I/7

Es war Samstagnachmittag und auf der sonst so belebten Straße, die an ihrem Haus vorbeiführte, fuhr nicht ein einziges Auto. Sie liefen die kleine Straße den Hügel hinauf und kamen bis zu den Straßenbahngleisen. An der Haltestelle stand kein Mensch – die Straße war wie leer gefegt, alle Geschäfte geschlossen. Auf dem Bürgersteig schlurfte nur eine einzige Oma am Stock dahin.

Sie wechselten auf die andere Straßenseite und gingen weiter den Hügel hinauf, bis zu dem neu hergerichteten, umzäunten Basketballplatz, wohin der Papa immer mit ihnen ging. Auf dem Spielplatz war niemand, aber in dem kleinen Park nebenan stand eine Gruppe großer Jungen und Mädchen herum. Sie rauchten und diskutierten aufgeregt über irgendetwas.

Alle vier Geschwister liefen auf den Spielplatz und Kryštof entschied: „Ich spiele mit Samuel gegen euch.“
„Auf keinen Fall“, protestierte Ema. „Mit Samuel will ich spielen.“

„Ich will auch mit ihm spielen, nicht nur du“, ärgerte sich Kristýna.

„Das geht nicht“, beharrte Kryštof. „Ihr könnt nicht mit ihm spielen – da würdet ihr verlieren.“

„Na dann würden wir eben verlieren, und?“

Samuel schlug, obwohl er der Kleinste war, eine Lösung vor: „Also ich spiel dann eine Weile mit Kryštof und dann tauschen wir und ich spiele mit Ema und zum Schluss dann mit Kristýna.“

Eine Weile stritten sie noch, aber dann machten sie es so. Kristýna stellte sich ins Tor, im Rücken hatte sie diese unangenehme Truppe; ihr gefiel nicht, dass auch die Mädchen unanständige Sachen sagten und rauchten.

Das Spiel begann. Kristýna sah, wie Ema vorn den Ball verlor und Kryštof unaufhaltsam näher kam und … Da hörte sie auf einmal die Gesprächsfetzen hinter ihrem Rücken: „Alter, meine Eltern auch. So, wie sie sich hingelegt haben … Alle, im ganzen Land.“

Kristýna folgte dem Spiel jetzt nicht mehr. Das Blut schoss ihr in den Kopf. Sie hörte zu: „Meine Klassenlehrerin hat auch ein Kind. Alle Lehrer, außer dem Computertypen. Mann, Alter, da ist dann keine Schule.“

„Angeblich ist dann gar nichts mehr“, antwortete jemand. „Die Armee wird sich um alles kümmern.“

Kryštof schoss gerade ein Tor. „Also Kristýna…“, ärgerte sich Ema. „Das hättest du doch halten können.“

„Tooor“, freute sich Sam. „Wir haben ein Tor gemacht.“

Kristýna setzte sich auf die Erde und fing an zu weinen. Sie wusste nicht, warum sie heulte. Eigentlich verstand sie überhaupt nicht, was die Worte bedeuteten, die sie gehört hatte. Sie wusste nur, dass es etwas Schreckliches war, etwas schrecklich Ernstes. Und dass es Mama und Papa betraf. Sie wusste (ahnte), dass die Eltern nicht einfach so aufwachen würden. Nichts würde wie früher sein.

Die Geschwister kamen zu ihr gelaufen und wunderten sich: „Was ist? Was ist passiert? Na, dann hast du eben ein Tor kassiert. Das macht doch nichts.“

Aber Kristýna schluchzte immer weiter, den Kopf hielt sie dabei in den Händen. Sie brachte kein einziges Wort hervor.

„Bitte Kristýna … Entschuldige bitte. Kristýna“, versuchte Ema sie zu trösten.

Kristýna sah sich unglücklich um. Nein, sie konnte keine Worte für das finden, was sie ahnte; was sie fast sicher wusste. „Unsere Eltern! Das ist ganz furchtbar!“

„Was ist mit ihnen?“, fragten die anderen. „Was ist furchtbar?“

Aber je mehr sie fragten, desto schlechter fühlte sich Kristýna. „Fragt die da!“, zeigte sie auf die Jugendlichen, sprang auf und lief los nach Hause. Ema, Kryštof und Samuel schauten ihr überrascht hinterher. Samuel wunderte sich: „Was ist mit ihr?“

Aber da löste sich schon ein Mädchen aus der Gruppe. Sie war ungefähr siebzehn, hatte einen schwarzen Rock an und rabenschwarze Haare. „Hey, wisst ihr das etwa noch nicht?“, stieß sie nicht sehr fein hervor. „Alle – Mütter und Väter – sind eingeschlafen. Das is ne Krankheit oder so. Die sind nich tot, aber jeder, der mal ein Kind hatte, schläft. Wenn ihr irgendjemanden Kinderlosen habt, der sich um euch kümmern kann, solltet ihr den mal ausfindig machen.“

 

I/15

Strom gab es ungefähr noch eine Stunde nicht. Die gekränkte Kristýna blieb oben und Kryštof, Ema und Samuel spielten Mensch-ärgere-dich-nicht. Endlich ging im Bad das Licht an und auch der Geschirrspüler, den sie vorher mit Tellern und Besteck beladen hatten. Kryštof lief zum Rechner und Samuel machte sich Ice Age 2 an. Ema schaute mit ihm den Film.

Das Internet quoll über vor Informationen. Es waren so viele, dass Kryštof sich zuerst nicht darin zurechtfand. Die größte Katastrophe in der Geschichte. Das Ende menschlicher Zivilisation, lauteten die Titel. Kontaktdaten zur Katholischen Caritas und zum Roten Kreuz finden Sie hier: Stiftung Mensch in Not … Buddhistische Mönche und katholische Priester retten Kinder. Angriff außerirdischer Zivilisationen? Regierungsübernahme in der Tschechischen Republik durch ehemaligen Schulminister.

Nach einer Weile fand Kryštof zusammenhängendere Informationen:

Ein seltsames Phänomen, bei dem alle Menschen, die jemals ihr genetisches Potenzial weitergegeben haben, heute Morgen nicht aus dem Schlaf erwachten.

Das betrifft sogar jene, die nur mittelbar Nachkommen haben, weil sie ihre Spermien der Spermabank zur Verfügung gestellt haben. Dieses unerklärliche Phänomen ist über die gesamte Menschheit hereingebrochen. Vor allem kleine Kinder sind dadurch in tödlicher Gefahr. Für ihre Rettung bleiben nur wenige Stunden. Man schätzt, dass höchstens ein Drittel aller Kinder gerettet werden können. In Entwicklungsländern wird diese Zahl noch geringer ausfallen.

Der internationale Verkehr kam völlig zum Erliegen. Flugzeuge fliegen nicht, Busse und Bahnen fahren nicht. Reisende, die in der Nacht unterwegs waren und in den Verkehrsmitteln einschliefen, werden Schritt für Schritt in Wohnunterkünfte verlegt.

In EU-Ländern ist es größtenteils gelungen, die wichtigsten Energiequellen am Laufen zu halten: Kraftwerke und die Wasserversorgung. Die Hauptaufgaben der nächstens Tage sind allerdings die Rettung der Kinder und der Schutz der schlafenden Eltern. Es sind erste Fälle von Plünderungen bekannt geworden.

Kinderlose Wissenschaftler haben mit der Erforschung dieser neuen Erscheinung begonnen. Sie stellten eine niedrigere Körpertemperatur und verlangsamte Vitalfunktionen fest – ähnlich wie bei einigen Säugetieren im Winterschlaf. Solange die Vitalfunktionen in diesem gedämpften Zustand verbleiben, sind die Schlafenden in den nächsten Monaten nicht in Lebensgefahr. Die Wissenschaftler schließen Viren oder Bakterien als Ursache der geheimnisvollen Krankheit aus. Sie stimmen sogar darin überein, dass es sich eigentlich nicht um eine Krankheit handelt. Doktor Edvin Chambers von der Universität im australischen Sydney zufolge könnte es sich um eine Art geplante Revolte der Gene handeln. Dieser Schlaf war offensichtlich in der genetischen Ausstattung der Menschheit vorprogrammiert, ohne dass jemand das bemerkt hätte. Es bleibt ein Geheimnis, wie er insbesondere bei Vätern ausgelöst worden sein konnte. Während der weibliche Organismus durch die Mutterschaft eindeutig gekennzeichnet ist, war bislang unbekannt, dass an männlichen Körpern festgestellt werden könnte, ob sie Väter sind. Offensichtlich haben wir bislang etwas Wichtiges übersehen, denn es sind auch die Männer eingeschlafen, deren Frauen erst schwanger sind. Während schwangere Frauen nicht eingeschlafen sind.

Einige Wissenschaftler neigen zu der Auffassung, dass es sich um die Intervention einer außerirdischen Zivilisation handelt. Und nicht wenige sehen hier eine göttliche Intervention.

Kryštof las zu Ende und war davon völlig verwirrt. Bislang war ihm nicht eingefallen, dass die Tatsache, dass die Eltern nicht aufwachten, so schwerwiegende Folgen haben konnte. Und nicht einmal jetzt, nachdem er einige Artikel gelesen hatte, konnte er sich das vorstellen. Schließlich funktionierte der Computer, in dessen Bildschirm er starrte, völlig normal. Der Strom war wieder da, das Wasser lief. Und der Kühlschrank war voller Essen. In seinem Kopf entstanden viele Fragen. Normalerweise würde er Papa fragen, aber eben das ging jetzt gerade nicht. Wie sollte es also weitergehen? Was würde morgen und in einer Woche sein? Was im Sommer und im Winter? Im Winter hatte ihm Papa Skilaufen in den Alpen versprochen. Und im Sommer sollten sie ans Meer fahren.

 

II/4

Wasser gab es schon einen halben Tag lang nicht und die Toiletten begannen langsam zu verstopfen. Sie entschlossen sich, mit Eimern zum Tankwagen zu gehen. Aber sie gingen nicht gleich: Lange zogen sie sich an und wieder aus – suchten die passendste Kleidung – so schlugen sie Zeit tot und zögerten den Moment hinaus, in dem sie die häusliche Sicherheit verlassen mussten.

Schließlich machten sie sich auf den Weg. Draußen war es kälter als gestern, bewölkt und wie ausgestorben. Aus der Ferne hörte man die Sirenen von Krankenwagen und Feuerwehren. Die Geschwister hielten sich an den Händen, Kryštof ging am einen Rand, Ema am anderen. Sie gingen nach oben zur Straßenbahn. Und wirklich: ungefähr 50 Meter von dort in Richtung Zentrum sahen sie einen Wassertank. Daneben saßen ein paar Jugendliche auf dem Geländer. Die Kinder näherten sich langsam. Jetzt konnten sie schon sehen, dass die Jugendlichen groß und stark waren und nicht sehr freundlich ausschauten. Und dass sie unter sich spuckten. Und rauchten. Und sie feindselig anschauten.

Die Mädchen warteten mit Samuel und schickten Kryštof mit dem Eimer zum Wasserholen.

„Was willst du?“, fuhr ihn der am nächsten Sitzende an.

„Na … wir wollen Wasser holen“, antwortete Kryštof relativ ruhig – er war nie gut darin zu erkennen, wer gut und wer böse war.

„Vergiss das mal. Wasser gibt´s nicht mehr“, holte ihn der Bursche herunter.

Kryštof war aber schon an den Tank getreten und hatte den Hahn aufgedreht. Das Wasser floss. „Aber es fließt doch“, lachte er laut; siegesbewusst – als hätte er den Burschen bei einem Fehler erwischt.

Der sprang vom Geländer und brüllte: „Ich habe gesagt, es gibt kein Wasser mehr! Hier wird für Wasser bezahlt.“ Er packte Kryštof am Hals und presste ihn gegen den Wassertank.

„Hilfe!“, begann Kristýna zu schreien. „Lasst unseren Bruder in Ruhe!“

„Und… und wofür soll man zahlen?“, presste Kryštof heraus. „Das Wasser ist für alle da, oder?“

Da sprangen auch schon die anderen beiden vom Geländer. Einer stellte das Wasser ab und der andere nahm den Eimer in die Hand. „Der Eimer kostet nen Hunderter. Hast du die Kohle dabei? Oder Schmuck von deiner Mutter.“

„Wir holen das Geld“, rief Kristýna, während Ema vor Angst völlig verstummt war. Samuel rief: „Das ist mein Bruder und er wollte Wasser holen. Lasst ihn los.“

„Das Wasser ist für alle da, nicht wahr?“, blieb Kryštof bei seiner Meinung – nicht einmal so sehr aus Mut, sondern eher, weil er nicht den Ernst der Situation begriff. In dem Moment bekam er einen Faustschlag ab. Vor seinen Augen wurde es schwarz und im Kopf knackte es. Der Gewalttäter ließ ihn los, und wenn Kryštof sich mit dem Rücken nicht am Wassertank abgestützt hätte, wäre er zu Boden gegangen. Als er sich berappelte, sah er, wie die Mädchen und Samuel hinter der nächsten Ecke verschwanden, Samuel noch stehen blieb und sich umsah, aber die Mädchen ihn fortzogen. Einer der jungen Männer trat gegen den Eimer und der flog auf die Straße. Kryštof bekam einen Tritt ins Hüftgelenk. Er wartete nicht mehr ab und lief los; ein Tritt in den Hintern traf ihn doch noch.

„Sie zu, dass du das Geld bringst, du Arsch!“, hörte er noch hinter sich. „Wenn du was trinken willst.“

 

II/15

Sie kehrten die Straße den Hügel hinab zurück. Sie waren schon fast am Eingang, als neben ihnen ein großes Luxusauto anhielt – ein langer Transit als Minibus. Heraus stieg ein gut angezogener, netter Mann.

„Hallo Kinder“, grüßte er. „Ich bin vom Roten Kreuz. Wisst ihr, was das Rote Kreuz ist?“

„Sowas wie ein Krankenhaus?“, riet Ema.

„Etwas wie ein Rettungsdienst?“, tippte Kryštof.

„So ungefähr“, nickte der Mann. „Ihr habt beide recht. Das Rote Kreuz ist eine Organisation von Ärzten. Eine internationale Organisation, die den Menschen schon im Krieg geholfen hat und heute noch auf der ganzen Welt hilft. Und jetzt, wo eure Eltern eingeschlafen sind, hilft sie euch Kindern. Der Mann zeigte ins Auto, von wo zwei Jungen und ein Mädchen ungefähr in Samuels Alter winkten. „Die Rettungsaktionen sind zwar schon gelaufen, aber wir bringen trotzdem noch weitere Kinder, die vergessen wurden, in die Schulen.“ Der Mann griff in seine Tasche und zog einen süßen Plüschhund hervor.

„Wow, der ist ja süß“, quiekte Ema.

„Der gehört dir“, gab ihn ihr der Mann. „Aber ich habe nur den einen. Du teilst doch bestimmt mit deinen Geschwistern?“

„Natürlich“, versprach Ema und drückte das Hündchen an ihr Gesicht.

„Möchtest du auch so einen?“, wandte sich der Mann an Samuel.

„Ja, gern.“

„Weißt du was, mein Freund? Dann sag deinen Geschwistern … das sind doch deine Geschwister … dass … sag ihnen, dass du mit uns in die Schule fährst. Da gibt es eine Menge solcher Hündchen.“

„In der Schule kennen wir Tante Vlaďka“, prahlte Ema.

„Ja Vlaďka… Ich weiß, die arbeitet da. Die ist wahnsinnig nett“, lebte der Mann auf. „Vertraut ihr mir also euer hübsches Brüderchen an?“

Samuel sah seine Geschwister unentschlossen an. Auch die sahen sich gegenseitig an. Nachdem sie heute Morgen von Alice beklaut worden waren, hatten sie keine so gute Meinung mehr über ihre Fähigkeiten, sich um sich selbst zu kümmern, erst recht um Samuel.

„Ich denke, dass er in diese Schule gehen sollte“, sagte Ema und dachte dabei daran, dass Mama das bestimmt auch so sagen würde. „Ich gehe vielleicht auch dahin.“

„Ich bin auch dafür“, erklärte sich Kryštof einverstanden. „Dann haben wir wenigstens die Gewissheit, dass Sam in Sicherheit ist.“

Kristýna zögerte. „Also ich weiß nicht. Was meinst du, Sammy?“

Samuel entschied sich ganz plötzlich. Er legte alle Weisheit, derer er fähig war, in diesen Entschluss. Eigentlich wollte er seinen unentschlossenen Geschwistern helfen. Er wollte nicht, dass sie unglücklich waren, er wollte nicht, dass sie seinetwegen Sorgen hatten. „Also gut, ich gehe in diese Schule.“

„Bravo. Ausgezeichnet, mein Junge … wie heißt du eigentlich?“

„Samuel.“

„Ausgezeichnet, Samuel, du bist ein toller Junge, sehr tapfer.“

„Wir gehen dann mal seine Sachen holen“, schlug Ema vor.

Der Mann war allerdings dagegen: „Er braucht da überhaupt nichts. Er bekommt alles dort. Und wenn ihr wollt, könnt ihr ihm am Nachmittag die Sachen bringen. Das ist die Schule dort hinter der Hauptstraße, ihr wisst schon. Ich habe es jetzt nämlich ein bisschen eilig – damit die mir da im Auto nicht in die Höschen machen. Ihr wisst schon, solche Kinder…“

„Wir kommen dann am Nachmittag zu dir, ja, Sammy?“, wandte sich Ema an ihren Bruder.

„Ja, gut“, nickte Sam.

Der Mann öffnete die Schiebetür und Samuel ging dorthin.

„Tschüs, Sam“, verabschiedete sich Kryštof von ihm.

„Samuel!“, rief Kristýna und nahm sich die goldene Kette mit dem Buchstaben K vom Hals. Schnell hängte sie sie ihm um den Hals und umarmte ihn. „Hier, für dich.“

Aber der Mann hatte es eilig. Er half Samuel hinauf und schloss die Tür hinter ihm. Selbst stieg er auch ein.

„Dann also am Nachmittag.“

Die Geschwister erstarrten. Fuhr ihr Bruder wirklich vor ihren Augen fort? Irgendwie war das alles zu schnell gegangen. Wollten sie das wirklich? Allerdings winkte ihnen Samuel hinter dem verdunkelten Glas fröhlich zu.

 

III/12

Sie aßen die Würstchen. Draußen wurde es langsam dunkel. Außerdem hatte es schon wieder zu regnen angefangen. Der Kater Ferda hatte schon lange seine Scheu verloren und es sich auf Kristýnas Schoß bequem gemacht. Er schnurrte sogar leise.

Die Kinder hatten Jarka gedrängt und jetzt versuchte sie zum ungefähr dritten Mal Láďa anzurufen,

„Hallo Láďa!“, erklang auf einmal ihre dröhnende Stimme. Die Kinder horchten auf. Aber anstelle einer Frage, die zur Suche Samuels beitragen würde, begann Jarka zu beschreiben, wie sie am Morgen billiges Bier gesucht hatte, und wie viel diese schlitzäugigen Verbrecher dafür wollten. Dann redete sie lange über Rückenschmerzen und Druck auf dem Herzen und erkundigte sich nach irgendeiner Mirka und nach Láďas Arbeit. Die Kinder dachten, dass das überhaupt nicht aufhört und sie nie mehr zum Thema Samuel kommt. Oder ihn einfach vergisst.

Aber sie vergaß ihn nicht. „Du, hör mal“, sie veränderte die Stimme nach ungefähr fünf Gesprächsminuten, „ich habe hier drei wundervolle Kinder, einfach unglaublich. Der Junge ist fünfzehn – der Beschützer, verstehst du – der Beschützer der Schwestern – die sind vielleicht elf. Hübsche Mädchen – blond, lange Haare, nicht zu unterscheiden. Da würdste staunen. Na ja, Zwillinge, echt.“ Dann sagte wohl Láďa etwas und nach einer Weile fuhr Jarka fort: „Na klar will ich ihnen helfen. Du kennst mich doch. Ich kann sie doch nicht rauswerfen.“

Ema, Kristýna und Kryštof sahen sich verlegen und auch mit einem kleinen Lächeln an.

„Und hör mal, die suchen ihr Brüderchen. Einen Kleinen. Sechs Jahre alt. Den ham sie mit diesem Bus fortgebracht vom Platz der Gefallenen – du hast doch davon gehört, oder? … Jaja, vom Theater. Genau. Was? … Bei Vysoký Hradec? Echt? Da sind sie ja noch in Böhmen? Mann! … Wird denn nach ihnen gesucht? Nein? Warum denn nicht?“

Die Kinder spitzten wieder die Ohren.

„Die ham keine Leute? Und wofür ham se Leute, wenn nicht für die Rettung von Kindern …? Bestochen? … Echt, meinst du wirklich? … Beneš auch? Echt? … Du sag ma, wie komm ich denn in dieses Vysoký Hradec? Fahr ich da in Richtung Deprty?“ … Dann sprach wieder der Mensch auf der anderen Seite und Jarka hörte zu. Erst nach einer Weile sagte sie: „Ja klar, ich fahr wirklich da mit ihnen hin.“ Dann schwieg sie wieder und fuhr fort: „Nein, das redest du mir nicht aus. Du kennst mich. Für solche Kinder würd ich alles tun. Irgendjemand muss ihnen doch helfen, oder? … Autobahn, sagst du, ja? Über Okrouhlov? … Oh Mann, 150 Kilometer? Und kennst du da vielleicht jemanden? Wirklich? Du bist der Beste. Mein Goldjunge. Ganz wie der Vater. Mit sonem Sohn kann er in Ruhe pennen.“ Worauf Jarka laut wieherte. Dann wurde sie aber wieder ganz still: „Hör mal, ich muss mein Guthaben schonen. Nein, heute nicht mehr. Du kennst mich – ich und in der Dunkelheit. Wir fahren morgen. … Ferda? Der freut sich, wenn er mal ne Weile allein ist.“

Aus den Gesprächsfetzen begriffen sie, dass es gut und auch schlecht stand. Gut, weil man wohl wusste, wo die Verbrecher Samuel und andere Kinder hingebracht hatten. Und schlecht, weil … weil es einfach schlecht war. Ihr Samuel war schon länger als einen Tag in den Händen dieser Verbrecher, die Kinder verkauften. Was, wenn sie ihn doch irgendwohin weit weg verkauften, wo man ihn nicht finden konnte? Sie würden ihn nie mehr wiedersehen. Das konnte nicht gut sein.

Gut war wiederum, dass Jarka ihnen helfen wollte. Inzwischen war sie mit dem Gespräch fertig und sah sie mit diesem direkten, unverfälschten Blick an: „Haltet euch fest! Ich fahre morgen mit euch irgendwo zu diesem Vysoký Hradec. Da war ich in meinem Leben noch nicht. Dort hat man den Bus mit den Kindern zum letzten Mal gesehen.“

„Erst morgen?“, machte Kristýna ein langes Gesicht. „Was, wenn Samuel in der Zwischenzeit etwas passiert?“

„Ja, wirklich“, schloss sich Kryštof an. „Könnten wir nicht gleich dahin fahren?“

„Können wir nicht!“, schrie Jarka, aber sie meinte es nicht böse. „Ich bin im Dunkeln nämlich blind wie ein Maulwurf, damit das klar ist! Und soll ich euch vielleicht gleich noch das Blaue vom Himmel holen, meine Süßen?“

Nach diesem Ausbruch wurden die Mädchen still. Sie fühlten irgendwie, dass sie sich undankbar gezeigt hatten. Außerdem fürchteten sie, Jarka könne sich das noch einmal überlegen. Ema ging in die Küche: „Ich wasche das Geschirr für Sie ab.“

Nur Kryštof laberte immer weiter dasselbe – wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er nicht aufhören. Die Eltern ärgerten sich auch oft deswegen über ihn. „Können wir wirklich nicht jetzt gleich fahren?“, drängte er. „Warum denn nicht?“

Am Ende musste Kristýna ihn anschreien: „Weil sie nicht im Dunkeln fahren kann! Weil sie nichts sieht! Hörst du nicht zu?“

 

VIII/4

Samuel wachte mitten in der Nacht auf. Der Mond schien hell auf die Wiese vor dem vergitterten Fenster. Deshalb konnte man drinnen ein bisschen sehen. Samuel setzte sich aufs Bett und schaute auf die weißen Wolken, die über den Tannenspitzen durch den klaren Nachthimmel segelten. Und da fiel es ihm ein. Genauer gesagt, der Gedanke war zurück: Er musste weglaufen.

Er sprang vom Bett und ging zur Tür. Sie war offen. Er erschrak. Es war Nacht, auf dem Gang völlige Dunkelheit, eine unbekannte Gegend ohne Ende: Wie sollte er da den Mut fassen? Aber andererseits – warten, bis Simona aufwachte? Die böse alte Simona? Bevor er zulässt, dass sie seine Mutter wird, geht er lieber.

Leise ging er die Treppe hinauf nach oben. Die Schlafzimmertür war offen. Zum Glück fiel auch hier Licht von außen herein. Simona lag mit offenem Mund auf dem Bett und atmete geräuschvoll. Sie war angezogen. Neben dem Bett stand eine nicht ganz geleerte Flasche und auf dem Fußboden lagen Zigarettenstummel. Am Bett lehnte ein Gewehr. Samuel trat vorsichtig näher. Er roch Alkohol und Rauch.

Als ob ihn eine unbekannte Macht leitete, nahm er das Gewehr (er war überrascht, wie schwer es war) und steckte es unters Bett. Er ahnte, dass man nicht aus einem Gewehr schießen konnte, das unter dem Bett versteckt war. Deshalb machte er das.

Genauso leise, wie er gekommen war, schlich er wieder hinaus. Wenn er bis eben nicht nachgedacht hatte, so überschlugen sich seine Gedanken jetzt fast. Was brauchte er alles? Vor allem Schuhe. Er wollte sie anziehen, erinnerte sich dann aber, dass man nicht mit Schuhen durchs Haus laufen durfte. Er stellte sie an die Tür. Dann zog er sich das Sweatshirt an, das sie ihm gegeben hatten. Und nahm den Braunen in den Arm. Er dachte so stark nach, dass sein Gehirn rauchte. Was brauchte er zum Essen? Er ging in die Küche. In Momenten, in denen Simona gute Laune hatte, gab sie ihm Schokoladenbonbons. Sie bewahrte sie in einem geflochtenen Körbchen auf dem Schrank auf.

Samuel kletterte auf einen Stuhl und reckte sich nach dem Körbchen. Das neigte sich und fiel herunter. Samuel blieb das Herz stehen. So ein Krach! Aber nichts bewegte sich – vor allem oben nicht. Er sammelte die Bonbons auf und stopfte sie in seine Taschen.

Jetzt musste er nur noch gehen. Er nahm den Braunen und die Schuhe und ging zur Hintertür. Sie war verschlossen, aber der Schlüssel steckte im Schloss.

 

Aus dem Tschechischen von Raija Hauck