Magdaléna Platzová

Die andere Seite der Stille

2018 | Milan Hodek, Paper Jam

In Ecully ist mittwochmorgens nichts los. Ein grauer Himmel hängt tief über der Erde, ein Vorhang aus geronnenem Dampf und Smog isoliert die Stadt vom Licht und fixiert sie im Griff des Frostes.

Irena hat die Kinder in die Schule gebracht und ist in das stille Haus zurückgekehrt. Sie hat das Frühstücksgeschirr weggeräumt, ausgefegt und die Betten bezogen. Sie könnte ins Fitnessstudio gehen. Sie könnte Desirée oder Candice oder Mireille anrufen. Oder einkaufen gehen.

Seit sie nach Hause gekommen ist, hat sie den Display ihres Telefons sicher schon zehn Mal ein- und wieder ausgeschaltet. Keine Nachricht, keine E-Mail, wenn man die Angebote von Gap, Banana Republic, der SNCF, verschiedenen Fluggesellschaften und weiteren Händlern, denen sie in unterschiedlichen Augenblicken ihres Lebens ihre Adresse anvertraut hatte, nicht mitrechnet. Nichts, was sie gefreut hätte, nichts, was die einförmige Folge der Verrichtungen unterbrochen hätte, die sie erwarten. Sie greift nach dem Handy genauso gierig, wie die Frauen früher auf die Türschwelle hinausrannten um nach dem Postboten Ausschau zu halten.

Sie könnte das Fernsehen einschalten.

Sie könnte in Prag anrufen, bei ihren Eltern.

Oder einkaufen gehen.

Das Wohnzimmer ist dunkel, die Jalousie zugezogen.

Die große, schlanke Frau mit platinblonden Haaren sitzt im Wohnzimmer und verwächst mit der Stille des Hauses, verliert sich in der dunkelblauen Polsterung der Sofagarnitur.

Es muss eine Menge Lösungen geben. Und wenigstes eine davon muss eine glückliche sein.

Warum ist sie so müde? Warum ist ihr ständig zum Heulen zumute?

Irene steht auf, steigt die Treppe hinauf in den ersten Stock, geht ins Schlafzimmer.

Unten im Schrank, in der Kiste, in der sie im Sommer die Winterkleider und im Winter die Sommerkleider einlagert, hat sie eine Schachtel Zigaretten versteckt.

Gekauft im Sommer, in Prag, sie ist noch halb voll.

Irena steigt die Treppe wider runter, zieht Jacke und Schal an und geht hinaus in den Garten.

Als sie mit dem Rauchen fertig ist, drückt sie die weiße Kippe am Boden aus und wickelt sie sorgfältig in ein Taschentuch. Das bringt sie direkt zur Mülltonne. Matt denkt, Irena habe schon vor vielen Jahren mit dem Rauchen aufgehört.

Zehn weitere Minuten sind vergangen. Bis sie sich die Zähne geputzt hat, werden nochmal fünf Minuten rum sein. Und dann sind nur noch vier Stunden übrig, genau gesagt vier Stunden und zwanzig Minuten, bevor sie losgeht, um die Kinder aus der Schule abzuholen.

Wer hat denn so ein Glück? Vier Stunden und zwanzig Minuten, in denen sie hingehen kann, wo es ihr einfällt, oder in dem gut geheizten, schönen Haus bleiben. Den Kühlschrank voller Essen, das Konto voller Geld.

Irena starrt ins Leere. Zwischen ihr und der Leere steht nichts, keine notwendige tägliche Arbeit, kein staubiger Weg, kein aufgewühltes Meer und auch kein Stacheldraht.

Sie könnte in die Stadt fahren, einkaufen. Sie könnte die Friseurin anrufen und fragen, ob sie rein zufällig einen Termin frei hat. Sie könnte sich einen Liebhaber suchen. Aber dazu braucht man Begehren, und ihr Körper ist wie tot.

Nur manchmal erwacht er zum Leben, im Traum.

Gestern Nacht hat sie zum Beispiel geträumt, sie trüge eine hauchdünne, grüne Tunika und weiße Schuhen mit Stiletto-Absatz. Sie kam von einer langen Party mit Freunden ins Hotelzimmer zurück, in einen alten abgeblätterten Palast, irgendwo in Havanna vielleicht. Die Hotelflure waren zur Straße und zum Strand hin offen. Menschen brieten Essen auf dem Feuer und riefen ihr zu, luden sie ein. Sie zog die Schuhe aus und ging barfuß über die weißen Steine und den Sand. Die aufgehende Sonne wärmte ihr den Rücken. Ihr Körper war locker vom Tanz und von der Müdigkeit, befreit.

Zeit ist Sand und schleift unauffällig, Körnchen für Körnchen, die Züge des Wesens ab, das wir einst waren. Aber der schlafender Geist holt alle wieder heraus, Empfindungen, gesammelt von den Myriaden unserer vergangenen Ichs.

Wenn Irena darüber nachdächte, wann sie das befreite Gefühl aus dem gestrigen Traum schon einmal erlebt hat, fiele ihr ein morgendlicher Gang über die Prager Burg ein. Damals kam sie nach einer durchtanzten Nacht aus einem Prager Club zurück, den es längst nicht mehr gibt, zwanzig mag sie gewesen sein. Wohnte noch bei den Eltern. Es war Sommer. Die Morgendämmerung erwischte sie auf dem Loretánské náměstí, bei den steinernen Barockengeln, die sie wohl damals zum ersten Mal bemerkte. Ihre Schuhe drückten, sie zog sie aus und ging barfuß über das Pflaster. Die aufgehende Sonne wärmte ihr den Rücken. Alles geschah zum ersten Mal, war frisch und unbegrenzt. Ein offener Raum, ihr Leben.

 

Am Ende entscheidet sie sich dann doch die Eltern in Prag anzurufen. Sie hat ihnen von dem Umzug nach Singapur noch nichts erzählt, und heute wird sie sicher auch nicht den Mut haben.

Die Mutter geht dran. Sie ist froh, dass Irena anruft, hat schon selbst anrufen wollen. Dem Vater gehe es nicht gut. Sie seien einsam. Sie hätten Sehnsucht nach Oliver und Zoe. Reisen könnten sie nicht, und der Vater rege sich so sehr auf wegen der Terroristen, es gehe ihm richtig schlecht deshalb.

Was denn für Terroristen?

Das weiß sie nicht? Die Nachrichten sind voll davon. In Paris, doch. Und was ist in L.? Ist da auch was passiert?

„Mach das Fernsehen an“, sagt die Mutter. „Und vor allem: Passt auf euch auf.“

Die islamistischen Extremisten sind noch nicht gefasst, es kann sein, dass sie nochmal zuschlagen. Ihre Spuren enden Stadtrand von Paris, an einer Ausfahrt. Für ganz Frankreich wurde der Ausnahmezustand verhängt.

Auf einem der Fernsehkanäle wurde in aller Eile ein Studio eingerichtet, wo alle Informationen in Echtzeit zusammenlaufen. Während die einzelnen Fakten-Fragmente eintrudeln, werden Telefongespräche mit verschiedenen Prominenten geführt, die sich äußern sollen.

„Wir befinden uns am Ende eines Zyklus“, sagt ein bekannter Philosoph. „Die Idee der Humanität ist eine reine Illusion, inspiriert von der Wissenschaft der Neuzeit und dem christlichen Heilsbegriff. Die Zivilisation ist instabil. Das Menschen-Tier bewegt sich nicht entlang einer Entwicklungslinie voran, sondern spiralförmig. Ich denke, dass wir in dem Zyklus, der gerade läuft, den Höhepunkt schon erreicht haben, wir sind dabei ins Chaos, in die Barbarei zurückzufallen.“

Irena war nicht mehr Zeugin der Verwerfungen gewesen, die der Krieg gebracht hatte. Ihre Eltern schon, aber nur indirekt, als Kinder, die Angst empfinden, aber noch nicht daran denken, was sie morgen essen, wo sie schlafen werden. Über die Urgroßeltern war der Krieg direkt hinweggefegt, hautnah. Ein Ungetüm, ein Moloch, der Tod , der über das Gebirge kommt, in einer Hand die Sense, einen Menschenkopf in der anderen, dieses Bild, wo hatte sie es nur gesehen? Ragende Pfähle und Knochen, die Erde voller Trümmer, verbrannt unter den stolpernden Füßen heimatloser Menschen.

Heute ist die Zahl der heimatlosen Menschen in der Welt die höchste seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Menschen verlassen die Ruinen ihrer Dörfer und Städte, wandern durch den Staub, führen kleine Kinder an der Hand. In altersschwachen Booten fahren sie aufs Meer hinaus, klettern über Stacheldraht, um sich in Sicherheit zu bringen, eine Sicherheit, die auch nur relativ ist, aber immer noch unvergleichlich sicherer, als das, wovor sie fliehen.

 

Am Freitag sind alle Terroristen gefasst, aber nicht lebend. Matt und Irena haben Besuch, Paul und Susan.

„Wenn die sich selbst ernähren müssten, hätten sie für solche Sachen keine Zeit “, ärgert sich Matt. „Die Radikalisierung der Jugend in Europa ist die Folge eines unvernünftig großzügigen Systems von Sozialleistungen. Die Staaten bestrafen die Menschen, die ehrlich arbeiten, mit hohen Steuern und belohnen stattdessen die, die nichts tun, das muss sich ja gegen sie wenden. Es ist erniedrigend, auf Sozialhilfe zu sein, und die Folge eines solchen leichten Lebens ist es, dass der einzelne anfängt, die Hand zu hassen, die ihn füttert. Um niemandem dankbar sein zu müssen, redet er sich ein, dass er das Recht auf seiner Seite hat, und nicht nur das, er hat auch das Recht auf viel mehr, eigentlich wird er andauernd betrogen. Zertrümmerte Bushaltestellen, angezündete Autos, nur so aus Sport. Das sind die Äußerungen dieses Hasses. Von da ist es dann nur noch ein kleiner Schritt auf Menschen zu schießen.

Paul hält die Frage der Sozialhilfe für komplexer. Man müsse auch den herrschenden Rassismus in Betracht ziehen, den Niedergang der Schulen, wie schwer es für die jungen Leute sei, sich auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren.

Susan ist Matts Meinung. „Wenn die jungen Leute sich nicht etablieren können, muss man den Arbeitsmarkt verändern. An ihre Bedürfnisse anpassen. In Frankreich passiert das nicht.“

„Können sie den etwas ändern? Der Regierung sind die Hände gebunden. Sobald sie etwas anpackt, beginnt jemand zu streiken.“
„Den Staat bankrott gehen lassen und von vorn anfangen, das ist die einzige Lösung“, sagt Matt. „Einen Staat zu regieren ist doch gar nicht so anders als eine Firma zu leiten.“

Sie essen Crevetten und trinken trockenen Weißwein.

 

Aus dem Tschechischen von Kathrin Janka.