A. Gravensteen

Eisbewegungen

2019 | Paseka

Dunkelheit. Knirschen. Knacken. Eis. Schnee

Ich bin klein, winzig klein, der Kleinste von allen. Ich lebe hier zwischen Eiskristallen, mit vagen Erinnerungen an die klare, heiße und unbewegliche Welt meiner Vorfahren.

Meine Welt bewegt sich. Langsam und in eine Richtung. Als würde sie von etwas angezogen werden.

 

 

1. Teil

 

Glaziologie für Anfänger

 

Der Treibhauseffekt

Der Treibhauseffekt tritt unbemerkt ein: du drehst dich nach einer verschwommenen Gestalt um, die mit geheimnisvoller Miene vorbeigeht, greifst nach einem halbvollen Glas, grübelst über die Sinnlosigkeit jedweden menschlichen Handelns nach, und schon ist er da. Die Wände des Glashauses lassen die Sonnenstrahlen hindurch – du musst die Augen zukneifen, versuchst sie zu verscheuchen, aber sie bleiben. Dir wird heiß, Schweiß rinnt über deine Stirn, du kannst ihn jedoch nicht wegwischen: in der einen Hand hältst du das Glas und mit der anderen streichst du zum Zeichen der Vergeblichkeit langsam über deinen Kopf.

Enzyklopädie der schlechten Nachrichten

 

1

Im Prinzip bin ich ein ausgeglichener und zufriedener Mensch. Ich kann es nur nicht ausstehen, wenn jemand mich manipulieren will.

Und noch weniger ausstehen kann ich, wenn ich unterliege.

Ich bin ein geeignetes Manipulat für die heutige Zeit.

Für den den heutigen Tag zum Beispiel.

 

Am heutigen Tag wird endlich, mit sieben Jahren Verspätung und deshalb mit gehörigem und unerträglichem Pomp, das neue – und sagenhaft teure – Tropenhaus im Botanischen Garten in Prag-Troja eröffnet. Eine Skulpturengruppe aus Glas, Stahl, Pflanzen und Schmetterlingen von allen Enden der tropischen Welt. Eine Schlacht der Egos von Wissenschaftlern und Architekten um das größte Stück der nicht allzu ausgeprägten medialen Aufmerksamkeit. Ein Abend der langatmigen, langweiligen und inhaltslosen Ansprachen, der schleimigen Danksagungen an die Sponsoren und der Reden über die große Welt, die nur sehr unvollkommen die Mauscheleien überdecken. Und ich werde dabei sein, mit Stift und Notizbuch.

Natürlich wäre es tausendmal sinnvoller, ein paar Tage zu warten, bis das ganze Gewese verstummt ist, um dann als gewöhnlicher Besucher dort vorbeizuschauen. Das schwüle und feuchte Klima des tropischen Regenwaldes und die zweifellos gewagten Linien des Glashauses genießen, die das Licht so einfallen lassen, dass man tatsächlich das für die unteren Stockwerke des Regenwaldes typische Halbdunkel erleben kann. Das alles langsam, in Ruhe, und alleine auskosten. Und dann darüber schreiben, der Wahrheit entsprechend, meiner kleinen subjektiven Wahrheit entsprechend.

Also genau das Gegenteil dessen, was heute abgehen wird: Die Feierliche Eröffnung. Unser Tropenhaus, verehrte Freunde, ist das beste. Das modernste. Es ist am artenreichsten. Am feuchtesten. Am allerwärmsten. Am allermeisten. Am aller-.

In der Redaktion hat dieses Argument natürlich nicht bestehen können. Du willst über die Wissenschaft schreiben? Du willst. Das ist deine Chance! Zeig, dass die Wissenschaft interessant ist!

Noch dazu – diese Verbindung von Wissenschaft und Architektur! Das Geld! Die virtuelle Realität aus den Medien ist Wirklichkeit geworden! Die wirkliche Realität interessiert keinen! So viele Ausrufezeichen in einem Satz!

Da ist schon etwas dran. Als Journalist, der über Wissenschaft schreibt, sollte ich in die Welt hinausrufen: die Wissenschaft ist etwas Erstaunliches! Lasst uns staunen!

Fakt ist, dass die Wissenschaftsjournalistik in diesem Land im Grunde nicht existent ist. Es ist ein Teufelskreis – die Wissenschaft kommt in den Medien fast nicht vor, und deshalb wissen die meisten Menschen nichts von ihr. Wahrscheinlich halten sie sie für das Privatvergnügen von ein paar harmlosen Irren. Von verrückten Professoren mit zerzausten weißen Haaren wie aus Science-Fiction-Filmen. Von älteren Frauen in weißen Kitteln, die sich in den Tiefen von Forschungsinstituten verkrochen haben, weil sich in ihrer Jugend niemand für sie interessierte. Von scheuen jungen Männern mit Brille, die in einer geheimen Sprache sprechen und bei ihren Müttern wohnen. Was allerdings keine völlig verkehrten Vorstellungen sind: all diese Figuren existieren, in ihren Blasen aus Tabellen, Diagrammen und Texten in Sammelbänden. Nur ist das nicht die ganze Wahrheit, noch nicht einmal ihr wichtiger Teil.

Die Wissenschaft ist eine seltsame Welt, etwas verschlossen und auf den ersten Blick vielleicht langweilig. Man muss jedoch kein Genie sein, um zu erkennen, dass die Wissenschaft als Methode, als Denkweise und zur Erkenntnis der Welt in ihrem Wesen – unter der Oberfläche und manchmal auch ziemlich weit in der Tiefe – notwendig ist. Um zu verstehen, dass nichts aus dem Nichts entsteht und nichts spurlos verschwindet. Oder etwa nicht? Vielleicht ist das zu tief gedacht, wohin die Mehrzahl der Zeitungsleser und Fernsehzuschauer nicht vordringen kann, und schlimmer noch, nicht vordringen will. Und deshalb kommt die Wissenschaft in den Medien fast nicht vor. Der Kreis schließt sich.

Die Wissenschaftler sollten sich ein bisschen zusammenreißen und anfangen zu trinken, Drogen zu nehmen, Sex miteinander zu haben, zu intrigieren, zu lügen, zu betrügen. Das tun sie jedoch schon seit langem – sie machen genau das Gleiche wie alle anderen menschlichen Wesen. Nur interessiert sich keiner dafür.

Und ich mache mich heute auf den Weg nach Troja, um den tschechischen Wissenschaftsjournalismus zu reanimieren. Kurz vor vier verlasse ich die Redaktion in der Na Poříčí Straße und fahre mit dem Rad nach Hause zur Palmovka, um mich zu duschen und umzuziehen. Heute brauche ich etwas, was unauffällig, aber überzeugend lügt: ich bin ein erfolgreicher junger Mann, ein Metropolenbewohner, habe einen angesehenen Beruf und gehe, nur so nebenbei, zu der Party im Tropenhaus.

So möchte ich aussehen, wenn ich mich gleich mit Anna treffe.

 

Anna und ich haben uns an der Universität kennengelernt. Ich studierte damals im dritten Jahr Journalistik und sie war im zweiten Studienjahr Jura. Ein normales Mädchen, Jeans, ein T-Shirt mit rebellischen Motiven, einen Ring in der Nase, in den Kneipen trank sie ganze Biere. Das erste Mal begegneten wir uns – daran kann ich mich bis heute genau erinnern, und ich weiß nicht, ob das gut ist – beim Anstehen vor der Toilette in einem Studentenclub, den es glücklicherweise nicht mehr gibt. Sie war ziemlich betrunken, lächelte allen und keinem zu. Als sie an der Reihe war, drehte sie sich langsam zu mir um und lud mich mit ernster Miene zu sich in die Kabine ein, um mir ihr neues Tattoo zu zeigen. Das juckte wohl scheußlich. Ich lehnte mit gemischten Gefühlen ab, was sie freute. Die gemischten Gefühle vor allem. Manchmal ist das Leben einfach.

Das Tattoo war übrigens nichts Besonderes, wie ich später herausfand. Vor fünf Jahren haben wir uns getrennt – wir nannten es Trennung aus Vernunftgründen, weil sich die Emotionen zu dieser Zeit schon aus unserer Beziehung verflüchtigt hatten – und Anna begann Karriere zu machen. Sie nahm den Ring aus der Nase, zog ihr T-Shirt aus, bedeckte das Tattoo mit luxuriöser Unterwäsche, schlüpfte in ein gesetztes Kostüm und zog nach Brüssel, um eine reiche, moderne Europäerin zu werden. Meine Mutter, die durch einen merkwürdigen Zufall mit ihren Eltern bekannt ist, sagte zu mir: das hat sie gut gemacht. Schau dich mal an! Ich wäre auch abgehauen. Tja, es geht eben nichts über die Unterstützung durch die Familie. Anna hat jetzt Kollegen und Freunde aus der ganzen zivilisierten Welt, einen Verlobten, der aussieht wie aus einer Uhrenwerbung, und sie ist süchtig nach Koffein, das sie im Gehen aus einem recycelten Becher konsumiert. Außerdem hat sie sich die unerträgliche Gewohnheit zugelegt, mich jedes Mal, wenn wir uns sehen, anzulächeln als sei ich ein Kind. Was im Großen und Ganzen einmal im Jahr ist und langsam beginnt, eine weitere unerträgliche Angewohnheit zu werden. Ich kann jedoch nicht nein sagen. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass es weit schlimmer wäre, wenn ich ablehnen würde. Dass es so aussähe, als hätte ich Angst vor ihr und versuchte ihr aus dem Weg zu gehen. Kurz gesagt, dass sie die Wahrheit erkennen könnte. Und das ist das Letzte, wonach mir der Sinn steht.

Und so schreite ich über die Brücke von Líbeň, frisch rasiert und parfümiert, in einem sauberen, wenn auch nicht allzu gründlich gebügelten Hemd mit merkwürdigem Muster, und versuche mir durch die halb zugekniffenen Augenlider vorzustellen, die Moldau wäre die Themse und der Hafen von Holešovice der Canary Wharf, damit auch ich mich kosmopolitisch fühle.

„Wartest du schon lange?“, fragt sie, als sie mit zwanzig Minuten Verspätung das Café betritt. Es folgen mehrere Sekunden von nicht zu Ende gebrachten Bewegungen mit Begrüßungscharakter: ich weiß nicht genau, wie wir uns begrüßen und verabschieden sollten. Küssen sollten wir uns wohl nicht mehr, ein Handschlag ist doch etwas zu kühl; meist übergehen wir das irgendwie unauffällig. „Ich habe heute echt noch viel vor, am Sonntag muss ich zurück nach London“, fährt sie fort. Ich habe Lust ihr zu sagen, dass ich gerade dort gewesen bin, wenn auch nur in Gedanken.

„Ich bin eigentlich nur wegen einem Brief gekommen, der an meine alte Prager Adresse gehen sollte“, führt sie ihren Monolog fort, ohne sich besonders dafür zu interessieren, ob ich ihr überhaupt zuhöre. „Er ist aber gar nicht angekommen. Ist wahrscheinlich verloren gegangen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass alle wichtige Post in irgendwelchen Parallelwelten endet.“ Wahrscheinlich in der, in der sie noch immer in Podolí wohnt und Jeans und T-Shirt trägt.

Ob sie überhaupt noch trinkt? Ob sie überhaupt noch pinkeln geht? Oder spielt sie das nur so vor? Ich habe heute doch auch ein Spiel vorbereitet: „Ich muss eigentlich auch gleich wieder los… ich gehe zur feierlichen Eröffnung des neuen Tropenhauses in Troja, große Sache …“ Ich versuche vorzutäuschen, dass mir das nicht weiter wichtig ist, was eigentlich die Wahrheit ist, aber aus einem ganz anderen Grund als dem, den ich vorzutäuschen versuche. Ich komme mir vor wie ein Idiot.

Ihr etwas umwölkter Blick, der dem von unserer lange zurückliegenden ersten Begegnung vor der Toilettenkabine nicht unähnlich ist, verrät, dass sie überhaupt keine Ahnung hat, wovon ich rede.

„Ich habe schon überlegt, dass du merkwürdig aussiehst.“

Wie ein Idiot.

Dafür siehst du immer besser aus, und dabei hast du gar nicht schlecht angefangen. Als wir zusammen waren, kam mir das wie eine Selbstverständlichkeit vor. Jetzt ein bisschen wie ein Science Fiction. Das Gespräch kommt ins Stocken; mir kommt es überhaupt so vor, dass jedes unserer Treffen schlimmer ist als das vorherige. Ich trinke das zweite Bier in einer halben Stunde zu Ende und male mir aus, wie ich gleich nervös dreinschauen, auf mein Handgelenk gucken und mich dann entschuldigen werde, dass die Zeit rennt und ich leider schon los muss.

„Fräulein, ich zahle, ja, für beide“, kommt sie mir mit erhobener Hand zuvor und lässt sie dann wie eine kleine Ohrfeige in Form der nachsichtig gezahlten Rechnung fallen. Sie reicht mir die herabgefallene Hand (zum ersten Mal) lächelt mich an, als sei ich ein Kind und verlässt würdevoll das Café. Wie eine Dame.

Wie ein Idiot.

 

Es ist ein schöner Mainachmittag. Die Straßen sind voll schöner Maimenschen in schönen Maikleidern, die Arme verschlungen, um die Taillen, um die Schultern, um die Hälse gelegt. Die leeren Straßenbahnen knirschen in den Kurven und dröhnen auf den Geraden.

Ich gehe zu Fuß von Holešovice zum Ausstellungsgelände und dann durch den Stromovka-Park zum Fluss und nach Troja. Auf den Geraden knirsche ich mit den Zähnen und in den Kurven dröhnt mir der Kopf. In meinem leeren Magen gluckern zwei ganze Biere. Jede Ampel ist rot, so dass ich genügend Zeit habe, mir die großen Werbeplakate anzuschauen, die mit weiteren schönen zweidimensionalen Menschen übersät sind. Am Planetarium merke ich, dass ich nicht gut in der Zeit liege und lege einen Schritt zu. Am Tropenhaus treffe ich zu spät ein, atemlos und mit Schweißflecken auf dem Hemd. Wäre ich eine Comicfigur, würde eine schwere schwarze Wolke über mir hängen.

 

 

 

2

Die Feierliche Eröffnung ist in vollem Gange; Gläser klingen, Sekt perlt, Wissenschaftler und Architekten halten Reden, die Gäste applaudieren und lächeln müde. Junge Frauen in Schwarz, mit Tabletts in den unnatürlich vorgestreckten Händen. Blitzlichter klicken. Es ist hier genauso schwül und feucht wie ich es mir vorgestellt hatte. Mein Kopf dreht sich. Ich sitze etwas abseits auf einem großen Blumenkübel mit irgendwelchen Farnen, ein leeres Glas in der einen Hand, einen Wald von Cocktailspießen in der anderen. Mein Diktiergerät habe ich vergessen, im Notizbuch keinen einzigen Strich. Ich, der Retter der tschechischen Wissenschaftsjournalistik. Ich, der Erlöser. Ich, der Engel der leeren Seiten, der Gott der Saumseligkeit. Ich.

Der Alkohol hat eine eigene Sphäre um mein Ich gebildet, in der die Zeit anders vergeht als in der restlichen Welt. Um mich herum scheint alles stehengeblieben zu sein, dann wieder ist mir, als würden sich alle beschleunigt bewegen, wie in alten Filmgrotesken. Mir steht keine genaue Statistik zur Verfügung, ich ahne jedoch, dass die Intervalle zwischen den einzelnen Erscheinungen dieser Zeitanomalie um meine Person herum immer kürzer werden. Wird das nicht Zeitdilatation genannt? Dann wäre ich ein Dilatant. Einige meiner Bekannten nennen das auch erstes Stadium von Alkoholismus.

„Langweilst du dich?“, ertönt es plötzlich neben mir. Eine der schwarz gekleideten jungen Frauen mit den Tabletts steht dort und hat so etwas wie Mitleid in den Augen. Vielleicht sehe ich nur gelangweilt, nicht betrunken aus.

„War schon mal schlimmer“, mühevoll schalte ich in meinen professionell gelangweilten Ton, der jedoch schnell bitter wird. „aber ein gut gemachter Job wird mich entschädigen“.

„Das hätte ich nicht besser sagen können. Ich mag diese Arbeit! Und was machst du hier?“, fragt sie. Ich weiß nicht, ob ihr natürlich klingendes Duzen einer wenig wahrscheinlichen Sympathie für mich oder meiner offensichtlichen Unwichtigkeit geschuldet ist.

„Ich schreibe für die WELT… hauptsächlich über Wissenschaft und Umwelt und so…“, ich muss mich ziemlich anstrengen, um mir in Erinnerung zu rufen, was ich eigentlich mache. Vielleicht, weil der heutige Tag nicht unbedingt ein mustergültiges Beispiel für meine Arbeit ist. Vielleicht, weil keine meiner Arbeiten ein mustergültiges Beispiel für meine Arbeit ist.

Sie nickt, als hätte sie mich geprüft, und ich die richtige Antwort gegeben. „Ich hoffe, dass du wenigstens über das entsprechende Wissen verfügst. Wenn ich in der Zeitung über etwas lese, das ich kenne, komme ich meist nicht aus dem Staunen heraus.“

Die Antwort zwingt mich, meinen Blick schärfer zu stellen, dabei muss ich den Kopf ein Stück zurücklegen, wodurch ein Wasserschwall von den Blättern hinter mir auf mich niedergeht. Die Frau kann vierundzwanzig, fünfundzwanzig sein, sie ist hellhaarig, hochgewachsen, ein nordischer Typ, was einen schönen Kontrast zu ihrem schwarzen Fummel ergibt. Ich starre sie wahrscheinlich zu lange an, denn auf ihrem Gesicht breitet sich ein amüsiertes Grinsen aus. Schnell wende ich meinen Blick ab.

„Du bist wohl nicht wirklich Serviererin, oder?“, frage ich sie. Es klingt schleimig.

„Ich nehme das als Kompliment“, antwortet sie, noch immer mit diesem Grinsen. „Ich verdiene mir hier nur was hinzu, das Stipendium ist nicht gerade üppig.“ Ihre Stimme ist tief, ein bisschen heiser. Ich höre Glut ihn ihr, versteckt hinter Eiswürfeln, Rauch, Schatten. So stelle ich es mir zumindest vor.

„Was studierst du?“ Vielleicht der erste Satz, für den ich mich nicht schäme. Ich schaue ihr immer noch in die Augen. In die grünen, glaube ich, aber es ist ziemlich schummrig hier.

„Ich mache einen Doktor in Mikrobiologie. Bakterielle Degradation von Erdölprodukten. Langweilig.“ Den zweiten Satz artikuliert sie mit besonderer Sorgfalt und hochgezogenen Brauen, und dann zuckt sie leicht mit den Schultern, als wollte sie sich entschuldigen, dass sie keine Schneeleoparden in Afghanistan jagt.

„Einen Doktor? Dann bist du ja schon ein großes Mädchen.“ Manchmal denke ich, dass ich vor jedem Satz, den ich in einem Gespräch mit echten Menschen sagen will, auf den Flur gehen und ihn erst einmal ins Unreine sprechen sollte. Dann würde ich zurückkommen, als sei nichts gewesen und mich wieder ins Gespräch einschalten. Nur, dass man wahrscheinlich schon über etwas anderes sprechen würde und wenn ich reagieren wollte, müsste ich wieder raus auf den Flur.

Sie schnaubt verächtlich. Ich spüre eine nächste Anwallung von Trunkenheit und bedaure die Frau einigermaßen dafür, dass sie sich auf ein Gespräch mit mir eingelassen hat. Und ich spüre auch eine Aufwallung von Aufrichtigkeit, wie immer in diesem Stadium. „Warum unterhältst du dich eigentlich mit mir? Es gibt hier doch bestimmt eine Menge interessanterer Leute, und nüchternere. Und solltest du nicht Gläser einsammeln oder so?“ Demonstrativ will ich mich um mich selbst drehen, aber das ist keine gute Idee, ich verliere sofort das Gleichgewicht.

Es ist nicht zu glauben, aber sie ist nicht beleidigt, sie geht nicht weg, sie macht sich nicht einmal über mich lustig. Sie antwortet ganz normal: „Interessantere vielleicht. Nüchternere glaube ich nicht. Und das letzte Glas zum Einsammeln hast du in der Hand.“

Ich schaue mich um – vorsichtig – und wirklich, das Tropenhaus hat sich fast völlig geleert, bis auf ein paar Grüppchen und Paare in gedämpftem Gespräch. Die Party ist zu Ende. Wie ist das passiert, so plötzlich? Ich gebe der Frau das Sektglas und erhebe mich vorsichtig von dem Blumenkübel. Der Boden schaukelt etwas und mein Rücken schmerzt höllisch. Die Frau nimmt mein Glas, dreht es eine Weile in den Fingern und beobachtet mich amüsiert. Dann wird sie ernst, sie sieht nachdenklich aus, schließlich sagt sie mit einem gewissen Zögern:

„Wenn dich die tatsächliche Geschichte von dem Tropenhaus interessiert, die, über die die Herren Direktoren und Vorsitzenden nicht gesprochen haben, dann warte hier, ich bin in zehn Minuten wieder da.“

Und weg ist sie.

 

Was hatte sie da gesagt? Über was war während der feierlichen Eröffnung nicht gesprochen worden? Und worüber war eigentlich gesprochen worden? Und von wem? Ich denke so angestrengt nach, dass ich vergesse, mich auf mein Gleichgewicht zu konzentrieren, und so torkele ich ein paar Schritte zur Seite, ehe ich mich an einer verkrümmten Palme festhalten kann. Dann erinnere ich mich an einen nicht allzu großen Mann mit angegrautem, kurz geschnittenem Haar und einem schüchternen Lächeln, wie er sagt:

„Verehrte Gäste … ich freue mich … nach vielen … schließlich … einmaliges … ich danke Ihnen.“ Ich glaube, ich habe sogar geklatscht.

Und die ernste Miene, die sie gemacht hatte … die in dem schwarzen Fummel. Sie waren grün. Bestimmt waren ihren Augen grün. Wo war sie eigentlich geblieben? Die zehn Minuten waren vorbei, und die Frau war nicht gekommen. Die letzten Grüppchen zerstreuten sich in der Nacht. Und dann hatte ich es kapiert – logisch! Das war ein Manöver, das war ein Trick, um mich loszuwerden, um ohne die Gefahr von unerwünschter Gesellschaft von hier wegzukommen. Ich schließe die Augen und lache leise los, während ich mich noch immer an dem Stamm festhalte.

„So richtig lustig ist das aber nicht“, sagt die Frau in Schwarz. „Sorry, es hat ein bisschen länger gedauert als ich dachte. Also, was ist, bereit für eine düstere Geschichte?“

Mir ist nicht ganz klar, weshalb sie zurückgekommen ist. „Du hast das ernst gemeint? Intrigen hinter den Kulissen der dritten Palme von rechts? Schockierende Enthüllung: indonesische Art in der Abteilung Südamerika entdeckt!“

Sie wirft mir einen forschenden Blick zu und lächelt mich an, als sei ich ein kleines Kind. Wo hatte ich dieses Lächeln heute bloß schon mal gesehen?

„Weißt du, wieviel das Tropenhaus gekostet hat?“, fragt sie dann schon wieder in ernstem Ton.

„Hundert Millionen?“, biete ich. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.

„Zweihundertfünfzig. Und weißt du, wieviel es hätte kosten können, wenn man das Geld nur für die Dinge ausgegeben hätte, für die es eigentlich bestimmt war?“

Langsam beginne ich zu verstehen. Ein wenig. „Veruntreuung?“

Sie nickt. „So nennt man das wohl. Beránek hat die Ausschreibung für die Baustelle so hingebogen, dass nur eine einzige Firma den Kriterien entsprach: die von einem seiner Kumpel. Der hat dann mithilfe doppelter Bestellformulare und Rechnungen – die einen für die Augen von Öffentlichkeit und Auditoren und die anderen echten – doppelt so viel kassiert, wie gebaut wurde, und den Rest haben Beránek und er sich geteilt. Wie sprechen von Summen im achtstelligen Bereich. Aus dem Haushalt des Prager Magistrats.“ Ihre eisig glühende Stimme zittert ein wenig.

Ich erinnere mich dunkel, dass einer der Redner wirklich Beránek hieß. Na klar, der mit den grauen Haaren. (Die übrigen Redner hatten weiße.) Plötzlich sehe ich ihn in einem der letzten Grüppchen ungefähr fünfzehn Meter von uns entfernt herumstehen.

„Der da?“, vorsichtig zeige ich zu ihm hin.

Die Frau nickt. „Der Herr Direktor“, sagt sie mit unverhohlener Verachtung.

Mir scheint es, dass ich etwas nüchterner geworden bin. „Hör mal, woher weißt du das eigentlich?“ Ich habe jetzt definitiv meine eigene Sphäre verlassen und bin wieder Teil der mich umgebenden Welt.

Mit einem Mal wird die Frau sichtlich nervös. „Nicht hier. Hier könnte uns jemand hören. Und wir müssen ja sowieso schon gehen. Gib mir deine Nummer, ich melde mich. Dann können wir uns irgendwo treffen.“

Auch wenn ich nicht genau weiß, warum ich das tue, kritzele ich meinen Namen und meine Nummer auf ein Stück Serviette, die Frau steckt es in ihre Tasche und geht. Dann dreht sie sich noch einmal um und sagt leise: „Ich heiße Klara. Damit du Bescheid weißt, wenn ich anrufe.“ Und sie ist wieder weg, jetzt aber wirklich.

Während ich langsam auf den Ausgang zusteuere, schaltet jemand das Licht aus. Vor dem Tropenhaus stehen noch ein paar Leute und rauchen. Im Dämmerlicht erkenne ich auch den Direktor Beránek. In einer Hand hält er eine Zigarette, mit der anderen berührt er flüchtig die Schulter einer Dame in einem Lederjackett. Als ich an ihnen vorbeikomme, beäugen sie mich argwöhnisch. Ich deute ein Nicken an und mache mich auf den langen Heimweg, nach Líbeň.

 

Ich trete in die Durchfahrt eines alten Hauses und steige dann die Stufen zum zweiten Stock hoch. An der Tür ganz weit hinten hängt ein Schild, aber ich kann es nicht genau erkennen, im Flur ist es dunkel. Ich klopfe an, und eine Stimme bittet mich hinein. Ich befinde mich in einem einfachen Büro mit einem langen Tisch, mehreren Stühlen und einer Neonleuchte an der Decke. Hinter dem Tisch sitzt eine Frau in einem Kostüm. Sie sieht streng aus. Links und rechts von ihr zwei Männer, denen ich nicht ins Gesicht sehen kann.

„Setzten Sie sich bitte“, fordert mich die Frau auf. „Erzählen Sie uns etwas über sich.“

Ich setze mich auf den Stuhl am Fenster, hinter dem die Dächer der Straßenbahnen vorbeigleiten, die am Kaufhaus Weißer Schwan vorbeifahren.

„Ich heiße Miroslav Hammer, ich studiere Journalistik und interessiere mich vor allem für Themen, die mit Wissenschaft und Umwelt in Verbindung stehen“, rattere ich den Text runter, den ich in den letzten Tagen mit einem zudringlichen Schamgefühl einstudiert hatte. Die Frau hört höflich zu. Dann unterbricht sie mich:

„Wie würden Sie die Nachricht vom Ende der Welt schreiben?“

„Wie bitte?“, frage ich verständnislos.

„Die Welt geht unter. Damit meine ich verständlicherweise nicht unsere Zeitschrift, die macht natürlich weiter. Ich meine unsere Welt“, mit einer allumfassenden Geste weist sie um sich. „Es ist einfach Weltuntergang. Wie würden Sie das den Lesern mitteilen?“

Ich überlege lange. Die Frau – offensichtlich die Chefredakteurin der Welt höchstpersönlich – sieht mich erwartungsvoll an. Die Spitze ihres Kugelschreibers schwebt ungeduldig über dem Papier; sie wird sich kritische Notizen über mich machen.

„Ich würde das vielleicht ‚Über die Welt. Letzter Teil‘ nennen, versuche ich einen Scherz, aber er funktioniert nicht. Das Gesicht der Chefredakteurin ist meinem plötzlich ganz nahe.

„Was ist mit dem Staub? Über den Staub würden Sie nicht schreiben?“, fragt sie.

„Den Staub?“

„Ja. Beim Weltuntergang staubt es immer ganz entsetzlich. Dicke Staubschichten bedecken die Straßen, der Staub dringt in die Häuser, die Wohnungen, die Münder ein. Die Züge bleiben stehen, die Gleise sind vom Staub zugeweht. Die Menschen sind grau vom Staub und vor Angst. Sie wollen schreien, aber sie können nicht – der Staub hat ihnen die Münder verstopft. Verstehen Sie das? Der Staub ist überall!“, schreit sie mir jetzt entgegen. „Würden Sie über ihn schreiben? Schreiben Sie das! Schreiben Sie, dass jetzt das Ende gekommen ist“.

Plötzlich liegt überall Staub, auf dem Tisch, auf dem Boden, auf dem Bürofenster, ich kann kaum die Straße unten erkennen. Graue Staubflocken bedecken auch die Frau. Ich beginne mit dem Finger an das Fenster zu schreiben, in Spiegelschrift: ES IST WELTUNTERGANG. ERSTER TEIL. Auch mein Mund ist voller Staub, mein Hals kratzt, ich habe furchtbaren Durst.

Ich werde wach. Mein Hals kratzt und ich habe furchtbaren Durst. Ich habe Kopfschmerzen.

Es ist Samstagvormittag.

 

 

3

Klara ruft mich gleich am Montagmorgen an. Am Telefon klingt sie leise und zögernd.

„Guten Tag. Kann ich bitte mit … Rosli sprechen?

Ja, das bin ich. Miroslav Hammer, aber ich werde Rosli genannt. Das klingt angeblich schweizerisch, haben meine Eltern behauptet, als ich größer war und mir klar wurde, was für ein dämlicher Spitzname das ist. Wir wollten emigrieren, aber dann kamst du auf die Welt, erklärten sie mir. So haben wir uns wenigstens ein kleines Stück Schweiz bei uns zuhause geschaffen. Genfer See, Montreux … Weißt du, dass dein Name aus den Namen der zwei bekanntesten tschechischen Jazzmusiker zusammengesetzt ist? Bis zum Erbrechen musste ich mir dann auf unserem alten Plattenspieler Weather Report und das Maravishnu Orchestra anhören. Seit der Zeit kann ich Fusion nicht ausstehen. Aber an Rosli habe ich mich gewöhnt.

Und so bekenne ich mich am Telefon.

„Du bist das?“, wundert sich Klara. „Am Telefon klingt deine Stimme ganz anders. Heute bin ich bis sechs in der Arbeit, wir könnten uns gegen sieben irgendwo im Zentrum treffen. Also wenn du noch Interesse hast?“

Natürlich habe ich noch Interesse. „Ich hoffe, dass du es nicht schon bereust.“

Nach eines kurzen Pause sagt sie: „Das wird sich noch zeigen. Weißt du wo der Walfisch ist?“

Ich bestätige das. Das Lokal, das einer meiner Bekannten, der Ahnung von Theologie hat, mit ernster Miene als das am wenigsten geistliche in der ganzen Straße bezeichnet hat, war seinerzeit das Wohnzimmer eines Freundeskreises mit literarischen Ambitionen, zu dem ich mich etwas optimistisch zugehörig gefühlt habe. Während die anderen Mitglieder jeweils einige bissige Poeme verfasst und den Kreis dann durch die Hintertür verlassen haben, begann ich mit dem Schreiben meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Geschieht mir ganz recht.

„Um sieben bin ich da.“

Klara legt auf.

Ich weiß nicht genau, was ich den Kollegen in der Redaktion sagen soll. Würde ich verkünden, dass ich zu einem Treffen mit einer Quelle gehe, würde sich wohl die eine oder andere Braue heben. Treffen mit Quellen sind bei mir nicht an der Tagesordnung. Eigentlich bin ich noch nie zu einem gewesen. Außerdem bin ich mir nicht sicher, was dabei herauskommen wird. Heute am Telefon klang Klara weit weniger couragiert als am Freitag im Tropenhaus und ich wäre nicht verwundert, wenn die Reste ihrer Courage sie im Laufe des Nachmittags vollkommen verlassen würden. Der Montag ist klüger als der Freitagabend. Wie viele großartige Pläne – an einem Freitagabend im Gespräch mit ähnlich temporär couragierten (Co-)Schmieden geschmiedet – hatte allein ich schon ad acta gelegt. Und ich glaube nicht, dass all diese Pläne dämlich oder undurchführbar waren. Nur hatten wir montags immer alle so getan, als würden wir uns an nichts mehr erinnern, obwohl wir uns am Grunde unserer Seele dafür schämten, wie angepasst, ängstlich oder einfach nur faul wir waren.

Dafür, dass ich dreißig Jahre alt bin, habe ich von meinen Plänen herzlich wenig in die Tat umgesetzt.

Ich bin keine Kultfigur der alternativen Musikszene geworden (so wie mein Mitschüler Valdemar), ich bin kein unerschrockener Reisender ins unerforschte Innere der Kontinente (zu meiner Verteidigung möchte ich anführen, dass es kein unerforschtes Inneres der Kontinente mehr gibt), ich bin kein unauffälliger Geldsack, der aus dem Verborgenen die Produktion von pornografischen Sandmännchen-Sendungen für Intellektuelle finanziert (hierfür habe ich keine Ausrede). Ich bin kein olympischer Schütze geworden, auch wenn ich in der Schützenmannschaft einer der Besten war (bis zu dem Augenblick, als der Vereinsbesitzer unter dem Verdacht verhaftet wurde, dass die von ihm trainierten Schützen auch auf Ziele aus Fleisch und Knochen und mit Sozialversicherungsnummern schießen). Bisher war ich auch kein durchschnittlich guter Journalist geworden, wenn schon nicht der Star der Wissenschaftsjournalistik. Ich bin noch nicht einmal zum gewöhnlichen Mann und Partner einer gewöhnlichen Frau geworden, die meinen schrägen Humor ertragen und Speisen für mich kochen würde, die sie selbst gar nicht isst; zumindest nicht für längere Zeit. Und wahrscheinlich bin ich auch in der Arbeit nicht der Freund von jemandem geworden, wenn man die Anzahl der Einladungen zu nichtberuflichen Treffen, Partys oder nur Feierabendbieren als Maßstab nimmt.

Die Einladung heute ist die erste nach mehreren Wochen, und ich muss sie ausschlagen. Ein Grafikerkollege feiert seinen Geburtstag und meine Ablehnung hinterlässt bei ihm nicht die Spur einer Enttäuschung.

„Du hast schon was Besseres vor, ja?“

In seiner Frage höre ich einen Hauch von Sarkasmus. Ich wackele unbestimmt mit dem Kopf, nehme meinen Schlüssel und das Telefon und gehe.

 

Ich hatte beschlossen, das Rad in der Arbeit zu lassen und quetsche mich jetzt an den Touristenströmen auf dem Graben vorbei. Diese Straße hatte ich schon immer als irgendwie steril empfunden, und in den letzten Jahren war das noch schlimmer geworden. Gerne hätte ich die Straße vor hundert Jahren gesehen, am Sonntag nach dem Mittagessen, als hier die Prager Deutschen entlang schlenderten, von denen jeder Zweite ein Schriftsteller war. Ich stelle mir vor, wie sie alle paar Augenblicke stehenblieben, den Hut zogen und ihrem vorbeikommenden Bekannten ein Kapitel aus ihrem neuen Buch vorlasen, von dem sie schon wussten, dass es ein paar Jahrzehnte später zum Lehrstoff der Literaturstudenten gehören würde, weshalb sie absichtlich Passagen ohne Sinn und mit viel vordergründigem Symbolismus hineingeschrieben hatten. Leih mir deine Augen, damit wir in unsere Stunde hineintreten können! Darüber lachten sie beide dann herzlich und gingen gemächlichen Schrittes auseinander, um weitere Bekannte zu treffen und sich danach alle bei einem Glas Cognac in einem der angesagten Cafés wiederzusehen.

Ich hingegen gehe nur deshalb gemächlichen Schrittes, weil irgendwo in der Ferne vor mir eine Touristenführerin ein rotes Fähnchen schwenkt und der Raum zwischen ihr und mir von Milliarden tapsiger Gestalten bevölkert wird, die unverständliche Signale aussenden.

Um zehn vor sieben steige ich ins Innere des Walfischs hinab; es gelingt mir, einen Zweiertisch zu ergattern, von dem gerade jemand aufsteht. Ich bestelle ein Bier und starre eine Weile auf die Dreiecke an der Wand. Dann hole ich meinen Notizblock und einen Kugelschreiber heraus und schreibe „Tropenhaus“ oben auf die erste Seite. Die Serviererin bringt mir das Bier und ich unterstreiche die Überschrift. Ich trinke einen Schluck und gucke auf die Uhr. 18:55. Aus den Boxen an der Bar tönt Sparklehorse. Logisch, die können nur noch aus Lautsprechern tönen. Am Nebentisch sitzt ein bulliger Typ im Anzug, einen geöffneten Laptop, ein paar zerknitterte Papiere und eine Tasse Kaffee vor sich. Ich glaube, dass ich ihn aus dem Fernsehen kenne. Aus Diskussionsrunden zu Politik. Am Fenster sitzen drei Damen mittleren Alters und kichern ständig. Im Fenster huschen die Beine von Passanten vorüber, die die Opatovicka Straße entlanglaufen. Ob ich Klara an den Beinen erkenne? Es ist 18:59 und sie sollten bald auftauchen.

Plötzlich steht Klara oben auf der Treppe, ihr Blick überfliegt den ganzen vorderen Raum, sie registriert mich, nickt und kommt die Stufen zu meinem Tisch hinuntergelaufen. Sie bestellt einen Rotwein und legt ohne Umschweife los.

„Meine Ausbilderin ist mit Beránek an der Uni gewesen. Irgendwann mal habe ich angedeutet, dass ich ab und zu einen Job zum Geldverdienen brauche, und sie hat mir Führungen durch den Botanischen Garten besorgt. Nicht, dass ich eine tolle Floristin wäre, aber dafür reicht es. Und manchmal helfe ich bei verschiedenen Veranstaltungen aus wie zum Beispiel letzten Freitag.“

Sie hat Jeans und ein Kapuzenshirt an, das sie bis zum Hals zugeschnürt hat, sie sieht um einiges normaler aus als bei der Party am Freitag, und irgendwie strenger. Auf ihrer Stirn bilden sich mehrere parallel laufendende Falten, ihr Blick irrt durch den Raum. Manchmal schaut sie mir in die Augen, aber dann wendet sie den Blick wieder ab.

„Ungefähr vor zwei Wochen bin ich in den Botanischen Garten gegangen, um irgendwelches PR Material zu holen; es war schon ziemlich spät und in der Direktion war keiner mehr. Also außer dem Direktor – als ich mich seinem Büro näherte, konnte ich seine gedämpfte Stimme hören, er telefonierte gerade. Ich wollte anklopfen und sagen, dass ich wegen der Flyer gekommen bin, aber der Ton seiner Stimme ließ mich stutzig werden. Er war, wie soll ich das sagen … irgendwie konspirativ. Es hat mir keine Ruhe gelassen, ich blieb ein paar Schritte vor seiner Tür stehen und lauschte. Ich weiß nicht, ob ich mir das genau gemerkt habe, aber er hat etwas in dem Sinn gesagt – ‚wir werden das nicht an die große Glocke hängen, das mit den zweihundertfünfzig Millionen.‘ Und dann: ‚Ich weiß nicht, ob wirklich keiner ahnt, wie viel solche Sachen kosten. Ich bin mir nicht sicher, ob das Risiko wirklich gleich null ist.‘ Das hat er gesagt, dass er nicht weiß, ob das Risiko wirklich gleich null ist, das habe ich mir gemerkt. Mir kam es so vor, als hätte er vor irgendwas Angst. Aber dann sprach er weiter: ‚Gut, ich weiß, ich weiß. Wir machen halbe halbe, du schickst einfach die Rechnungen und ich kümmere mich darum, dass das glatt durchgeht.‘ Es klang so, als würde er gleich auflegen, und so bin ich leise weg und habe mich auf dem Klo versteckt. Dann habe ich gewartet, bis ich ihn weggehen höre, mir kam es wie eine ganze Ewigkeit vor, auch wenn es höchstens eine halbe Stunde gewesen sein kann. Sobald ich mir sicher war, dass er fort ist, bin ich zu seinem Büro gegangen, aber das war abgeschlossen. Ich habe mir dann die Flyer geschnappt und bin schnell abgehauen.“

Klara verstummt, trinkt von ihrem Wein und schaut mir endlich länger als für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen. Blau. Ihre Augen.

„Und das ist alles? Wortfetzen aus einem Telefongespräch?“ Ich bin etwas enttäuscht.

Unmerklich zieht sie die Brauen hoch und fährt noch leiser fort:

„Das ist nicht alles. Ich habe die Firma herausgesucht, die das Tropenhaus gebaut hat, sie heißt Phantom Constructions. Der Inhaber ist ein gewisser Jiří Mareš. Ich habe ihn auf Facebook gefunden, obwohl das eine Mordsarbeit war – Mareš´ gibt es wie Sand am Meer. Und rate mal, was da war! Ein Foto aus einem Restaurant in Thailand, auf dem er neben Beránek sitzt.“

Plötzlich bemerke ich, wie still es im Café ist. Die Musik von der Bar ist verstummt, die kichernden Damen sind weg. Der Politiker ist wach geworden und belauscht uns unverhohlen. Klara hält inne und sieht ihn bedeutungsvoll an. Schnell schaut er weg und tut so, als würde er etwas in seinem Änderungsantrag zum Abhörgesetz korrigieren. Ich mache mir Notizen. Phantom Constr., Mareš, Beránek. Damit lässt sich schon etwas anfangen. Zumindest kann man überprüfen, ob die Details stimmen.

 

4

Die Details stimmten mehr oder weniger. Am Dienstag war ich schon um acht im Büro, außer Puste und nach langer Zeit froh, mich an den Computer setzen zu können. Nachdem ich eine Weile gesucht hatte, stellte ich fest, dass Phantom Constructions und auch ihr Eigentümer Mareš existieren. Das Tropenhaus ist die erste Sache, die die Besucher ihrer Webseiten zu Gesicht bekommen, was in Anbetracht der Größe und der Bedeutung des Auftrags nicht weiter überrascht. Es sieht nicht so aus, dass sie vorher schon einmal etwas Ähnliches gebaut hätten – im Lichte von Klaras Verdacht würde das Sinn geben. Ansonsten lässt sich jedoch nicht viel über sie herausfinden. Ich notierte mir die Adresse und Telefonnummer, obwohl ich nicht genau weiß, wonach ich fragen würde, wenn ich mich wirklich zu einem Anruf entschließen sollte.

Der Direktor Beránek existiert natürlich auch, das hatte ich am Freitagabend bemerkt. Über ihn lassen sich schon weit mehr Informationen finden – Interviews, Artikel, Fernsehsendungen. Er hat in den achtziger Jahren in Prag Naturwissenschaften studiert, hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften gearbeitet, nach der Revolution ist er ein paar Jahre irgendwo in Amerika gewesen. Nach der Rückkehr begann er sich der Popularisierung von wissenschaftlichen Themen zu widmen, ich glaube, ich habe ihn früher immer im Fernsehen gesehen, in irgendwelchen Dokumentationen und Jugendsendungen. Auch wenn er nicht gerade ein großartiger Redner ist, wie ich mich von Freitag dunkel erinnere. Den Botanischen Garten leitet er seit acht Jahren, offensichtlich ohne größere Pannen. Er ist im Prinzip ein ziemlich langweiliger Charakter. Das zweite Mal verheiratet, drei Kinder. Ein Bruder, der vor Jahren bei einem Unfall ums Leben kam. Reisen in exotische Länder, Fotos von Palmen, Lianen, riesigen Kakteen. Das einzige, was ich nicht gefunden habe, ist die von Klara erwähnte Verbindung zwischen dem Direktor des Botanischen Gartens und dem Eigentümer der Baufirma, ein gemeinsames Foto ist weder auf den öffentlichen, noch auf den privaten Seiten zu finden. Wahrscheinlich hatte ich nicht richtig gesucht. Oder sie hatten es geschnallt und alle Spuren, die zu ihrem Komplott führen könnten, gelöscht. Ich werde jedenfalls Beránek um ein Interview bitten. Das wird von mir eigentlich auch erwartet.

Ich rufe im Botanischen Garten an; eine Sekretärin nimmt ab und scheint von meiner Bitte nicht überrascht zu sein.

„Selbstverständlich, ich schaue nach, wann es Herrn Beránek passen könnte, bei ihm ist es jetzt ziemlich voll …“, verkündet sie mit einer Spur Stolz in der Stimme.

Eine Weile ist es still, und schließlich bietet sie mir den nächsten Donnerstagnachmittag an. Ich kann nicht einschätzen, ob das überraschend schnell ist, oder ob sie mich warten lassen, weil ich nicht wichtig genug bin. Aber darauf kommt es letztlich nicht an. Wichtig wird sein, Beráneks Reaktion zu sehen, wenn ich ihn nach Mareš und seinen Phantomkonstruktionen frage. Ich male mir aus, wie er ein wenig blass wird, sich dann aber wieder in den Griff bekommt und anfängt, erstaunliche Fakten hervorzusprudeln – über die Zahl der Glasscheiben, die Höhe des Baumpfades, von dem man aus nächster Nähe das obere Stockwerk des Regenwaldes von Troja bestaunen kann, über das Tempo, mit dem die Raubschmetterlinge aus der Familie Carnimphalidae in den Sturzflug gehen – nur um mich von den Spuren abzulenken.

 

Am Mittwoch erwartet mich ein weiteres Treffen mit Klara. Dieses Mal hatte ich sie angerufen, um sie wissen zu lassen, dass ich ein Interview mit Beránek machen würde, und sie gebeten, mir noch weitere Informationen zukommen zu lassen, die mir dabei helfen könnten, die richtigen Fragen zu stellen.

„Heute bin ich in Krč“, sagt Klara am Telefon. Mikrobiologisches Institut der Akademie der Wissenschaften in der Videňská. „Du könntest ja herkommen, ich habe hier noch eine Menge Arbeit und anschließend werde ich wohl keine Lust mehr haben, ins Zentrum zu fahren. Aber wir können einen Spaziergang durch den Wald machen, ich wohne in der Südstadt. Oder wir können uns irgendwo reinsetzen, wenn du magst.“

Ich kann nicht behaupten, dass mir die Vorstellung, an Klaras Seite durch den Wald von Krč zu spazieren, unangenehm wäre. Im Grunde bin ich mir gar nicht sicher, ob das Bedürfnis nach neuen Informationen nicht mehr ein Vorwand als der wirkliche Grund zu dem Treffen war. Hinter meinen Lidern spulen sich ziemlich häufig die Bilder unserer ersten Begegnung ab.

Wie vereinbart warte ich vor dem Haupteingang zum Institut. Ich ziehe nervöse Kreise um eine merkwürdige Plastik vor dem Gebäude, gucke andauernd auf meine Uhr, aber die Zeiger bewegen sich nicht. Schließlich hole ich das Notizbuch hervor, um ein letztes Mal durchzulesen, was ich eigentlich selber weiß und womit Klara mir helfen könnte. Die Beziehung von Beránek und Mareš. Alles, was an Beránek in Verbindung mit dem Tropenhaus verdächtig ist. Und … das ist wohl alles, was mir einfällt. Ich wäre kein guter Detektiv. Meine einzige Erfahrung mit investigativer Arbeit besteht in der Lektüre von Krimis. Außerdem kommen Blondinen in Krimis vor allem als Deko vor, und egal, wie dekorativ Klara auch sein mag, mit der Zuweisung dieser Rolle würde ich sie grob unterschätzen. Bisher spielt sie die Hauptrolle.

Endlich taucht sie in der Tür auf und kommt dann leichtfüßig die Treppe herab, die von der niedrig stehenden Abendsonne beschienen wird. Sie sieht aus wie ein Filmstar – die strahlenden langen Haare, eine dunkle Brille vor den Augen, ein hellblaues Tuch um den Hals, das an den Seiten locker herabfällt und einen tiefen Ausschnitt freigibt, mit dem ich schon in der letzten Woche die Ehre hatte. Solche Bilder sollte man neben den Artikeln über die neuesten Errungenschaften der Wissenschaft abdrucken.

Nach der Trennung von Anna wäre mein Liebesleben nicht unbedingt als Vorlage für einen Sexfilm geeignet, eher für eine Tragikomödie. Vor allem jedoch war es einfach langweilig. Ein paar verzweifelte Party-Flirts ohne jedes Ergebnis, ein Bonus-Abend mit Anna, wo wir uns ein letztes Mal gemeinsam betrunken und ein letztes Mal versucht haben, uns an alte Zeiten in den Toilettenkabinen von Restaurants zu erinnern – später ist darüber kein einziges Wort mehr gefallen – und eine, sagen wir mal, Beziehung, die sechs Wochen dauerte, von denen wir uns fünf Wochen lang getrennt haben. Den wenigen wirklichen Freunden erkläre ich auf ihre mitleidigen Fragen hin, dass ich einfach zu hohe Ansprüche habe, und langsam beginne ich selbst daran zu glauben. Sie halten mir entgegen, dass das Quatsch ist und dass ich einfach mal Sex bräuchte. Auch daran beginne ich selbst langsam zu glauben.

Und jetzt so eine Frau! So eine Frau hat bestimmt einen Freund, vielleicht sogar zwei. Sie sind hochgewachsen, muskulös, unterstützen Wohltätigkeitsvereine, spielen Golf und Schach und fahren E-Autos. Der eine wird am Waldrand auf sie warten. Klara wird mich als einen Bekannten, einen Journalisten vorstellen. Der Mann wird unmerklich lächeln und sagen, es freut mich, und jetzt hau ab. Klara wird ebenfalls lächeln, eher entschuldigend, und wird flüstern, sorry Rosli, Guillaume und ich fahren jetzt nach Hause, um phantasievollen Sex zu haben.

 

„Machen wir einen Waldspaziergang?“, schlägt Klara vor. „Im Gehen kann ich sowieso am besten reden. Immer, wenn ich für eine Prüfung gelernt habe, musste ich im Zimmer auf und ab gehen. Meine Mitbewohner hatten ihren Spaß.“

Nach kurzer Zeit tauchen wir in die Tiefen des Waldes von Krč ein. Zu Zeiten von Wenzel IV., der hier eine Datsche hatte, war der Wald jedoch um einiges tiefer. Als hier der Sohn des Landesvaters (also der Landesbruder) beim Rasenmähen an einem Herzinfarkt starb, hatten die Kranken- und Leichenwagen ordentlich zu tun, um ihn zu erreichen.

„Also, was musst du noch wissen, bevor du zuschlagen wirst?“, fragt Klara mit leicht theatralischer Stimme.

Ich hole erneut das Notizbuch hervor, um professioneller auszusehen, auch wenn ich in ihm insgesamt nur zwei Punkte habe.

„Weißt du noch etwas zu der Beziehung von Beránek zu dem Eigentümer der Baufirma? Ich konnte keine Verbindung finden, keine gemeinsamen Fotos, nichts. Über diesen Mareš kann ich gar nichts herausfinden.“

„Merkwürdig. Das Foto auf Facebook haben sie wahrscheinlich gelöscht, als ihnen klar wurde, dass es sie kompromittieren könnte.“ Klara klingt fast entschuldigend. „Aber ich weiß eigentlich auch nicht viel über die beiden. Beránek hat nie darüber gesprochen. Wahrscheinlich sind sie Schulfreunde, ich bin mir sicher, dass sie sich geduzt haben, es klang so, als würden sie sich gut kennen.“

„Und was ist mit Beránek, noch etwas über ihn, etwas, wonach ich ihn vielleicht fragen könnte?“

Klara wird etwas langsamer und scheint nachzudenken. „Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, damit es nicht so aussieht wie … Ich mag den einfach nicht. Er hat etwas eigenartiges, ich glaube, er ist in Wirklichkeit ein ganz anderer Mensch als der, den er öffentlich darstellt. Dass dieses geordnete Leben nur vorgetäuscht ist. Ich habe noch nie seine Frau gesehen, sie hat ihn noch nie in der Arbeit besucht, er spricht nie über sie, auch nicht über seine Kinder. Das heißt natürlich nichts, aber … Ich habe einfach so ein Gefühl, dass mit ihm etwas nicht stimmt“, Klara zuckt die Schultern. Ich würde gerne ihre Miene sehen, aber ich kann ihr Gesicht nicht gut erkennen, es scheint furchtbar schnell dunkel geworden zu sein.

Plötzlich erinnere ich mich an die Frau in dem Lederjackett, mit der ich ihn bei der Party gesehen habe. Das war also nicht seine Frau. Vielleicht ist das eine anspruchsvolle Geliebte, und sie braucht mehrere Millionen für Schmuck, Pelze und Urlaube in Ferienorten, die auf -itz enden.

Schwere Regentropfen, die mir in den Nacken und auf die Schultern fallen, reißen mich aus dem Grübeln, und mit einem Mal bemerke ich, dass es bedrohliche, dunkellila Gewitterwolken sind, die das schnelle Dunkelwerden auf dem Gewissen haben. Wir sind mitten im Wald, tausende Kilometer von der nächsten Zivilisation entfernt. Klara spannt einen Miniaturregenschirm auf und mahnt mich zur Eile.

„Wir sind gleich bei mir“, sagt sie und schlägt ein Tempo an, dass eher zu einem Olympioniken als zu einem Filmstar passt. Ich lege einen Schritt zu.

 

 

Aus dem Tschechischen von Christiane Frankenberg