellen oder kleine Krakelskizzen machen konnte, während er immer wieder aus dem Fenster starrte. Oder er übte Telepathie. Und niemand versuchte ihn in ein oberflächliches Geplauder zu verwickeln, wie es Reisende in Schnellzügen gerne tun. Außerdem erklang in seinen Ohren immer wieder an diesen Freitagen eine Musik. Eine seltsame Musik, die nie im Radio gespielt wurde, denn das Lied wurde auf Englisch gesungen, und ein englischsprachiger Song im kommunistischen Radio war etwa so wie ein Gecko in einer Polarlandschaft, er selbst konnte auch gar kein Englisch. Vergeblich versuchte er anschließend diese Musik in Plattenläden ausfindig zu machen, aber so wie es aussah, hatte von so einem Lied oder so einer Melodie noch keiner jemals gehört. Nur Rudy. In der Bahn, jeden letzten Freitag im Monat, auf dem Weg zum Insti. Auf der Jagd nach Mentionen. Inzwischen lachte er darüber und es kam ihm vor, als sei ihr unermüdliches Suchen und Forschen von damals vergleichbar damit, heute nach Pokémon zu jagen oder nach Pusteblumensamen im Wind zu haschen. Doch zu der Zeit hatten sie alle daran geglaubt. All diese schrägen Vögel aus der gesamten Republik, Wahrsagerinnen, Telepathen, Hellseher, Hypnoseexperten, exzentrische Psychologen und Psychiater, all jene, die sich irgendwie mit paranormalen Dingen beschäftigten. Wer das tat, war schnell im Visier der Staatssicherheit, denn wenn die Kommunisten etwas nicht leiden konnten, dann waren es Geheimnisse und Hokuspokus. Und jedem von ihnen setzten sie die Pistole auf die Brust. Man hatte die Wahl: Entweder das Insti oder eine knackige Strafe wegen Ausübung unerlaubter Tätigkeiten – Elektroschocks in der Klapsmühle oder was immer ihnen einfiel. Entweder Insti oder Knast. Entweder wirst du Forscher, oder du wirst als meschugge erklärt, als der sozialistischen Ordnung feindlich gesinnter Irrer. Friss oder stirb. Die tschechoslowakischen Spionagedienste wollten weltmännisch sein und mit der Zeit gehen. Sie wollten sein wie die Russen und Amerikaner, die damals ähnliche Experimente durchführten und glaubten, den Kampf gegen die Welt auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs zu perfektionieren, indem sie eine geheime Mentalwaffe entwickelten. In diesem Kampf durften die Tschechen nicht zurückstehen. Und jeder, den die Geheimdienstler herauspickten und aus ihrem Fangnetz ans Licht des Insti zerrten, musste auf einem Schriftstück unterschreiben, dass er „nicht an übernatürliche Dinge glaube“. Im Insti erforschte man nämlich keine okkulten Phänomene, man betrieb dort kein obskures Hexenwerk. Bei der Psychotronik – so der damalige Fachbegriff – ging es um nichts anderes als um eine atheistische Form von Physik, gleichsam eine Abwandlung der orthodoxen Physik. Mit ihr würde man mit der Zeit beweisen können, dass all diese Begabungen normale menschliche Fähigkeiten waren, die sich nur anders äußerten und bislang noch nicht befriedigend erklärt werden konnten. Was nicht bedeutete, dass es sie nicht gab.

Rudy hatte seine Fähigkeiten von seiner Großmutter Hella geerbt. Er nannte sie immer deutsch Oma Hella. Später, als er sie nur noch in seinem Kopf, in seinen Träumen oder während verschiedener Séancen sah, wurde sie allmählich zu Bába Hella. Nach dem Krieg hatte sie sich geweigert auszuwandern, hatte sich im Wald hinter Pekařov versteckt, und er hatte ihr jeden Tag etwas zu essen in die Hütte gebracht, die verborgen hinter einer kleinen Höhle in einem vergessenen Tal lag. Oma Hella war Deutsche und ein bekanntes Medium, und während der Ersten Republik waren selbst Honoratioren aus Brünn zu ihren Séancen angereist. Rudy mochte sie gern, und sie hatte ihn gern. Als sie starb, beerdigte er sie in der Höhle, wie sie es sich gewünscht hatte. Auch Oma Hella hatte immer Musik wahrgenommen, die außer ihr noch nie jemand vernommen hatte. Rudy erkannte sie jedoch einige Jahrzehnte später im Radio. Er erinnerte sich an die Melodien, die sie immer vor sich hingesummt hatte. So wie Rudy hatte auch Oma Hella Musik gehört, die noch nicht komponiert worden war. Bevor sie starb, hatte sie ihm noch versichert, dass sie ihn niemals allein lassen würde, dass er auf sie zählen könne, dass sie, wann immer es nötig sei, zurückkehren werde. Rudy glaubte es ihr, wenngleich er nicht wirklich auf sie zählte. Er wollte lieber alleine zurechtzukommen.

Falls dem Leser nicht bekannt ist, was Mentionen sind, wird Rudy es ihm gerne erklären. Rudy hielt leidenschaftlich gern Vorträge. Wenn er jemandem etwas ausführlich darlegen konnte, fühlte er sich wie ein echter Wissenschaftler, der die Menschheit erbaute. Besonders gern setzte er es in einen Kasten. Wenn er eine Zeitschrift las, liebte er die Erklärungskästchen, die inmitten eines Artikels oder am Rand standen. Hier nun also so eine Erklärung zum Mention.

 

Ein Mention ist ein nicht nachgewiesenes Teilchen, das vom lebendigen Gehirn, aber auch von anderen Dingen ausgesandt wird. Es soll sich mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen. Mithilfe des Mentions lassen sich paranormale Erscheinungen wie Telekinese oder Telepathie erklären. Skeptikern zufolge handelt es sich um einen Fantasiebegriff, der eine hypothetische Krafteinheit bezeichnet, die unbewiesene Phänomene erklären soll. Ihre Existenz wurde noch nie belegt und entbehrt bisher jeder Grundlage.

 

Rudy brauchte nicht zu erfahren, ob Mentionen existierten oder nicht. Rudy wusste es. Das Einzige, was er gerne nachgewiesen hätte und wonach man in all den Jahren am Insti vergeblich in Experimenten geforscht hatte, war, wie die Mentionen genau funktionierten. Um all diese hehren Wissenschaftler mit Urkunde ein für alle Mal eines Besseren zu belehren.

 

RUDY – DER MANN, DER DIE WELT VERKAUFTE

 

„Last night I saw upon the stair
A little man who wasn’t there
He wasn’t there again today
Oh, how I wish he’d go away …”

David Bowie

 

Rudy und die anderen „Paranormalen” vom Insti hätten sich vor allem gewünscht, einmal in seriösen Wissenschaftszeitungen Artikel über Mentionen zu finden. Dass es eine mentale Energie gab, war ihnen allen klar, letztlich zweifelten daran nicht einmal einige Forscher, die die Weihen der kommunistischen Hochschule besaßen. Viel schwieriger war es, tatsächlich nachzuweisen, auf welche Weise diese Energie wirkte. Denn sie verhielt sich, wie es ihr beliebte. Nie gelang es, einen Versuch oft genug zu wiederholen, dass man von etwas wirklich Wissenschaftlichem, präzise Messbarem, unendlich Wiederholbarem sprechen konnte. Mit anderen Worten, die Mentalenergie unterwarf sich nicht der Gewohnheit. Und daran war das ganze Projekt, das ganze Insti gescheitert, obwohl die Kommunisten es über so viele Jahre am Laufen gehalten und ihm außer Zeit auch ausreichend Geld zur Verfügung gestellt hatten.

Rudy wusste, dass er Oma Hella enttäuscht hatte. Sie war ein Mensch, der niemals für die dunkle Seite arbeiten wollte, ob für eine Regierung, für Außerirdische oder für wen auch immer. Sie sagte, die Geister und ihre wandernden Seelen hätten es nicht gerne, wenn man Druck auf sie ausübe. Sie würden es nicht mögen, wenn man sie ganz unnötigerweise ans Tageslicht zerre. Etwa um sie zu untersuchen, um zu erforschen, wie viele Mentionen in sie oder auf eine Nadelspitze passten. Laut Oma Hella musste man Geister nachts beschwören, an geheimen Orten, und nie, niemals für Geld. Sie war immer arm wie eine Kirchenmaus. Und Rudy, Rudy wurde vom Institut bezahlt. Gut bezahlt. Erst viele Jahre später, als er danach forschte, was er da eigentlich für englische Lieder gehört hatte, konnte er wenigstens ein paar von ihnen ausfindig machen. Er erinnerte sich an sie, weil damals zum ersten Mal die Geheimpolizei auf ihn zugekommen war und ihm zu verstehen gegeben hatte, wenn er das mit dem Löffelverbiegen im Wirtshaus nicht bleiben lasse, werde er sich flugs in der Klapse von Kroměříž wiederfinden, oder aber er lasse sich schriftlich auf eine Zusammenarbeit mit ihnen ein und habe dann seine Ruhe. Vier Jahre bevor David Bowie den Song The Man who sold the world schrieb, lief er einige Tage lang ununterbrochen in Rudys privatem Radio, bis ihm schien, dass die Worte über Superman oder Gott oder Bowies Doppelgänger oder über wen dort eigentlich gesungen wurde, sich in sämtliche Mentionen eingebrannt hatten, die in seinem Hirn umherschwirrten.

 

Oh no, not me
I never lost control
You’re face to face
With the man who sold the world

 

Natürlich verkaufte Rudy die Welt, seine Welt. Oma Hella blieb in seinem Hinterkopf und redete ihm zu, sich nicht auf die dunkle Seite einzulassen. Sie beschimpfte ihn, bekniete ihn. Aber sie hatte leicht reden! Sie lag gemütlich in ihrem Höhlengrab, ihre Seele streifte durch irgendwelche Paralleluniversen, und er musste sein Leben führen, so gut er konnte. Und dabei war seine Welt so eng verflochten mit allem, was sie ihm in den Genen mitgegeben hatte.

 

OMA HELLA

 

„Und der Intellekt ohne Seele gleicht einem Molch,
einem blinden Tänzer mit schwingendem Dolch.“

Karel Kryl

 

Also hatte vielleicht alles in Beckenberg begonnen. Pekařova Hora hatte immer Beckenberg geheißen, nie Pekařova Hora. Erst als die kommunistischen Bagger die Gegend plattmachten, vielleicht dann, ganz allmählich begann man zu Beckenberg Pekařova Hora zu sagen. Solange in Beckenberg drei Generationen von Orgelbauern, Spinnraddrechslern, Spieldosen- und Flageolettbauern lebten, die Kelb hießen, wäre keiner auf die Idee gekommen, Pekařova Hora zu sagen. Tschechen lebten in Beckenberg im Ganzen fünf, und auch die sprachen überwiegend Deutsch. Die Orgelfirma Herbert Kelb & Söhne hatte sich seit 1843 kontinuierlich weiterentwickelt, und sie hörte auf zu prosperieren, als die Söhne und Enkel des alten Herbert Kelb nacheinander in die beiden Weltkriege zogen und dort fielen. Hella Kelbová war ein Mädchen und kam für die Firma deshalb nicht in Frage. Wie hätte das denn auch ausgesehen, Herbert Kelb & Söhne & Tochter? Na eben, idiotisch.

Als Hella zum soundsovielsten Mal auf die Welt kam, diesmal in einer sechs Meter hohen Orgelwerkstatt auf dem Bett, in dem ihr Vater und vor ihm der Großvater nach dem Mittagessen ein Nickerchen abzuhalten pflegten und die Kelb-Frauen ihre Kinder gebaren, war das Erste, was sie hörte, der Ton einer kleinen Drehorgel, auf der im Nebenraum ihr Bruder Karl zu spielen versuchte. Hella merkte sich diesen Ton. So wie sie sich später Millionen anderer Töne einprägte und jederzeit wiedergeben konnte. Denn sie hatte nicht nur ein absolutes Gehör, sie besaß auch ein vollkommenes Musikgedächntnis. Wenn ihr Vater sie zu den Kurkonzerten nach Groß Ullersdorf mitnahm, wo die besten Kurkapellen des mährischen Sudetenlands spielten, vermochte sie sich die Melodien der Märsche notengenau zu merken. Sie kamen nach Hause, der Vater setzte sie an einen Tisch in der Werkstatt, legte sich selbst für ein Schläfchen aufs Bett, und Hella trug alles, was sie gehört hatte, in Notenlinien ein. Wenn Herbert Kelb aufwachte, streckte er sich und übertrug dann alles, was Hella notiert hatte, hämmernd und rillend auf die Tonwalze seiner Drehorgeln. Wäre Hella nicht gewesen, wäre die Firma längst zugrunde gegangen. Sie war das entscheidende Detail, das sie von der Konkurrenz unterschied. Trotzdem redeten alle von dem „genialen Autodidakten“ Herbert Kelb. Und der Genius stellte den Irrum nie richtig. Dank Hella hatte er für seine Drehorgel- und Spieldosenwalzen eine unerschöpfliche Auswahl von Melodien, von bekannten und von solchen, die Hella sich manchmal nur so ausdachte – das heißt, die sie irgendwo vernahm oder von Geistern eingeflüstert bekam. Hella war nämlich ein Phönix. Es war unmöglich, ihre vielen Geburten und all die Orte zu zählen, an denen sie schon geweilt hatte. Dabei handelte es sich nicht einfach um Reinkarnation, wie manche es sich gerne vereinfacht vorstellen würden, um Oma Hellas Wesen auf eine oberflächliche Weise zu begreifen. Oma Hella war stets nur ein Geschöpf mit einer Seele in einer endlosen Zahl von Wiedergeburten und Verkörperungen. So schön war das. Indem sie die Bestimmung des Phönix angenommen hatte, entging sie der Hölle des unendlichen Kreislaufs und der Wanderung von Seele zu Seele. Wahrscheinlich schwirrt Ihnen von alledem jetzt ebenso der Kopf wie dem Ingenieur Rudolf Hejzler, der ihr das erst nach vielen Jahren zu glauben begann. Bis dahin hatte er gedacht, das Ganze sei ein Märchen vor dem Einschlafen, mit dem Oma Hella ihm vermitteln wollte, dass sie niemals sterben werde, dass er keine Angst haben müsse, sie zu verlieren. Manchmal erzählte sie ihm, sie müsse alle fünfhundert Jahre in der Gestalt des Vogels Benu (wie der Phönix ursprünglich genannt wurde, bevor die alten Griechen es verballhornten) in den Tempel des Sonnengotts fliegen, um dort ihren Leib niederzulegen, der dann neu aus den Flammen auferstehe. Für den kleinen Rudy war das eine hübsche Geschichte, bei der er gut einschlafen konnte. Er hatte als Einziger in der Familie Oma Hellas paranormale Begabung geerbt. Seine Mentionen funktionierten tadellos, nur widersetzten sie sich jeglichem wissenschaftlichen Beweis. Es war, als wollten sie Rudy sagen, dass es kein Schwarz-Weiß gebe – allenfalls Messbares und Nichtmessbares – , sondern das Netz der Nuancen erheblich dichter sei. Manchmal wehrte sich Rudy leidenschaftlich gegen diese Vorstellung, andere Male war er schlicht zu müde dazu. Eines glaubte er jedenfalls – er glaubte daran, dass Oma Hella sich alle fünfhundert Jahre in den Tempel des Sonnengotts begab. Dann entstand aus ihr eine neue Quelle zahlloser Geheimnisse, die vielleicht jedoch anderen Menschen oder Robotern oder künstlichen Intelligenzen einmal verständlich erschienen.

Eine schöne Frau, die Oma Hella, sagten die Leute aus Pekařova Hora. Menschen, die Hella ihr Leben lang gefürchtet hatten. Einen Katzensprung entfernt Velké Losiny, all die verbrannten Hexen dort, all das, was dem Feuer angehörte und was nach fünfhundert Jahren dem Feuer entstieg … Manchmal fragte Rudy seine Großmutter danach. Fragte nach denen, die im Nachbarstädtchen von den Flammen verschlungen worden waren. Natürlich machten diese Geschichten ihm Angst, wie sie auch die anderen Kinder der Gegend gruselten. Alle fuhren sie nach Šumperk zu der jahrhundertealten Eiche, wo angeblich die Scheiterhaufen gebrannt hatten. Ganz einerlei, dass es nicht stimmte, die Scheiterhaufen wurden völlig woanders errichtet, diese Eiche war zwar sehr wohl ein Hinrichtungsort, aber dort hatten Enthauptungen stattgefunden. Wenn Oma Hella auf der Geige spielte, rauschte draußen die Windsbraut und Schneegestöber überfiel brennend die Augen wie Federn. Wer vorüberkam, schlug lieber mal ein Kreuz. Wie Hella kam auch Rudy in der Orgelwerkstatt zur Welt. Seine Mutter starb bei der Geburt und sein Vater kehrte nicht aus dem Krieg zurück. So war Hella nicht nur seine Oma, sie war auch seine liebste Mutti. Sie sprach mit ihm Deutsch, aber auch Tschechisch, weil sie meinte, es gehöre sich so, die Sprache der Nachbarn zu kennen, auch wenn diese irgendwo hinter den Hügeln leben mochten. Oma Hella verbarg Rudy nichts über sich selbst, als wüsste sie, dass er alles verstehen würde. Wenn nicht als Kind, dann später. Zeit war etwas, worum Phönixe sich nicht kümmerten.

Als Kind hatte Hella Jahrmärkte geliebt. Der alte Kelb nahm sie mit dorthin, weil er riesige, kunstvoll bemalte Jahrmarktorgeln für die Schausteller aufbaute und ihre Panoptiken mit Musikboxen ausstattete. Während er arbeitete, konnte Hella durch alle Attraktionen streunern, hinter die bunten Zeltstoffe spähen und gebannt dem Feuerschlucker zusehen – manchmal sah der Feuerschlucker dann gebannt zurück, wenn sie ihn nämlich fragte, ob sie auch mal schlucken dürfe, sie fürchte sich nicht vor dem Feuer. Sie probierte es aus, und hinterher musste der alte Kelb den großzügigen Angeboten der Schausteller widerstehen, die die kleine Hella kaufen wollten, um aus ihr die jüngste Feuerschluckerin des ganzen Sudetenlands zu machen. Aber der alte Kelb wusste gut, was für ein Kleinod er in Hella hatte. Die Schausteller wussten das ebenfalls, und darum raubten sie ihm Hella.

Und das kam so:

Die kleine Hella steht draußen vor der Werkstatt und schaut in die Flammen eines Herbstfeuers. Sie hört den Vater hinten im Haus eine Melodie vor sich hinsingen, die er gleich auf einen Spielzylinder hämmern wird. Da sieht sie die muskulösen, tätowierten Arme eines jungen Schaustellers auf sie zukommen, der leise mit ihr flüstert, als wäre sie ein Pferd und nicht ein kleines deutsches Mädchen, das entführt werden soll. Hella richtet ihren Blick auf den jungen Mann. Sie weiß, was Hypnose ist. Sie muss lediglich ihren Blick von der Flamme zu den Augen wenden, in die Pupillen eindringen und abwarten. Die Herzschläge zählen. Aber dann besinnt Hella sich anders. Eine Zeitlang mit den Schaustellern zu leben, denkt sie, könnte durchaus sinnvoll sein. Es würde dem Vater eine kleine Lektion erteilen. Auch ihren Brüdern wäre es eine Lehre. Sie würden erkennen, dass ihre berühmte Orgelbauerfamilie sich ohne Hella nicht einmal die Butter aufs Brot streichen könnte. Hella war es leid. Nie bekam sie von ihnen etwas für ihre Kunst, nie sprachen sie ihr auch nur das geringste Lob aus. Sie war hier die Wichtigste, und dennoch war sie für sie Luft. Ohne Luft konnte man zwar nicht leben, aber das merkte man erst, wenn sie fehlte. Und so senkte Hella ihren Blick zu Boden. Ließ sich von den Muskelarmen hochheben, um sich wegtragen zu lassen, fort zu dem bunten Zelt. Sie ließ sich den Mund mit einem Tuch verbinden und trat dem Entführer höflichkeitshalber ein paar Mal gegen die Beine. Zufrieden dachte sie, dass sie dem Vater ein ordentliches Schnippchen geschlagen hatte, und ließ sich gehorsam von ihren neuen Herren im Wohnwagen unbekannten Zielen entgegenbringen.

Sie schluckte für die Schausteller Feuer, hörte ihren Liedern zu, und manchmal tanzte sie mit ihnen. Sah in die Flammen und lächelte vor sich hin. Wenn einer sich darüber wunderte, dass sie nicht wegzulaufen versuchte, und fragte, ob sie kein Heimweh habe, sagte sie, nein, denn sie würde heimkehren, wenn ihr danach sei. Und die Schausteller glaubten es ihr. Sie hatten gleich in der ersten Nacht begriffen, dass Hella aus freien Stücken bei ihnen war. Als der alte Messerwerfer und Feuerschlucker, dem alle aufs Wort gehorchten, Hella zu sich rief, wandte sie ihren Blick diesmal nicht zu Boden. Ihre schwarzen Augen drangen in die seinen und erzählten ihm die Geschichte des Phönixmädchens, eines Mädchens, das eine Zeitlang für ihn Feuer schlucken, aber niemals seine Dienerin oder sonst etwas sein werde. Niemals würde sie jemandem gehören, weil sie sich nach genau fünfhundert Jahren in den Vogel Benu verwandeln und sich im Tempel niederlassen werde, um der einzigen Sache auf der Welt zu gehorchen – ihrer Wiedergeburt. Bis dahin dürfe der Alte sich an ihrem Feuer wärmen und allen Göttern danken, die da seien und die zu benennen Hella sich scheute.

 

Aus dem Tschechischen von S.Marzolff