Ziellos geht Jana in ihrer großen Wohnung umher. Sie geht durch das geräumige Vorzimmer, das sich nicht wohnlich einrichten ließ, da konnte sie machen, was sie wollte, und dann in die südwestliche Hälfte der Wohnung mit weiteren fünf Fenstern in den Innenhof. Zwei im geplanten Kinderzimmer, das vollkommen leer ist; aber in seiner Mitte steht ein stilvolles Schaukelpferd, das Jana in einem Antiquitätenladen kaufte. Zwei Fenster in der Küche, zusammen mit der gläsernen Balkontür, und eines im Dienstmädchenzimmer der Vorkriegszeit, wo sie sich ein Arbeitszimmer einrichtete. Die freien Wände sind vom Fußboden bis zur Decke mit Büchern bedeckt, und dazwischen steht ein Tisch, ein PC und das Fenster, das auf den Balkon hinausgeht.
Der Südwesten ist die Himmelsrichtung, die sich am schlechtesten für Balkonpflanzen eignet. Jedes Mal, wenn Jana mit Alek auf Urlaub gefahren ist, versengte die Glut der sommerlichen Nachmittage alles, was sie eingesetzt hatte. Tomaten, Basilikum, Rosmarin, Schnittlauch, Salbei, Thymian, Gurken, die Thuja und den Wacholder. Und wenn sie wegen externer archäologischen Forschungen nicht in Prag war, geschah mit der Balkon-Flora dasselbe Malheur. Alek goss nie. Er rauchte am Balkon, trank Kaffee und beobachtete das gläserne Treppenhaus des benachbarten Hotels. Im Glas spiegelte sich die rein gotische Kirche St. Maria zum Schnee. Ihm was das nicht aufgefallen, bis sie ihn darauf aufmerksam machte. Er bewunderte diese eindrucksvolle Spiegelung, wie sie nur Prag mit seinen mittelalterlichen Kostbarkeiten hervorzaubern konnte, und goss nicht. Nach Janas verzweifelten Vorwürfen versprach er lediglich, dass er das nächste Mal bestimmt nicht vergessen werde. Er schaffte es, eine vertrocknende Blume zu beobachten und dabei einen tiefen Schluck aus seiner Tasse zu nehmen. Er konnte gut Geld verdienen. Und Jana verhätscheln. Tik tak. Jana freute sich immer auf den Herbst. Die Sonne wanderte nach unten, sie verlor an Glanz und Jana legte den Balkon mit Heidekraut aus, das sie gekauft hatte. Abends schenkte sie sich ein Glas Wein ein, setzte sich zwischen die Truhen, Blumentöpfe, Kerzenleuchter und unterhielt sich mit einem Stern am Himmel, mit dem Abendstern, der weißen Perle, die den Smog und die Neonlichter der Großstadt hartnäckig durchdrang. Die Hotelgäste kamen und gingen über die Treppen und winkten ihr zu, während sie auf Alek wartete, bis er aus der Bank zurückkommt, und dabei Rotwein aus einem nachgebildeten mittelalterlichen Becher trank. Und sie streichelte das Heidekraut, das um sie herumstand. Tik tak. Und sie richtete diese geräumige, halb leere Wohnung ein. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass mehr Leute darin wohnten. Die Geister ihrer jüdischen Vorfahren, Entwürdigte, traten aus den dunklen Ecken hervor, um sich von ihr trösten und füttern zu lassen, und damit sie Wärme ins Haus zauberte. Und sie glaubte an den letzten Satz, der in allen Märchen vorkommt: Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Tik tak.
Jana hat das Herz eines Mädchens aus der Großstadt. Sie liebt es, durch die Prager Gassen zu spazieren, die Touristenmassen, den Lärm der Straßenbahnen, auf dem Pflaster abgelaufene Schuhe. Ungeduldig wartet sie auf das Glockenläuten des Kirchturms, als wäre es eine unentbehrliche Droge; sie kennt alle Statuen und Figurengruppen und in den steinernen Löwen der Prager Reliefs und Hauszeichen – in deren faulen Bewegungen und auch in der Vorbereitung zum Sprung – spiegelte sie sich selbst wieder. Die Löwin.
An dem Tag, an dem sie die Urne mit der Asche nach Hause brachte, hatte sie einen seltsamen Traum. Sie lag in ihrem Bett und stillte das neugeborene Baby. Das Bett wurde von einem Stück Stoff verhüllt – eine Decke, welche die Wöchnerin früher vor bösen Kräften schützen hätte sollen. Sie war mit roter Stickerei, Motiven blühender Bäume, die aus einem Herzen herauswuchsen, verziert, und vor dem Fenster drängten sich undeutliche, dunkle Gestalten – ohne Gesicht, ohne Profil, ohne Form. Sie klopften an das Fenster, sie wollten herein, und Jana wusste, es war das Neugeborene, das sie herbeigerufen hatte. Erschrocken wachte sie auf, doch gestärkt durch diese Umarmung aus dem Jenseits, so als würde man ein Fischlein im Aquarium füttern oder ihm Sauerstoff ins Wasser pumpen, so, als würde jemand Unbekannter die Wurzeln einer austrocknenden Pflanze mit Wasser besprenkeln. Seitdem schläft sie nicht mehr ein. Sie schläft überhaupt nicht mehr. Sie hört fremde Stimmen, dauernd flüstern sie ihr zu: Lass uns rein. Und sie hört zu, während die runde Uhr aus Blech im Vorzimmer steht. Sie blieb stehen und läuft seitdem nicht mehr. Seit dem Tag, als sie dieses Fenster putzte. Genau in dem Moment, in dem der Riss in ihrer Fruchtblase auftrat und die Gebärmutter reizte. Schon am Tag darauf bekam sie eine Kanüle ins Handgelenk, Infusionen, Steroide, damit die Lunge des Embryos fertigwachsen konnte, etwas gegen Infektionen, etwas zur Beruhigung der Gebärmutter. Bis auf Alek sagte sie niemandem etwas davon, eine Woche lag sie in der Entbindungsanstalt; sie versuchte, das Kind zu behalten, und während sich der kleine Junge mit der Nabelschnur spielte, zählte sie die Schneeflocken vor dem Fenster und die Tropfen, die durch die Kanüle sickerten.
Als sie Alek zum ersten Mal traf, trugt er die Goldkette seiner Freundin um den Hals. Trotzdem bat er Jana, seinen Champagner mit ihrem Finger umzurühren, denn er mochte keine Kohlensäure. Als sie sich später in Gesellschaft zufällig wiedersahen, trug er keine Goldkette mehr um den Hals. Mit seinen vierzig Jahren war er weder verheiratet, noch geschieden, und er hatte auch nicht gerade viel Geld. Dafür war er gefragt. Absichtlich schmiegten sich die Frauen an seinen kräftig gebauten Körper und schlichen um ihn herum wie Katzen um die Beine ihrer Herrchen, wenn sie ihnen plötzlich vergeben, so als wäre nichts, als gäbe es nicht mehr Platz, als müssten sie sich einfach anschmiegen, auch wenn sie es gar nicht wollen, und sich lecken und die Krallen herausstrecken. Doch Alek hatte immer schon eine Schwäche für Rothaarige. Als er Jana auf ein Date einlud, fühlte sie sich wie die Gewinnerin eines Wettbewerbs, für den sie sich nie angemeldet hatte. Er nahm sie mit in die Bank, in sein Büro, rief seinen Vorgesetzen in Deutschland an, ging von einer Ecke in die andere und präsentierte sein fehlerloses Deutsch. Kurz davor hatte sie eine anthropologische Studie über das Gehirn gelesen, aus der sie erfahren hatte, dass die Entwicklung des Gehirns vor allem durch die sexuelle Selektion bedingt wurde. Weibchen bevorzugen Männer, mit denen sie gut reden können, und sie fühlte sich in diesem noblen Büro wie ein vorzeitiges Weibchen, das die kommunikativen Fähigkeiten eines eventuellen Partners bewertet.
Sie erzählt Tinka im Restaurant mit Ausblick auf Prag darüber, und mit ihren Augen durchsucht sie die Splitter des gemeinsamen Lebens mit ihm. Sie sind überall im verschneiten Prag verstreut. Die nicht fertig gestellte gotische Kirche St. Maria zum Schnee ist deutlich höher als die moderne Bebauung, die diese Kirche umgibt. Sie wurde großzügig entworfen – das Kirchenschiff hätte vierzig Meter hoch und hundert Meter lang sein sollen. Der neue Krönungsdom Karls IV. hätte mit dem Veitsdom rivalisieren können, doch die Hussitenkriege und die darauffolgende Not setzten dem groß angelegten Projekt ein Ende. Von den Plänen des Kaisers blieb nur der hohe Chorraum, den Licht durchflutet, als würde es uns daran erinnern, dass man im Leben nie auslernt. Der nicht fertig gestellte Dom – lediglich ein Presbyterium mit der Funktion einer Kirche – ist aber auch so imposant, er sagt etwas aus über den menschlichen Geist, der sich an die Sterne und an die verborgene Dunkelheit heftet, in der sich ein wahrhaftiges Schlachtfeld befindet. Das Ticken der Uhr misst den Moment des Untergangs, und schließlich wird alles vor der größten Helligkeit vergehen. Der dreißig Meter hohe Chorraum mit dem höchsten Altar in Böhmen, voller Licht und Sonne, sieht aus wie ein gestrandetes Segelschiff, das ans Ufer gezogen, restauriert und konserviert wurde. Angefertigt für Liebhaber von schwungvollen Gedanken und zugleich auch zur Warnung.
„Was machst du jetzt?“ Energisch hob Tinka die Hand mit der Armbanduhr und stieß die Kaffeetasse dabei um. Sie wischt die Kaffeepfütze auf der Untertasse mit einer Serviette auf, ohne daran zu denken, dass sie darin, wie auch im Kaffeesatz, ihr Schicksal finden könnte. „Trotzdem ist er ein Arschloch. Verlässt seine Frau, wenn sie ein Kind verliert!“
Jana fühlte sich wie in Teufels Küche, alle Wasserspeier auf dem Dach des Veitsdoms, diese dämonischen Kreaturen in Lebensgröße, drehten sich zu ihr um und riefen: Sag die Wahrheit! Sie weiß, dass sie Alek und auch Tinka, sie vermutlich noch viel mehr, mit ihrem Schweigen kränkt. Lügen können tödlich sein, aber was, wenn das auch für die Wahrheit gilt?
„Tinka, seit ich aus der Entbindungsanstalt heimgekommen bin, ist alles anders. Die Toten sprechen zu mir, mehr als die Lebenden.“
„Es ist noch ganz frisch, das geht vorüber, keine Angst“, ungeduldig schlug sie ein Bein über das andere. „Am besten du erzählst das niemanden, sonst bringen sie dich in eine Irrenanstalt.“ Tinka schaut sich nicht um, schaut nicht in sich hinein, jagt keine flüchtigen Sequenzen, die sich irgendwo in ihrem Unterbewusstsein befinden. Sie ist hier für die Anderen, für die Lebenden. Viktor ist zurzeit zwar in Afrika, aber Makeda wartet im Kindergarten auf sie. Sie muss abgeholt werden. Sie wusste das mit der Sicherheit einer Frau, die nicht liest, nicht träumt, keine Luftschlösser baut, keine Zweifel hegt und ihrer Familie so viel gibt, wie sie selbst bekommt. Sie ist nicht auf der Suche nach ihrem Platz, ihrer Bestimmung, sie lebt es. Ein Türhüter in ihrem Kopf, der das Gehege mit Raubtieren, Greifvögeln und Reptilien, aus dem sie kommt, verwaltet, kann ihr gestohlen bleiben. Sie lebt jede Minute so, als ob es ihre letzte wäre. Von ihrem äthiopischen Vater erbte sie afrikanische Gene, und je mehr sie Afrika in ihrem Blut verdrängte und es zu verstecken versuchte, desto mehr strahlte es nach draußen. Heute ist heute, und wer morgen sagt, der lügt.
Jana liebt die Familie ihrer Freundin, sie betrachtet sie als ihre eigene, sie besucht sie regelmäßig und saugt den Geist des Familienglücks auf, aber seit sie aus ihrem Urlaub in Kenia zurück ist, besuchte sie Tinka nur, wenn Viktor verreist war, und in Gedanken stellt sie heimlich ein Schälchen mit Milch und Honig an die Schwelle ihrer Wohnungstür – für die Hausschlange, für den Schutzgeist, zur Sicherheit.
In all den Jahren, die sie sich kennen, arbeitete sich Tinka hoch und wurde zu einer erfolgreichen Fotografin der Mode- und Modelwelt, und sie brachte Makeda zur Welt. Sie kümmerte sich um sie und hörte nicht auf, zu fotografieren – sie nahm die Kleine, in einem Tragetuch auf den Rücken gebunden, überallhin mit, sie entwickelte sich professionell weiter, während ihr Mann Viktor, ein promovierter Afrikanist, Reisender und weltweit anerkannter Fotograf, mehrere wissenschaftliche und private Expeditionen auf dem schwarzen Kontinent unternahm.
„Was wirst du mit dieser riesigen Wohnung machen? Sie hat dir nur Pech gebracht“, rief Tinka Jana zu, als sie das Restaurant bereits verlassen hatten und Tinka zum Abschied winkte. „Du kannst mich immer anrufen, ja?“, in der Tür drehte sie sich noch einmal um. Sie drehte sich immer um. Auf der Treppe zu Hause, beim Einsteigen in den Zug, in den Bus, ins Flugzeug; sie lehnte sich aus dem Fenster, wenn Gäste ihr Haus verließen; und in der U-Bahn, wenn die Meldung „Bitte beenden Sie das Ein- und Aussteigen. Die Türen schließen.“ zu hören war, stand sie ganz bestimmt in der Tür und hatte das letzte Wort.
Jana wurde sich bewusst, wie verschieden sie beide sind. Sie selbst ist im Unterschied zu Tinka erbarmungslos introspektiv, sie dringt tief in ihr Denken und ihre Seele ein, und ähnlich wie in der Archäologie, wo sie eine Besiedelungsebene nach der andere frei, bis zur letzten, ältesten freilegt, deckt sie auch in ihrem eigenen Selbst alle Ebenen des eigenen Ichs frei, bis sie zu den Trieben gelangt, die wir von unseren tierischen Vorfahren erbten. Auf dieselbe Weise untersucht sie auch alles um sich herum. Ununterbrochen blitzen störende Gedanken durch ihren Kopf, schmerzvolle Erlebnisse und Ereignisse, eigene und fremde Emotionen. Sie vermag es, mental in die Köpfe anderer einzutauchen, und, was am schlimmsten ist, auch in die Köpfe jener, die längst verstorben sind.
Was wirst du mit dieser riesigen Wohnung machen? … Pech! Ein unermüdliches Echo von Tinkas Worten zermürbte sie auf dem Heimweg; es glitt über die Rolltreppe in die U-Bahn, resonierte im Waggon und in ihrem Kopf und rivalisierte mit den schmerzvollen, noch frischen Erinnerungen aus der Entbindungsanstalt. Sie vertreiben, sie in eine Ecke drängen und töten. Die Zeit ist das einzige Heilmittel. Sie verfärbt die Erinnerungen, sie verzeichnet, sie hilft. Immer. Doch die Zeit bei ihr zu Hause ist nicht nur stehen geblieben, sie hat sich auch umgedreht.
Die Wände der Häuser sind wie ein Schwamm, sie saugen alles rundherum auf, und dann strömen diese Saugheber wieder alles heraus. Oft spürt Jana in ihrer Wohnung jemandes längst vergangene Angst, so stark, dass man sie mit einem Messer schneiden könnte.
Genauso ist es auch mit Krankheiten. Wenn sie ihren Ursprung in zerrütteten zwischenmenschlichen Beziehungen haben, ziehen sie sich über nachfolgende Generationen. Auch die Opfer des Holocausts oder Opfer von Kriegsverbrechen werden in ihren eigenen Nachkommen wiedergeboren, es nimmt kein Ende. Das Spiel ist immer noch im Gange. Blut stirbt nicht, sondern wird in den nächsten Generationen wiedergeboren, immer und immer wieder. Im Blut ist alles, auch der Preis des Lebens.
Die ursprünglichen Eigentümer des Hauses, in dem Jana wohnt, und die Bewohner des gesamten dritten Stocks waren ihre Vorfahren väterlicherseits – eine erfolgreiche Juristenfamilie. Zwei Frauen verließen es zur Zeit des Protektorats als letzte – mit einem gelben Stern am Mantel und einem Koffer in der Hand.
Rút und Erna.
Schon bei Sonnenaufgang zogen sie sich an. Sie mussten die Wohnung vor zwölf Uhr verlassen und alles musste an Ort und Stelle bleiben. Irgendein ungeduldiger SS-Mann kam am Vormittag noch zweimal vorbei, um sie forsch zu ermahnen. Die widerspenstige und wilde Erna ließ einen Ärmel des Leopardenpelzes ihrer Mutter, den sie im Gegensatz zu den anderen Pelzmänteln nicht abgegeben hatte, absichtlich in der Tür des Schranks eingeklemmt. Zur Schau gestellt. Sie stellten ihre Koffer mitten in die Eingangshalle, auf die großen Marmorfliesen mit Schachbrettmuster, und gingen dann noch ein letztes Mal durch die Wohnung – moderne Möbel aus brasilianischem Palisander standen auf dem polierten Parkettboden, sie vermengten sich mit Jugendstileinrichtung, verziert mit Blumen und übermäßigem Dekor in Form von Libellen, wunderbare Luster mit rosa, gelben und weißen Kelchen, mit Blütenranken umgeben, Kristall und Ebenholz, Kerzenhalter aus Elfenbein, Lampen aus Marmor. Rút, mit aufwändigem Haarknoten, platinblond, der in letzter Zeit vernachlässigt und zerzaust war, verabschiedet sich von ihrem Bücherregal, Erna zieht die schweren Vorhänge aus Samt und Brokat im noblen Arbeitszimmer ihres Vaters zu. Dann glitten ihre Augen über die im Salon aufgehängten Familienporträts, Fotografien, und die traurige Großmutter, die sie resigniert auf das Sofa setzte. In der leerstehenden Rechtsanwaltskanzlei saugten sie einen noch nicht verflogenen, männlichen Duft ein, und davon gestärkt setzten sie sich an den Tisch in der Küche. Sie hatten noch Zeit. Rút war von den blau-weißen Fliesen eingenommen, schon lange war kein Dienstmädchen mehr hier, und niemand machte sauber, in den Windungen eines Pflanzenornaments klebte Himbeermarmelade. Sie seufzte auf und schaute ihrer Enkelin in die Augen. Erna stand auf, nahm ein kleines Messer mit Elfenbeingriff aus der Schublade, kniete sich hin und begann, die Marmelade von der Fliese zu kratzen. An der Tür ertönte ein schüchternes Klopfen. Das ehemalige Dienstmädchen war gekommen, um sich zu verabschieden. Erna öffnet ihr die Tür, alle drei Frauen sind zu Tränen gerührt, und dann löst sich das klarsichtige Gemüt der Großmutter in der gläsernen Auskleidung der Küchentür auf – und wie ein Geist streicht Rút über die eingeätzten Mohn- und Sonnenblumen.
Jana zerschlug die geätzte Auskleidung in einem Flügel der Schlafzimmertür, als sie, während sie schwanger war, die Leiter zu diesem verflixten Fenster trug. Den Menschen liegt nichts an schlechten Vorzeichen – sich Versprechen, Stolpern, Fallen, wenn etwas kaputt geht, das Stehenbleiben der Uhr, und im schlimmsten Fall das Bersten der Glocke im Kirchturm. Danach heulte sie über diese mehr als hundert Jahre alten Scherben, sie hielt sich den Bauch und tauchte einen Lappen in Essigwasser. Sie hörte Schritte, das Knirschen der Scherben unter den Füßen. Erneut spürte sie, dass sie in dieser Wohnung nicht allein ist. Sie wartete, ob vielleicht jemand ins Schlafzimmer hereinkommen, sie umarmen und ihr sagen würde, dass nichts passiert sei, dass es nichts ausmache, dass Scherben Glück brächten. Vielleicht Rút, vielleicht Erna mit orangefarbenen Feuerchen in den Augen.
Sie wartet immer noch.
Die Stuckverzierungen zogen sich an den Rändern der Decke des gesamten Vorzimmers entlang, mit Ausnahme einer Seitenwand, die an die benachbarte Wohnung grenzte. Eine derartige Unausgeglichenheit kränkt das ästhetische Empfinden. Dasselbe Problem gibt es auch im ehemaligen Salon beim Ledersofa aus der Zeit der Ersten Republik. Nach dem Krieg wurden die Wohnungen kleiner gemacht, die geräumigen Salons der Vorkriegszeit wurden abgetrennt, das Land wurde aufgeteilt oder von Mauern mit Stacheldraht umschlossen. Später klebte jemand Linoleum auf die farbigen Fliesen in der Küche. Alek machte sich auf ihre Bitte daran, es abzunehmen, keine leichte Arbeit, er entfernte eine grobe Schicht Klebstoff und für Jana blieb die Feinarbeit, mit Messern und Kratzern. Es gelang ihr, die Fliesen mit Pflanzenornamenten Stück für Stück von der Last der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu befreien. Sie ist Archäologin, und diese feine Arbeit mit Spachteln, Löffelchen und kleinen Besen liegt ihr. An einer Stelle entdeckte sie Spuren von Marmelade, und ein Stück weiter einige zersprungene Fliesen. Das erregte sie genauso, wie die Entdeckung eines menschlichen Knöchleins oder einer Tonscherbe bei einer ihrer archäologischen Ausgrabungen. Jeder aus der Erde ausgegrabene Gegenstand hat seine Geschichte, und zu einem gewissen Zeitpunkt war eine menschliche Erfindung für sie abgelaufen: die kausale Zeit.
Die Uhr im Vorzimmer schweigt allerdings. Die Zeit vergeht nicht, die Zeiger sind verkrampft. In einer der Wohnungen im dritten Stock des neobarocken Gebäudes erstarrte alles.
Und doch gibt es eine Bewegung im Fenster, hoch über den Bäumen am Straßenrand: Über den Fußgängern, hinter cremefarbigen Vorhängen dreht sich Jana wie ein hölzerner Apostel auf der astronomischen Uhr in der Altstadt. Sie ist ganz in Schwarz und ähnlich wie ein schwarzes Loch im Weltall verschluckt auch sie Licht. Sie schafft es, die Welt um sie herum zu löschen. In sich selbst zu versinken, den Hundertjährigen zu verfallen. Sie ist Archäologin und die längst vergangene Zeit, dutzende vergangene Jahrhunderte, die Millionen Skelette, an denen sie täglich vorbeikommt – es sind Pfeiler, an denen sie sich abstützen kann. Sie lebt mehr in dem, was war, als in dem, was ist. Außerdem ist sie eine Wöchnerin ohne Neugeborenes, und sie hat den Eindruck, sie sei verrückt geworden. Sie schlürft heißen Kaffee, schon der fünfte heute, und schaut den Wenzelsplatz hinauf. Im Mittelalter hieß er Pferdemarkt, aus der Peripherie der Prager Neustadt gesehen. In den stillen, frostigen Tagen ihres gegenwärtigen unerfüllten Wochenbetts hört Jana den heißen Atem der Pferde hinter ihrem Ohr, und das Wiehern und Klagen der Huftiere, die man nicht gut behandelt. Es schneit ganz leicht. Durch die leuchtende Spur der Lampe fällt goldener Staub, und eine Taube setzte sich auf das Gesims. Der Wind fegt durch einen in einer kahlen Baumkrone hängen gebliebenen Plastikbeutel. Jana erschrickt, die Taube ebenfalls. Sie breitet die Flügel aus und fliegt davon. Jana hypnotisiert dieses widerliche Zeug aus Plastik, aber als sie aufhört, sich zu konzentrieren, schielt sie ein klein wenig und kneift die Augen zusammen. Sie sieht aus wie eine Keramikente, zur Zierde aufgehängt, wie ein mittelalterlicher Wasserbehälter, der auf einer gedeckten Tafel steht, damit sich die Gäste darin ihre Hände waschen können. Mit den Wöchnerinnenaugen einer Archäologin blickt sie zur Jindříšská-Straße und sieht einen Bildstock aus Stein, mit Schnitzereien, und ein Stück weiter einen Galgen. Und obwohl die Dämmerung erst langsam hereinbricht, nimmt sie die gefährliche Dunkelheit vergangener Zeitalter wahr – an den Ecken der niedrigen, buckeligen Häuser leuchtet harziges Holz, das in eisernen Körben liegt, und irgendein einsamer Fußgänger trägt eine Laterne …
Sie nimmt einen weiteren Schluck Kaffee.
Den besten Kaffee trank sie in Kenia. Die Kanne, das Milchkännchen und die Zuckerdose waren aus Silber, und der Kellner, der für ihren Tisch zuständig war, hieß Charlie. Alek und sie hatten einen Tisch für zwei Personen. Sie saßen am Strand unter einem Dach aus Palmenblättern, der indische Ozean spielte Ebbe und Flut, unterschiedlich große Krabben krochen über einen großen Stein, der aus den Wellen ragte. Alek hatte sich absichtlich Nüsse bestellt und passte auf, wie lange es dauern würde, bis die Äffchen auftauchen, und auf welche Ideen diese Gauner mit den langen Schwänzen wieder kommen würden. Er war wie ein Kind. In Afrika jedoch imponierte ihr seine angeborene Verspieltheit nicht mehr. Nachdem sie eine Nacht unter einem Himmel voller Sterne mit dem schwermütigen Viktor verbracht hatte, mit dem sie sich liebte. Die Nacht, in der die beiden ohne es zu planen, ein Fünkchen entzündeten, ein neues Leben, während Alek, nichts ahnend, im Hotel schlief.
Aus Viktors Umarmung konnte sie nicht mehr in die von Alek zurückkehren. Sie begriff, dass Alek zu den schwankenden Teilen gehörte, die sie daran hinderten, die Kostbarkeiten des Lebens zu entdecken, und dass ihre Beziehung schwach, nichtig war, dass es zwischen ihnen nicht funkte, dass es nie Streit oder Unstimmigkeiten zwischen ihnen gab, dass eine Beziehung zwischen Mann und Frau nicht nur Licht, sondern auch Schatten brauchte, um plastisch zu erscheinen. Sie war ihm gegenüber ausgekühlt, und nachdem sie festgestellt hatte, dass sie schwanger war, sagte sie ihm, dass ein fremdes Kind in ihr wachse, in einem so ruhigen Ton, als würde sie ihm mitteilen, sie bekäme Weisheitszahn.
„Jana, von wem hast du es?“, fragte er sie nüchtern.
„Du Schlampe, von wem hast du es?“, attackierte er sie betrunken.
Sie sagte es nicht.
Sie warf ihn nicht hinaus, und er ging nicht. Sie lagen nebeneinander und warteten, dass etwas passiert. Er brachte sie in die Entbindungsanstalt, als sie einen feuchten Fleck in ihrer Unterhose entdeckte, und hinterließ seine Telefonnummer im Schwesternzimmer. Eine korpulente, energische Krankenpflegerin nannte ihn Papa … Etwas in ihm legte sich quer, doch er protestierte nicht. Erst als die kleine Urne mit der Asche auf dem Schrank stand, erschrak Alek, er packte seine Sachen und ging.
Aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck