Kapitel 1 / Rückspiegel

13-15

Das neue Jahrtausend löscht altes Leben nicht aus, einstiges Geschehen, uns bekannte Menschen sind weiterhin da, andere wieder, die früher nicht waren, sind plötzlich. Was jetzt hier ist, verändert den Sinn dessen, was gestern andernorts war. Der Sinn der Dinge ist nicht ganz klar, inzwischen weiß ich jedoch, von Urbeginn war er präsent. Wie genau es sich mit dem Ende verhält, vermag ich noch nicht zu sagen. Es scheint, als wäre das Ende noch immer dasselbe, doch wenn die Zeit sich erst öffnet, sich aufspannt nach allen Seiten, ändert sich auch der Tod. Die Gesetze der geistigen Welt sind grundsätzlich andere als die Gesetze der materiellen Welt, an die wir uns gewöhnt haben. Ungern zunächst, dann wieder, als wäre es defintiv.

In eben der Viertelstunde, als ich vor den Augen eines unbekannten, unsichtbaren

Passagiers die sanft steigende Kurve vom See hinauffuhr, in Mittelitalien, einem Städtchen in der römischen Provinz entgegen, und mein Blick über die grünen Gräben glitt, über die silbern buschigen Oliven, sah ein Mann mittleren Alters, hineingestopft in einen schlecht sitzenden Konfektionswintermantel, in ein dunkel qualmendes Häufchen schwarz gewordenen Papiers. Er stand nicht am Ufer des Sees, sondern am Hang eines Hügels, der sich zwölfhundert Kilometer nördlich erhebt, bei der Stadt Brno in Mitteleuropa. Ins Feuer legt seine Rechte eine Akte in festen Deckeln, auf denen mein Name steht: Jan Lazar.

Unschlüssig prusten die Flammen, ducken sich, drohen kurz unter dem Stoß zu ersticken und machen sich an den Verzehr. Die Akte krümmt sich, behüllt sich mit einer rußigen Schicht, beginnt zu schwelen, unsicher, zerfällt allmählich zu Staub. Kein lustiges Feuer schlägt aus ihr hoch. Die Hand des Mannes steckt in einem schwarzen Handschuh, ein Mitarbeiter der Geheimpolizei, und die Akte im Ordner war streng vertraulich. Geheim. Der Inhalt der Akte hing zusammen mit meinem Beruf als Pfleger in einem Heim für seelisch atypische Personen, hing zusammen mit meinem Häuschen über dem See und auch meiner Frau Marie. Hing zusammen mit meinem gesamten Leben, und wie sich zeigen wird, auch mit meinem Tod.

Der Mann stand auf dem matschigen Hang jenes Hügels, der Hády heißt und sich nordöstlich von Brno befindet, in Mähren, das damals noch in einem Land lag namens Tschechoslowakei. In der Hand einen dicken Ordner gefüllt mit Listen, Namen, Verzeichnissen, Auszügen, Verweisen und anderen Früchten langjähriger polizeilicher Arbeit.

(…)

15

Der beflissenste und bedeutendste Autor von Berichten über meine Person war Kazimír. Kazimír Májka. Zehn Jahre fast hatten wir uns nicht mehr gesehen, und beide hielten wir es für wahrscheinlich, dass das Leben uns nie mehr zusammenführt. Ein Irrtum, und das Schicksal zögerte nicht, ihn gründlich zu revidieren. Die Namen dieser und jener, von Spitzeln und Bespitzelten, Schnüfflern und Beschnüffelten, Zuträgern und Zugetragenen, verwandelten sich im Feuer zu ein und demselben ununterscheidbaren, auf ewig vermischten Staub. Und ihre Träger mussten einander begegnen. Im Schicksal stand es geschrieben: drei Jahre nach diesem denkwürdigen Tag würde ich Kazimír Májka wieder begegnen.

(…)

22-23

Zwölf Jahre glaubte Kazimír fest, dass die Berichte, die er für gutes Geld regelmäßig an gewisse Genossen vom Ministerium des Innern lieferte, sich zu Staub verwandelt hätten, noch ehe die Sowjetunion auseinanderbräche und mit ihr das ganze System verbündeter Staaten, die sich die sozialistischen nannten. Archive verschimmeln, vermodern, werden womöglich auch vom Schoß der Erde verschluckt, wenn es kommt, das Ende der Welt. Das Ende des Bolschewismus kam nicht in Betracht, denn der Bolschewismus war absolut, unpersönlich und dumm. Also sui generis ewig. Zeugte sich selbst beharrlich ins Endlose fort. All dies

dachte sich Kazimír, an den Kommunismus glaubte er nicht, in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts glaubte im Übrigen an den Kommunismus nicht einmal das Zentralkomitee der Partei. Macht ist etwas ganz anderes, sie ist keine Glaubensfrage; Kazimír weiß todsicher: Macht gibt es, sie existiert, keiner wird sie so einfach abschaffen und ihre Hand ist hart. Und Kazimír weiß auch, wie das im Knast läuft.

Schließlich ist das nicht sein Fehler, hineingeboren zu sein in eine dämliche Welt. Er beugt sich über die Toilettenschüssel, fühlt einen Moment Erleichterung. Die Welt stülpt sich um, doch mehr Sinn hat sie deswegen nicht. Die Geschichte hat Verbrechen und Strafe lediglich in eine andere Richtung gelenkt.

(…)

23-24

Die Archive bedrohen nicht länger diejenigen, über die Protokoll geführt wurde, sie wenden sich gegen die, die Protokoll führten, sie haben den Herrn gewechselt, nicht ihre Natur, sie wecken Angst. Die hochwichtigen Dokumente sind sowieso schon in Moskau, sagt Kazimír sich, meine sind nicht hochwichtig. In der Stadt wurde gestern getuschelt, irgendwer müsse der Vernichtung des Spitzelmaterials Einhalt gebieten. Reichen würde da tausend Personen, auch fünfhundert, eine Schar empörter Bürger oder idealistischer Studenten. Wenn sie auf den Hády zögen, wär´s mit dem Verbrennen vorbei. Kazimír sieht im Geiste die Freunde und Bekannten, sie scheuchen die lächerlichen Figuren von der Staatssicherheit von der Flanke des Hügels, laden die Akten aus den Archiven in ihre Autos. Nehmen sie mit nach Hause, öffnen sie und erkennen, dass da Sachen stehen, die nur er allein wissen konnte.

Kurz darauf klopfen sie an seine Tür und Kazimír wird ihnen erklären, dass alles ganz anders ist, als es scheint. Schaut doch nur einmal genau: diese Dokumente, meine gloriosen Berichte, diese hochgeheimen Notizen sind schließlich nichts als völlig unbeholfenes, stupides, perfides, verworrenes, unzuverlässiges Geschwätz! Was steht hier schon? Wer sich mit wem trifft und wo sie über was sprechen, was sie vereinbaren, wer mit wem in Kontakt steht, mit wem er schläft, am Tag, in der Nacht, zuhause, im Wald, in der Arbeit, bei Besuchen, im Schlafzimmer. Blöde Schwätzereien! Blöd wie das ganze System!

Ja, und genau diesem System haben sie aufs Beste gedient, werden die Freunde sagen. Unser Leben haben sie vernichtet, uns in den Knast befördert, unsere Arbeit behindert, werden sie noch hinterher schicken, der Wahrheit gemäß. Und Kazimír auf die Fresse hauen. So weit sollte es gar nicht erst kommen. Kazimír kann nicht einfach tatenlos zuwarten, bis irgendwelche bescheuerten idealistischen Bürger sich entschließen, die Dokumente zu retten…

II

Kapitel 7 / Winterlandschaften der Seele

61-64

Ich spreche von der Suche nach dem Sinn und will nicht, dass mein Leben von einem schlechten Ende auf einen guten Anfang zustrebt. Das wäre nicht nach der Wahrheit. Auch kann ich nicht versprechen, dass ich von einem schwierigen Anfang zustrebe auf ein gutes

Ende. Ich würde den Anfang und das Ende gern verwandeln, den Horizont, die Grenze verschieben.

Wenn abends mein Vater Josef von der Arbeit nach Hause kam (in Brno, Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts), stiegen wir gemeinsam hinab ins Dunkel der weißen Straße, gerüstet mit Schaufeln und schweren, aus Brettern und Pfählen gezimmerten Pflügen und schippten Schnee. Im spärlichen gelben Schein der wankenden Straßenlaternen schoben wir den frisch gebreiteten schneeenen Teppich vom Pflaster. Die weiß glitzernde Decke wuchs immerzu nach, sie war rein. Die Stadt war rein und die Landschaft. Die Straßen des Vorstadtviertels waren unter dem Schnee so einfach und still wie Verbrechen, von denen man schweigt. Das Gemisch aus graubraunem Staub und Kesselasche, das der Hausmeister auf den Gehsteig streute, damit er nicht ausrutscht, war gewiss heller und feiner als die Asche der gehenkten und eingeäscherten politischen Häftlinge, aber es war derselbe Winter des Jahres 1953. Der Gefängnisdirektor, auch der Henker und der Militärarzt, die ihn begleiteten, streuten die Asche aus den mit Deckeln versehenen Aluminiumurnen auf die überfrorenen Straßen nördlich von Prag, irgendwo hinter Mladá Boleslav, gegen halb zwölf in der Nacht.

Unter windschaukelnden Laternen wurden blaue Schatten lebendig und huschten über den aufgeschaufelten Schnee, der tagsüber weicher wurde, grauer, nachtsüber verharschte. Die Kinder in unserer Straße bauten sich daraus Eisburgen und Kristýnkas Großmutter Anna hegte den Verdacht, es wären geheime Gräber. Auch Kristýnka und ihre Brüder halfen beim Schippen des Schnees, ihr Gehsteig schloss reinlichst an unseren an. Sie kratzten stets jeden Eisstreif und die gefrorene Fußstapfen weg, häuften den Schnee längs zum Gehsteig und empor wuchs der geschlossene Kamm eines Zwergengebirges in Weiß. Großmutter Anna kam zwischenrein öfters nachsehen, wie ihre Arbeit vorangeht, half auch mit einem riesigen Besen aus Birkenreißern, lief wieder zum Ofen, um nachzulegen. Růženka, ihre ältere Schwester, zog fast jeden Tag mit einer großen Leinentasche in den Wald der Palacký-Höhe hinauf und machte dort Beute, brachte kleingebrochene, trockene Zweige, manchmal auch Zapfen. Der Rauch des Fichten- und Kiefernholzes rief in Kristýnka eine liebe Erinnerung wach, älter als die verlorene Puppe, als der Schrei, als der Anblick der Gewehre, die so unerklärlich in Stellung gebracht worden waren gegen den Großvater und den Vater, der einen großen hölzernen Stuhl zur Decke hebt.

Kristýnka mochte den bläulichen Schein der Abendstraße, auch die flüchtigen Schatten der unruhigen Lampen, die weiße, seidige Fahrbahn mit der geschlossenen Decke, und in ihrer Mitte das Spitzenmuster, hineingepflügt von einem vereinzelten Auto. Die Schneekristalle sendeten still winzige silberne Blitze zum Himmel. Nichts war zwischen Erde und Himmel, was nicht einen tiefen und vollen Sinn gehabt hätte. Nichts drängte, nichts hinderte, jedes Ding dauerte fort im Sinn, der nah sein musste. An diesem Abend, an den ich mich erinnere, ging Kristýnka über die Straße in den Park und legte sich auf den Rücken in den unbefleckten Schnee über dem Gras. Wir machen Engel, rief sie den Brüdern zu. Das Engelspiel war viel einfacher als Himmel-Hölle-Paradies, man musste sich nur rücklings auf die unversehrte weiße Fläche legen, sorgfältig Kopf und Mütze hineindrücken, und dann die gebreiteten Arme heben und wieder senken. Einen Abdruck sauber neben den anderen, vom Kopf bis zu den Hüften, damit sich ein Fächer um den Körper entfaltet, will heißen Engelsflügel. Kristýnka atmete den Flockenduft, vielleicht auch war es Ozon, und als sie den Engelsabdruck fertig hatte, streckte sie ihre Arme hoch und Filip half ihr, sich schnell und leicht aus dem Bild zu erheben. Ich habe ihr auch geholfen.

Fast schwebte sie auf, und der Abdruck des Engels blieb unversehrt und schlank selbst am Po. Am Morgen kam den Menschen über die verschneiten Beete ein Schwarm geflügelter Kindergestalten entgegen. Dass das die Spuren von Engeln sind, fiel niemandem ein. In Kristýnkas Gesicht aber hatte sich etwas von einem Engel gesetzt, unbemerkt, und doch nicht unbemerkt von mir. Es blieb, auch als Kristýnka in dem Heim für geistig Behinderte lebte, in dem ich ein Vierteljahrhundert später als nicht qualifizierter Pfleger anfing.

Kristýnka war ein Kind, das man an einem Nichtheiligabend vertrieben hatte von Puppe und Nachtmahl. Dieses entsetzliche Ereignis geschah nach dem Krieg, in jenen Jahren triumphaler Aufbauarbeit für den Weltfrieden, Klassengerechtigkeit und eine glückliche Zukunft aller Menschen auf Erden. Die Aktion hieß Kollektivierung der Landwirtschaft und war inspiriert von der Sowjetunion. In Kristýnkas Gedächtnis lebte sie als Schreckenstraum, der langsam verblasste und mit anderen bösen Träumen verschwamm. Großmutter Anna in Brno deckte sorgsam einen Mantel über das Unrecht, dem ihre Familie auf dem Land zum Opfer gefallen war. Und obwohl wir Nachbarn waren, hatte ich von der Vergangenheit meiner kleinen Gefährtin nur eine sehr vage Ahnung.

Des Schicksalsabends gedachte Anna still, für sich allein und mit aller Vorsicht, denn diese Erinnerung brachte den Tod. Und den Tod konnte sie sich nicht leisten, ihr oblagen die Kinder, das heißt die Enkel, Kristýnka und ihre zwei älteren Brüder, Ota und Filip. Leisten konnte sie sich auch keine Krankheit, kein Irrenhaus. Zum Glück hatte sie in der Stadt eine freundliche Schwester, eine Witwe mit einer Zweizimmer-Wohnung. Großmutters Sohn, Kristýnkas Vater Přemysl, starb wenige Monate nach jenem Abend, an dem man ihren Hof für die kollektive Landwirtschaft gewonnen hatte. Auch František Křišťál, Annas Mann, war damals gestorben, aber welchen Tod hat seiner Frau keiner gesagt. Kristýnkas Mutter Lydie verlor den Verstand und wurde in die Irrenanstalt verbracht, wohin Anna sie mit den Kindern einmal in vierzehn Tagen besuchen ging.

(…)

65-66

Das gepflegte, geräumige Haus mit dem großen Hof, den Ställen, den Koben, dem Stadel lag mitten im Dorf, František Křištál hatte das Erbe des Großvaters ausgebaut, wie dieser das Erbe seines Großvaters, und es gefiel Miroslav Křen. Im Dezember 1953 bekam Miroslav Křen eine Pistole und auch ein Gewehr, das nach dem Krieg in einer Familie des Widerstands einkassiert worden war. Und Křens Gelegenheit kam. Diese Gelegenheit zu verstehen half ihm der Kreisparteisekretär, der eines Tages im Dorf erschien, um die neuen Genossen zu schulen. Der sie belehrte über die Pläne der Arbeiter- und Bauernregierung und über die Klassengerechtigkeit. Křen war ins Gasthaus gekommen, hörte den Sekretär, und augenblicks und vergnügt verinnerlichte er die erstaunlichen Worte auf dieser Versammlung. Vernahm zugleich auch etliche neue Wörter, die ihn erfreuten. Kollektivierung, Klassenkampf, Diktatur des Proletariats, Zentralausschuss, Partei und Regierung, Erster Sekretär, Volksmiliz. Diese Wörter bezeichneten große, neue Gewalten, Křen günstig gesonnene. Sie waren gekommen, Křen zu ermutigen, sich Haus und Hof, die ihm gefielen, im Guten oder im Bösen zu nehmen, denn so und nur so würde Křen ein Gerechter. Und anerkannt. Der Sekretär redete, redete, und seine Predigt sagte Křen weitaus mehr zu als die Sonntagspredigt des alten Pfarrers. Es war ja auch keine Predigt, es war eine Prophetie.

(…)

67-68

„Willst Du endlich so leben, wie bis jetzt nur die Reichen?“ fragte der Funktionär eines Nachmittags. „Dann mach dich auf in den Kampf!“ Und Křen machte sich auf, die Pistole in der Hand, das Gewehr über der Schulter, dazu vier Milizionäre, angereist aus dem ganzen Kreis, um Křen behilflich zu sein bei der Verstaatlichung des Privateigentums. Der Kampftrupp zog ein in den Hof, zur Vesperzeit, damit man auch alle schön daheim beieinander hätte, keiner sich unbemerkt aus dem Staub machen könnte. Alík bellte vor seiner Hütte los, jaulte auf, und noch ehe man sich im Hause versah, drängte das fünfköpfige Kampfgrüppchen in die Küche. Aus der Schüssel auf dem Tisch dampften die Pellkartoffeln, in der Kanne stand Sauermilch, von der jeder auch eine Tasse voll vor sich hatte. Zu den Kartoffeln Butter, und für die Mannsbilder auch Geselchtes. Ein Näpfchen mit Salz. Die Genossen richteten Gewehr und Pistole auf die beiden erwachsenen Männer, Kristýnkas Großvater František und ihren Vater Přemysl. Einer der Bewaffneten brüllte die Frauen an, sie sollten verschwinden samt ihren Bälgern. Die Bälger, das hieß Kristýnka und Ota und Filip. Die Milch blieb in den Tassen, die Kartoffeln auf dem Teller und die Puppe fiel unter den Tisch. Kristýnka wollte sich nach ihr bücken, doch stieß der Genosse sie weg. Stieß auch die Mutter, die wie von Sinnen zu schreien begann, die Großmutter Anna, die dennoch versuchte, Kristýnkas Puppe vom Boden zu greifen. Die Puppe und die Kartoffeln mit ihrem Dampf hefteten sich in das Gedächtnis des Kindes, der Vater und der Großvater jedoch, die es an diesem Abend zum letzten Mal sah, zerflossen ihm seltsam. „Haut ab aus dem Dorf, und lasst euch hier nie wieder blicken“, schrie Křen ihnen hinterher.

Sie nahmen den Feldweg zum Nachbardorf. Ein langer Weg mit einem kleinen verstummten Mädchen und zwei Jungen, die starr waren vor Schrecken und Zorn. Sie klopften ans Tor der Verwandten, die längst schon schliefen, jagten sie auf, jagten ihnen Entsetzen ein. Wir legen uns ins Heu, sagte Anna und führte die zitternde Schar in den Stadel hinten im Hof. Das Heu duftete, raschelte, verwandelte jedes Schluchzen der Mutter in eine Lawine knatternder Schüsse. Am dritten Tag morgens ließen die Genossen bestellen, Familie Křišťál dürfe nicht bleiben in diesem Dorf, und auch in keinem benachbarten. Wo sollen wir hin, wo sollen wir hin, sagte sich Kristýnkas Mutter Lydka den ganzen Tag über vor. Irgendwer auf irgendeinem Amt unterschrieb und stempelte unterdessen ein schriftliches Aufenthaltsverbot für den gesamten Kreis, es galt auf fünfzehn Jahre und für die ganze Familie.

III

Kapitel 8 / Das Mysterium atheistischer Weihnacht

69 – 70

Vom Dach des Hauses in Brno – Královo Pole hängen Eiszapfen hinab in den Hof und heimlich wachsen sie. Die Sonne blitzt kurz durch die schweren Wolken. Auf den samtenen Teppich fallen die schrägen Strahlen des Winters und rufen Farben ins Leben, wie das Kind sie auf ihm noch nie gesehen. Dieses Kind ist Jan. Dieses Kind bin ich, der Erzähler, der in ihren Grundlinien die Zukunft der Menschen kennt, die sich hier begegnen, auch seiner eigenen. Die Vergangenheit, die er hat, ist kurz, ist unendlich, jetzt im Moment kann er nicht älter als sieben sein. Herr Direktor Jehlička lebt schon das zweite Jahr in Letovice und kehrt auch zu Weihnachten nicht heim in sein Haus. Die Vorweihnachtszeit schreitet nicht linear voran, sie konzentriert sich im Herzen des Kindes. Es ist prall von Erwartung, denn das Kind weiß nichts von Religion und kennt auch das Wort Advent nicht.

Ein neuer Blick zum Fenster mit dem aufgezogenen Vorhang, die Wolken, zu den Dächern herabgestiegen, sind braun geworden, aus ihnen fällt Schnee. Die Stille der wirbelnden Flocken tritt ins Zimmer und bringt ihm ein festliches, ein umarmendes Grau. Es ist still in der Wohnung und das Kind freut sich daran in der Tiefe der Seele. Dass die Welt, in der das Kind lebt, die Existenz der Seele nicht anerkennt, betrifft den kleinen Janek noch nicht. Er spürt den Zauber der Weihnacht, geheimen, verborgenen Quellen entspringt er, überschwemmt die gelockerten Steine der Gehsteige und den blätternden Putz der Vorstadt in Brno. Selbst jene Männer, die fünfundvierzig Jahre später auf dem Hády die polizeilichen Archive verbrennen werden, freuen sich auf den Heiligen Abend. Auch sie sind in diesem Augenblick kleine Jungen und glauben wahrscheinlich ans Christkind wie Jan. Ans Christkind zu glauben ist möglich, ganz unabhängig von Konfession und politischer Position, an Christus zu glauben ist eine Sache auf eigene Faust, wie Jan Zahradníček nur zu gut weiß, inhaftiert auf der Veste in Mírov schreibt er gerade an seinem schmerzensreich schönen Weihnachtsgedicht.

(…)

71-72

In den fünfziger Jahren war der Weg zum Heiligen Abend eisig, dunkel und hart. Der Trieb der Sammler lockte Männer und Frauen vors Haus, in die Orangen-Schlange, und das bei Grieselsturm und klirrendem Frost. Orangen kamen in unser Land aus unersehbaren Fernen, aus südlichen Regionen, die ich mir nicht vorstellte wie im Film, sondern nach Farbe und Duft dieser Wundersonnen. Farbe und Duft dringen ins Innere, auch Getastetes dringt in uns ein, und das lange geduldige Erwarten der Sonne ist eine Vorbereitung auf die Zeremonie. Denn Orangen waren schließlich seltene Boten des Lichts auf einer verdunkelten Erde in den kürzesten Tagen des Jahres.

Ihre Ankunft erkannte man an der langen Reihe der geduldig Harrenden, der in schwere Wintermäntel vermummten Gestalten. In den fünfziger Jahren und Anfang der sechziger hatte jeder das Recht auf den Kauf eines Kilos dieser goldenen Früchte mit dem transzendenten Arom. Damit alle wenigstens ein paar Scheibchen bekämen und niemand fehle bei der weihnachtlichen Wandlung der Materie in Geist.

(…)

75

Einer der ersten großen politischen Prozesse in Prag endete mit elf Todesurteilen. Die Hinrichtungen wurden 1952 im Gefängnis auf dem Pankrac heimlich vollstreckt, in der Zeit des Advents. Im einundzwanzigsten Jahrhundert merkt der Historiker dazu an, dass dies auf Wunsch von Stalin geschah. Die opferbereiten, kältekauernden Einkäufer wissen von den Hinrichtungen aber noch nicht. Oder sprechen nicht davon. Die Kremation wird im Januar 1953 erfolgen. Und während der Henker aus dem Pankrac in Begleitung von Direktor und Arzt die Asche der Gehenkten nachts auf den überfrorenen Asphalt streut, damit noch vor Taganbruch alle Spuren getilgt würden von den Reifen der vorüberfahrenden Autos, werden die Leute den Schnee von den Gehsteigen schippen. Der blaurosene, zauberische Dämmer wird sich dem kleinen Jan ins Gedächtnis schreiben und verschmilzt mit dem wirbelnden Flug der Schneeflocken aller Winterspätnachmittage, an denen er nicht gewusst hat, nicht von Kristýnkas Familie und nicht vom Dichter in Haft und nicht von anderem Leid. Ich stelle mir den Dämon vor, der bei diesem materialistischen Advent Regie führt. Als in späteren Zeiten größeren Wohlstands die Schlangen verschwanden, verloren die Orangen ihre heiligende Funktion. Es wandelte sich nicht die Materie in Geist, vielmehr der Geist in Materie.

Vor der Weihnacht 1989 ließ der Dämon von seiner Beute ab, löste seine Krallen aus ihm, säuberte sie vom Blut und wartete, dass der Organismus, dem er nun seine Kraft entzogen hatte, zerfiele. Es dauerte nur kurz und das System stürzte mit Glanz und Gloria in sich zusammen.

(…)

76

Die Beziehung von Ursache und Folge ist nicht immer offensichtlich. Ich richte den Blick auf den Beginn der sechziger Jahre (…)

77-78

Im Advent dieses Jahres bäckt Kristýkna mit der Großmutter Pfefferkuchen, hängt kleine Äpfel an den Baum, Plätzchenringe an Fäden und Nüsse in Stanniol, nach altüberkommenem Brauch. Es sind einfache, liebe Gewohnheiten, und wie wir gleich sehen, auch Velemír hält sie hoch, der Leiter der Pioniere, denn sie entstammen dem Volk, vielleicht bis aufs Stanniol. Kristýnka feiert Weihnachten mit der Großmutter, den Brüdern, der Mutter Lydie, die man alljährlich zu diesem Zweck für drei Tage aus dem Irrenhaus lässt. Für Lydie, alle nennen sie Lydka, bewahrt Anna im Schrank ein Festtagskleid; die Schwiegertochter hat es in Staré Dvory in der Kirche getragen. Anna befürchtet jedoch, dass die ländliche Sonntagstracht Lydka allzu lebendig in die Vergangenheit zurückversetzen und gefährlich beunruhigen könnte, und so trägt sie unter dem Weihnachtsbaum schließlich einen sauberen, glatt gebügelten Trainingsanzug.

Ich schaue in der Zeit rückwärts auf Kristýnka, auf Jans Familie, die Freunde seiner Eltern, die Familien seiner Schulkameraden, auf Lucie und die anderen Nachbarn in unserer Straße: die Heiligabende kehren wieder, weben sich ineinander, verdichten sich zu einem Kern. Das Weihnachtsritual erreichte den Höhepunkt seiner Perfektion Mitte der sechziger Jahre dank einer uniformen gesamtstaatlich synchronisierten Heiligabendergriffenheit. Diese Ergriffenheit stellte sich ein, wenn sich die Augen aller (fast aller) in vereinter Begeisterung jenem bestimmten Ding zuwandten. Dieses Ding war der Weihnachtsbaum. Er glitzerte und am Abend, wenn seine Kerzen brannten und die Sternspritzer pritzelten, sagten alle „Ach“. Fast alle.

9 / Nachtlichter, Taggesichte

87-88

Den engen Zusammenhang zwischen der Schokolade in blassblauem Stanniolglanz

an unserem Weihnachtsbaum und der Pistole im unteren Schub von Josefs Schreibtisch begriff ich plötzlich und schmerzhaft erst vier Jahre nach Vaters Tod. Zwanzig Jahre haben wir zuhause im Wohnzimmer – in der Ecke beim Fenster – ergriffen den obligatorischen Schmuck ans Bäumchen gehängt und kein einziges Mal an die Pistole gedacht. Sie aber lag dort die ganze Zeit, schlummerte im unteren Schub. Oder auch nicht, vielleicht verfolgte sie ja gespannt, was um sie herum geschah. Beim Bäumchenschmücken wechselten drei Generationen sich ab, weibliche Finger, schlank und geschickt, männliche, kräftiger, auch geschickt. Der Zusammenhang zwischen Pistole und Schokoladenfiguren, Autos, Eisenbahnen (ebenfalls schokoladenen) ist uns entgangen, obwohl die Kollektionen der in bläuliches Qualitätsstanniol gewickelten Herrlichkeiten zehn Jahre auf Grund eines Privilegs der Volksmilizen in unserem Haus Einzug hielten. Als Bestandteil der Weihnachtszulage, auf die Josef als Volksmilizionär Anspruch hatte. Aus Kindessicht bestand der Sinn der väterlichen Mitgliedschaft in dieser Geheimorganisation genau darin, dass sie uns alle Jahre wieder eine Schokokollektion bescherte. Die Schokolade war gut, das war ein indirekter, unausgesprochener und dennoch überzeugender Beweis, dass auch die Milizen gut waren. Kristýnka bekam zwar keine silberne Kollektion der Marke Orion, wie ich bemerkte, aber dass sie ohne Puppe hatte gehen müssen, als ihr Hund beim Tor lag, zertreten oder zerschmettert, davon hat mir keiner etwas gesagt, auch nicht ihre Großmutter Anna, die von unseren romantisch blauen Milizleckereien sehr wohl wusste. Schließlich habe ich mit allen Kindern brüderlich geteilt. Ein Schokoladenauto oder eine schokoladene Taschenuhr in farbigem Stanniol vom Baum zu pflücken, auszuwickeln, in die Hälften zu brechen, aus denen sie in der Schokoladenfabrik zusammengesetzt worden waren, erfüllte mit sanfter Befriedigung.

Die Pistole hatte Josef einige Male auf einen Ausflug ins Freie mitgenommen, trainierte nur so zum Spaß mit den Kameraden das Schießen auf ein improvisiertes Ziel. Schießen erregt, das habe in der Schule festgestellt, als Schießen vor dem Abitur im Fach Zivilverteidigung plötzlich zur Pflichtprüfung avancierte. Als sich das Geheimnis von Vaters Dienstpistole offenbarte, waren die blauen Weihnachtskollektionen der Marke Orion längst verschwunden. Verschwunden auch die Zielscheibe und die Staatsbürger- und Wehrkundestunden. Verschwunden unsere Wohnung, verschwunden der Kommunismus, verschwunden Vaters Schreibtisch, verschwunden seine Dienstpistole. Verschwunden selbst die Tschechoslowakei von der Karte der Welt, die sich verändert hatte. Verschwunden auch der Vater Josef Lazar.

Für Eingeweihte hatte das Eigenschaftswort sozialistisch die Macht, verschiedene historische Phänomene zu fassen, vor Augen zurufen, zu enthüllen, zu präzisieren und definieren, aber verschwunden waren auch diese Eingeweihten.

Kapitel 21 / Versuche übers Gewissen

193-195

Zu Annas Begräbnis versammelte sich die gesamte Familie Křišťál samt weit verzweigter Verwandtschaft, von deren Existenz ich nichts ahnte. Auch Filip und Ota kannten nicht alle, hatten einige nie gesehen. Die Großmutter hatte diese versprengte Schar Menschen zusammengerufen, die eines gemeinsam hatten, nämlich das Blut, aber all die langen Jahre hatten sie nur Weihnachtsgrüße getauscht, einen Gruß vielleicht auch zu Ostern geschickt.

Sie wussten immerhin voneinander, und die Zeiten waren nun andere: sie hatten keine Angst mehr, sich mit den Kindern eines toten Kulaken zu treffen. Und ich erfuhr auf dem Begräbnis der Anna Křišťálová zum ersten Mal wirklich, von wo und warum vor fünfzehn Jahren in unsere Straße die alte Frau mit den Enkeln gezogen war. Ich hatte Kristýnka im Grunde nie viel gefragt, wie es in ihrem Staré Dvory und ihrer Kindheit gewesen sei. Ich kannte den Namen des Dorfes, so, als wären wir in den Ferien mal dort gewesen, aufregend klang er und zugleich selbstverständlich. Kristýnka hatte achtzehn Jahre geschwiegen, Filip hatte geschwiegen, Ota hatte geschwiegen, und Großmutter Anna war tot.

Vít, der rotbackige Vetter aus dem Dorf nahe bei Staré Dvory, hat mir aber bereitwillig alles erzählt. Es steht ihm noch heute lebendig vor Augen, damals die Nacht, wie sie kamen, Anna, Lydie und die drei Kinder, auf den Hof zu ihnen: hatten ans Fenster geklopft und flüsternd gebeten, ob sie im Heustadel schlafen könnten. Víts Mutter Olga war entsetzt aus der Schlafstube hinausgerannt, hatte sich übers Nachthemd im Flug kaum den Mantel geworfen. Die Nacht war eisig, und Olga führte die fünf müden durchkühlten Verwandten zum Stadel. Sie begriff nicht, sah aber, dass sie nichts übergezogen hatten, nur in Hauskleidung waren. Víts Vater war auch aufgestanden – und der kapierte sofort, worum es hier ging. Knirschte mit seinen Zähnen, war wütend. Denn sicherlich würde es wer erfahren, dass sie sich hier versteckt hielten. Was mussten sie ausgerechnet zu ihm auf den Hof? Und allen zeigen, dass er ihr Verwandter und auch noch nicht in der Genossenschaft war. Wem nützt es denn, wenn sie jetzt auch noch ihn holen kämen? Wem ist geholfen, wenn man auch sie verjagt? Wir sind keine Křišťáls, wir sind Boušeks, das ist ein anderer Zweig, die Väter der mütterlichen Seite waren Cousins. Entfernte Verwandte! Warum sollten die Boušeks büßen für die Křišťáls?

Die Frauen baten, wenigstens ein paar Tage bleiben zu dürfen. Wegen der Kinder, bis entschieden wäre, wohin sie könnten. Aus dem Stadel krochen sie nicht, damit der Onkel sie nicht verjagt, nur in der Nacht kam Anna sich kurz auf die Schwelle setzen, unter die Sterne. „Der Vater hat mir verboten, mit den Kindern zu spielen,“ sagt Vít, der Vetter, verschwörerisch, „ich bin aber heimlich hin.“ Im Stadel waren sie in der Tat nicht lang, nach einer Woche erschienen Männer vom Kreis, offenbar hatte sie jemand verraten. Alle hatten sie damals Angst und wussten warum, fügte Vít halblaut hinzu und erklärte konkreter: „Wir hatten fünf Kühe, zwei Pferde und ein Stück Wald. Ein paar Felder und einen Fischteich. Der Teich war sauber, kein grüner Saustall schwamm obendrauf. Vor Weihnachten wurde abgefischt. So viele Karpfen!“ An diese sagenhaft reiche Fischernte kann Vít sich noch gut erinnern, später gehörte das Ganze schon der Genossenschaft, der Teich, überzogen von Blaualgen, wenigstens blieb das Haus. Der Garten dahinter, auch die paar Obstbäume

und ein Ackerstreif für Mohn und Kartoffeln. Eine Ziege, ein Schwein. Hühner wurden nicht mitgezählt. Und ich habe den Eindruck, Kristýnkas Vetter Vít zählt sie soeben durch, und er freut sich, auf Großmutter Annas Begräbnis, dass sie ihm alle geblieben sind. „Wir haben Glück gehabt,“ flüstert er mir ins Ohr.

Die Familie Křišťál erhielt ein fünfzehnjähriges Aufenthaltsverbot im gesamten Kreis, auch aus dem Stadel mussten sie kriechen. Und sie kroch noch blasser hervor als hinein, und keiner kam, um Abschied zu nehmen, nur Olga Boušková. Ging ein Stück ihres Wegs mit ihnen über die Felder zum Bus ins Nachbardorf und gab ihnen Buchteln mit auf die Fahrt. Diese Details hat mir der Vetter zwar nicht erzählt, aber ich bin mir sicher, dass sich unter dem Reiseproviant auch ein Brot fand und Speck und „Äpfelchen.“

Víts epische Großtat war vollbracht. Er nickte einige Male, sprudelte Phrasen und Silben aus sich heraus, unklar in ihrer Bedeutung und mit starkem emotionalen Unterton: „Was wollt ihr denn! Was hätten wir tun sollen? So ist das nun mal. Und anders wird es nie sein! Och, ääch, ochää. Gott hat´s gegeben, Gott hat´s genommen!“ sagte er mehrmals, auch überm Sarg. Und wie er sich so das Herz lüftete und auf derart unsinnige Weise den Mangel an menschlichem und verwandtschaftlichem Mitgefühl erklärte, verwandelte sich sein Gesicht, alterte deutlich und wurde hässlicher. Der Körper zuckte, wie getroffen von den Felsbrocken des Familienschicksals. Eines Schicksals, dass ihn glücklich verschont hatte. Zum Schluss winkte er bräsig ab.

Ich hatte von diesem redseligen rotbackigen Vetter inzwischen zu viel, will heißen, ich begann ihn zu hassen, als wäre er für die Kollektivierung des Landes vor zwanzig Jahren unmittelbar verantwortlich. Damals war er nicht älter als neun oder zehn, aber egoistisch und stumpf – warum ist er das heute?

IV

Kapitel 34 / Du kehrst nicht zweimal heim ins selbe Haus

295-298

Filip macht sich erstmals nach dem Tod der Großmutter auf den Weg nach Staré Dvory. Was eigentlich ist damals in seiner Erinnerung hochgetaucht? Hinterm Dorf am Waldrand liegt der freundliche Friedhof mit dem herrlich weiten Blick ins Land. Filips Vater Přemysl und sein Großvater František liegen hier nicht. Filip ist zumute, als führe er gerade dorthin, aber auch Großmutter Anna liegt nicht auf diesem Friedhof. Die letzte Inschrift auf dem Grabstein der Křišťáls stammt aus dem Krieg, als die alte Mutter Růženka starb. Vielleicht hatte das fünfzehnjährige Aufenthaltsverbot für Tote gar nicht gegolten, wer aber hätte Anna auf ihrem Weg ins Familiengrab das Geleit gegeben? Den Lebenden war es verboten – und die Jahre hat keiner von ihnen gezählt. Zumindest nicht laut. Fünfzehn Jahre, das war die ganze Ewigkeit

jenes Tages, an dem ein hupender, stinkiger Autobus in Brno vor dem Bahnhof Großmutter Anna entließ, Mutter Lydie und drei bleiche Kinder. Noch ehe sie mit der Straßenbahn Nr. 1 in Kralovo Pole bei Großmutters Schwester Růženka angekommen waren, hatte Staré Dvory aufgehört, Realität zu sein. Nur der Name Staré Dvory war bei ihnen geblieben, und mit der Zeit wuchs ein Dorf aus ihm hoch, viel schöner, wärmer und heller, als Staré Dvory je hätte sein können. Man konnte es zu jeder Zeit und von jedem Ort aus betreten, bewohnen, es war gemütlich und sicher.

Großmutter Anna wollte nie nach Staré Dvory zurück, auch nicht nach Ablauf des Verbots. Den Gerichtsbeschluss über das Aufenthaltsverbot hatte Křen ihr im Jahre 1951 höchstpersönlich überbracht, hatte sie deshalb im Heustadel aufgesucht, als sie dort mit den Kindern und der Schwiegertochter während der ersten Tage nach der Vertreibung von ihrem Hof campierte. Křen zog sofort in ihr entleertes Haus, beließ die Möbel, gab auch die Federbetten nicht weg, benutzte selbst das Geschirr, wie es war, einiges in der Küche, anderes in der Kammer. Das hatte Anna von Nachbarn erfahren, die über eine alte Tante hinter vorgehaltener Hand Nachricht nach Brno schickten. Anna konnte weder nach Dvory noch auf den Friedhof. Verbot ist Verbot, gilt fürs gesamte Gebiet. Wie sieht wohl nach fünfzehn Jahren das Grab ihrer Eltern aus? Sie hatte mit ihrem Ehemann František noch während des Krieges einen soliden Stein aus Marmor errichten lassen, und ein großer weißer Engel verschaffte den Entschlafenen mit erhobenem Finger Respekt und Ruhe.

Die Erlaubnis nach Brno zu ziehen, erteilte man Anna aufgrund einer psychiatrischen Diagnose, die man der Schwiegertochter Lydie in der Irrenanstalt von Černovice ausgestellt hatte. Vielleicht auch aufgrund der Fürsprache eines Arztes, der Lidka vor langer Zeit gekannt hatte. Noch im ersten Jahr in Brno erhielt Anna ein anonyme Botschaft, mit Bleistift in Druckbuchstaben auf einer zerknickerten Postkarte: „Mit den Engeln hat das werktätige Volk genau so aufgeräumt wie mit den Kulaken.“

Filip überlegt. Sollte er Annas Urne nicht doch überführen lassen nach Staré Dvory und dort auf dem Friedhof beisetzen? Er sieht durchs Busfenster hinein in die Landschaft, wie jeder normale Reisende, der davon ausgeht, dass die Bewegung in Vorwärtsrichtung erfolgen wird, in Raum wie in Zeit. Normale Reisende, sofern es sie gibt, wissen, von wo sie wohin fahren. Filip steigt als letzter aus dem Bus. Geht langsamen Schrittes bis mitten auf den Dorfplatz, wendet die Stirn dem früheren Hof zu. Hebt dann erst den bis dahin gesenkten Blick. Das Tor ist grün gestrichen, und das missfällt Filip enorm. Holz ist Holz, sagt er sich unzufrieden, es soll die natürliche Farbe behalten. Er sieht es noch vor sich, braun gebeizt. Im Vorgarten blühen dieselben Phloxe und Ringelblumen, als würde noch immer Großmutter Anna sich kümmern. Ist es den Blumen denn einerlei, zu wem sie gehören? sagt Filip sich. Das Haus ist mit Brisolit verputzt, das matte Glitzern der Schiefersplitter im Grau dieser Hülle schmerzt ihn, als führe ihm eine Glasscherbe unter die Haut. Warum nur ist er gekommen? Er lugt über den Zaun wie ein unglücklicher Mann, der seiner untreuen Frau hinterher spioniert. Die Klingel rührt er nicht an, verspürt aber große Lust, durchs Küchenfenster zu spähen, ob da nicht die Milch steht. In Brno hatte er sich, als er noch klein war, vorgestellt, sie wäre, so ungetrunken, in den Tassen und dem Krug auf dem Tisch gestockt, wollte wissen, ob sie zu Quark geworden wäre und später zu Käse. Auf den sich dann Fliegen setzten, bis Würmer schlüpften. Die Würmer waren fett und Filip verging der Appetit auf alle Milch der Welt. Vergebens versuchte Großmutter Anna ihm zuzureden, beharrlich verweigerte er das weiße Getränk, diese Gabe des demütigsten aller Tiere. Im Dorf wurde getuschelt, die Vergenossenschaftlicher seien extra zum Nachtmahl erschienen, als die ganze Familie friedlich versammelt war.

Familie Křišťál sitzt um den Tisch, man wartet, bis Großvater František die Speise gesegnet hat, schlägt rasch ein Kreuz, mit flüchtigem Flug der Finger von Stirn zu Herz, das Kreuz, den Kopf leicht gesenkt. Und genau in dem Augenblick, als sie die Köpfe senkten, hallten Schläge und Tritte gegen die Tür. Křen, der Kollektivierer, war an jenem Abend im Wirtshaus ein Kämpfer und Held: „Das hättet ihr sehen sollen, die haben vielleicht geschaut, so eine Überraschung!“ Křen donnert seinen geleerten Krug auf den Tisch, hebt unter dem Eindruck der eigenen Wichtigkeit seinen Finger, ordert noch eine Halbe. Und wollte noch lange erzählen, wie er heute Abend im Dorf den Klassenkampf kämpfte, die Männer aber schauen unter die Tische, sagen kein Wort, scheinen auf einmal Křen nicht zu hören und auch nicht zu sehen.

Im Buch der Lebenden und der Toten sind unauslöschbar alle Dinge verzeichnet, kleine wie große. Finden sich darin nicht umerzählt, sondern abgedruckt wie geschehen, sind ganz genau und für immer präsent. Dauern in ewiger Gegenwart. Aber das wird Filip durchs Küchenfenster nicht sehen. Im Übrigen, auch die Fenster sind anders, größer, haben dicht schließende Rahmen aus Aluminium. Der Hof war ursprünglichen weiß abgeputzt, hatte Fensterrahmen aus Holz, dieses Gebäude hier ist irgendwie anders, hässlich. Auch der Zaun ist nicht aus den Holzpfählen, die sein Vater entrindet hat, zugeschnitten und glatt gehobelt. Statt seiner steht hier griesgrämig ein Gatter aus vertikal eingerammten Betontraversen, die Křen sich von der Baustelle des genossenschaftlichen Kuhstalls besorgt hat. Alle führenden Kollektivierer haben sich einen neuen Zaun aus denselben genossenschaftlichen Traversen gebaut, haben genossenschaftliche Dübel in sie geschraubt und Maschendraht identischer Provenienz dazwischen gespannt. Den Kuhstall gibt´s schon eine erkleckliche Reihe von Jahren, aber die grauen Gatter verändern sich nicht mit der Zeit, sie altern nicht, waren von jeher hässlich, und ihre Hässlichkeit ist von überzeitlicher Dauer.

Vom Haus nebenan verfolgen Filip entsetzte Augen, die Augen von Nachbar Vavrouš. Er hat sich zu Tode erschrocken, Přemysl ist aus dem Gefängnis zurück. Přemysl war doch angeblich längst tot! Damals war die Nachricht von seinem Ende ins Dorf gedrungen. Vavrouš weicht in den Vorraum zurück, von da ins Hausinnere, in die Stube. Stützt sich gegen die Wand, atmet tief durch und sagt laut: „Das ist nicht möglich.“ Springt ans Fenster, duckt sich, damit ihn von außen auch keiner sieht, äugt bestürzt hinter der Gardine hervor, wie der Blick des stattlichen jungen Mannes abwesend auf den Phloxen und Ringelblumen verweilt.

Den Einzug ins Haus hatte Křen gleich tags drauf in Angriff genommen, nach dieser ersten Kollektivierungsaktion, damit ihm keiner die Beute wegschnappt. Die Milch, die auf dem Tisch stehen geblieben war, goss seine Mutter weg und wusch die Tassen aus. Sie fragte den Sohn, ob sie Přemysls Familie nicht wenigstens irgendwohin Geschirr schicken sollten, die Teller, die Tassen mit dem blauen Muster und eine der Reinen. „Ach wo, das können die nicht gebrauchen,“ erklärte Křen in schicksalsträchtig prophetischem Ton. Und hatte Recht. Sie wussten ja nicht mal wohin. Křen lebte sich ein, selbst eine Frau führte er sich in sein neues Heim, eine wenig redselige von weit her. Leben bis heute da auf dem Hof, er und seine zwei Söhne. Filip beschloss, nie wieder nach Staré Dvory zurückzukehren.

V

Kapitel 37 / Was fortbesteht und was untergeht

317-318

Die Irrenanstalt verlässt Lydie als schon alte Frau. Als schöne alte Frau, das Haupt umkränzt von einem schwarzen, silbern durchwirkten Zopf. Die Augen sprühen und die Lippen sind kein bisschen welk, über die Stirn ziehen, leicht wellend, lange Querfurchen. Sie reist nach Velké Mezíříčí, mit Filip, will ihr Geburtshaus besuchen, aus dem sie erst kürzlich als junge Braut nach Staré Dvory gezogen ist. Nur ungern war sie aus dem Haus fort, aber sie hatte geheiratet und folgte nun ihrem Mann. Schließlich ist es von Staré Dvory zu uns über die Felder keine drei Stunden, hatte die Mutter zum Trost gesagt, die es gewohnt war, alle Wege zu Fuß zu tun. Kaum drei Stunden, und dazu die dreißig Jahre, die Lidka nach dem Tod ihres

Mannes Přemysl Křišťál im Irrenhaus zugebracht hat, als wäre die Zeit nicht vergangen.

Lidka sitzt jetzt also nachdenklich in der Straßenbahn, neben Filip, der nicht sicher ist, ob seine Mutter weiß, dass er ihr Sohn ist. Er bringt sie zum Busbahnhof, der sich mitten in Brno breit gemacht hat, während der Jahre, die sie in Černovice in der Anstalt verbracht hat.

Die gewaltige Betondecke, die den Himmel verschließt, sitzt auf grünen Säulen ziemlich niedrig über den Köpfen der Menschen, ein mächtiges Gewölbe aus Eisenträgern krönt diese düstere Antikathedral-Architektur: Das ist der Busbahnhof Trubařka, der Bus nach Velké Mezíříčí fährt in einer Viertelstunde. Wohin, glaubst du, wirst du fahren, woher, glaubst du, bist du gekommen, und wer bist du denn überhaupt, flüstert der schmutzige, böse Bahnhof dem Reisenden zu, den ein Verrückter so irrwitzig verunstaltet hat. Er herrscht über den leeren Kessel zwischen den Häusern, weit von den Haltestellen der Straßenbahn und der städtischen Busse und offenbart den Sadismus eines gefallenen Geistes: der immer selbe sadistische Geist, ein materialisierter Hass auf den Körper. Von der Seele ganz zu schweigen, insbesondere von jener der Reisenden, die hier passieren, Jahr für Jahr, Woche für Woche, Tag für Tag, und keinen Schritt mit ihrem schweren Gepäck können sie sich ersparen.

Ende der siebziger Jahre war der böse Geist fertig mit dem Abriss des Ghettos in Bratislava und des Karlíner Bahnhofs. Erfolgreich hinter sich gebracht hatte er auch die Zerstörung malerischer Denkmäler, inbegriffen das gotische Hauses unter dem Schlossberg in Velké Mezíříčí, in dem Lidka eine glückliche Kindheit verlebt hat. Und er sah auf das Werk des Untergangs und war nicht zufrieden. Es ist nicht genug daran, dass man das Schöne zerstört, man muss auch das Hässliche schaffen. Wie aber schaffen und zugleich vernichten? Auf diese scheinbar paradoxe Frage hatte er eine geniale Antwort parat: schaffen durch Vernichten und vernichten durch Schaffen. In diesen Plan bezog er möglichst viele Menschen mit ein und setzte ihn mit Erfolg um. Der Busbahnhof Trubařka ist dafür ein graues, hartes Beispiel mit niederdrückendem Dach. Nicht nur einen Teil der Stadt hat er ausgelöscht, auch das Selbstbewusstsein der Passagiere. Hat ihnen sogar die Farbe aus den Gesichtern gestohlen, denn unter dem unheilvollen Gewölbe reichern die Abgase sich effektiv an, wer herkommt und wartet, und seien es täglich nur zehn Minuten, wird im Laufe der Woche eine Stunde lang aktiv vergiftet. Im Laufe des Monats zwanzig Stunden, im Laufe des Jahres, Urlaubstage nicht mitgezählt, auch Feiertage und Weihnachten nicht, kommt er auf hundertundzwanzig Stunden, selbst wenn er ab und zu krankfeiert. Fünf ganze Tage Gaskammer, von morgens bis abends. Aber ich wollte vom Schönen sprechen. Der Teufel hasst das Schöne, schrieb Dante, schrieb Shakespeare und ich, Jan, schreibe es auch.

(…)

320

„Sie können Ihre Mama ab jetzt zu Hause betreuen.“ Als der Oberarzt zu Hause sagt, zuckt Ota zusammen wie unter einem Schlangenstich. „Wovon redet der Herr?“ fragt er den Bruder laut. Der Arzt blickt schweigend aus dem Fenster. Ota weiß nicht, dass der alte Doktor seine Mama in sicherer Verwahrung hält. Der Arzt bedauert, dass er sich unbedacht ausgedrückt hat, schließlich ist er sich dessen, was vor dreißig Jahren geschah, bestens bewusst. In der Irrenanstalt konnte Lydie jedem erzählen, was die Kommunisten ihrer Familie angetan hatten und welches Ende ihrem Mann beschieden war, niemand hätte sie dafür einsperren können.

(…)

323

„Ich konnte Ihre Frau Mutter schließlich nicht vom eigenen Leben heilen,“ erklärte Oberarzt Moudrý leise zum Ahorn hin, der vor dem Fenster der geräumigen, hellen Praxis stand. Ota und Filip richteten ihre Blicke aufmerksam in das üppig belaubte Gezweig. „Schock ist Schock. Tod ist Tod. Der Schmerz hat sich allmählich gelindert. Sie hat nicht vergessen, was geschehen ist, trägt aber eine andere Zeit in sich. Das Erlebte ist fern, die Gegenwart bedeutet für sie fast nichts. Ihre Lebensgeschichte bricht mit dem Tag ab, an dem sie den Schock erlitten hat. Jetzt könnte Ihre Mutter versuchen, normal zu leben.“ Ota klappte den Mund auf, klappte ihn zu, erhob sich vom Stuhl, setzte sich wieder. Normal zu leben. Die Brüder bohrten ihre Blicke erneut in den Ahorn vorm Fenster. Es hieß, der Oberarzt motte immer mal wieder wen in der Anstalt ein, um ihn zu schützen, vor dem Gefängnis und so. Aber hatte Lidka denn etwas verbrochen? Filip erklärte, dass er seine Mutter in einer Woche zu sich in die Wohnung hole.

(…)

325-327

Das Verbot, Kreisgebiet zu betreten, gilt zwar schon lange nicht mehr, doch lebt auf dem Hof

in Staré Dvory noch immer der alte Křen und einigen seiner Abkömmlinge. Lydies gotisches Elternhaus in Velké Mezíříčí steht seit fünf Jahren nicht mehr. „Ich will nach Hause“, hatte sie entschlossen verkündet. „Zur Mutter.“

Der Arzt hatte Filip belehrt, seiner Mutter immer und in allem die Wahrheit zu sagen, schonend, behutsam. Nur nach Staré Dvory dürfe er sie vorerst nicht bringen, aber er kann ihr erklären, warum nicht: damit der Schock von damals sich nicht wiederholt. Filip sagt der Mutter mit Nachdruck: „Das Haus, Mama, in Mezíříčí steht schon fünf Jahre nicht mehr.“ „Das ist nicht wahr.“ antwortet Lydie schroff. Schließlich kann keiner ein gotisches Haus abreißen, noch dazu unterm Schlossberg. Das steht unter Denkmalschutz!

Lydies Vater Šebela war Förster im Schlosspark. Auch Großvater Šebela war dort Förster gewesen, und der Urgroßvater, und immer so fort bis ins vierzehnte Jahrhundert zurück. Bevor der Park entstand, zog sich vom Schloss bis hin nach Mostistě ein Wald, den Lydies Vorfahren pflegten. „Unser Haus war älter als das Schloss,“ sagt sie. „Und im Keller war ein See.“ Filip weiß das. Im Keller des kleinen Hauses war ein großer See. Die Kindheitserinnerung an den See war tief und kristallen. Steile Treppchen führten zu ihm, und die Mutter hielt Filip fest an der Hand, als sie langsam zu ihm hinunter stiegen. Genauso fest an der Hand war einst Lidka von ihrer Mutter gehalten worden, bis ins vierzehnte Jahrhundert zurück oder noch weiter. Die Hände der Mütter auf den Treppchen in den wässrigen Untergrund des Schlosses waren stets fest gewesen. Mit der Rechten hatte die Mutter das Kind gehalten, mit der Linken den Kienspan, die Kerze oder die Taschenlampe. Unter der Treppe an einer Kette befestigt befand sich ein scheppernder eiserner Eimer. Das goldene Flackern des Flämmchens leuchtete durch die Wasserfläche und ließ seinen Schimmer über das feuchte Gemäuer springen. Kalt und schwarz fasste das Wasser ins Herz der Erde und ins Herz des Kindes. Kein Senkblei war je bis zum Grund gedrungen. Das Meeresauge in Klein Mesopotamien, das ihre Familie seit Menschengedenken für Land und Leute gehütet hatte, war inzwischen verschüttet, begraben unter einer asphaltenen Decke.

„Das Haus hat man wegen der Autobahn abgerissen“, sagt Filip schuldbewusst. Er kann sich nicht verzeihen, dass er das zerstörerische Bauprojekt nicht verhindert hat. Lydie denkt logisch, aber falsch. „Führt etwa die Autobahn unterm Schloss durch?“ fragt sie mit einer Stimme, die verkratzt ist wie eine alte Schallplatte. Nein, sie führt hoch oben über dem Schloss. Anstelle des Hauses, der Steinbänke, der hundertjährigen Linden und unregelmäßig gehauenen Stufen führt heute ein Teerweg schnurgrade zum Schloss hin. „Das muss ich sehen,“ sagt die Mutter entschlossen. Und Filip begleitet sie von der Straßenbahn zum Bus auf die Trubařka und weiter nach Mesopotamien.

Auf dem Steig, von dem ihr Bus Richtung Böhmisch-Mährisch Mesopotamien abfahren soll, ragt eine verdreckte Bank, frisch übergossen mit Bier, und sie setzen sich für einen kurzen Moment und nervös. Ja, Klein Mesopotamien ist Velké Mezíříčí, das am Zusammenfluss von Oslava und Balinka liegt. Die Reisenden stellen sich in die Schlange vor der Tafel mit dem Namen der Endstation.

Ja, Velké Mezíříčí ist Klein Mesopotamien. Jedenfalls im Bewusstsein seiner Bewohner. (…)

„Warum Herrgottnochmal sind hier alle so bleich,“ fragt Lydie viel zu laut. Filip drängt seine Mutter, sich von der ungustiösen Bank erheben. Lidka wechselt fließend zwischen Brünner Argot und einem veralteten mährischen Tschechisch. Filip antwortet nicht. (…)

Filip schmerzt die Blässe der jungen Reisenden, ihn schmerzt das abgebrochene gotische, vielleicht sogar romanische Haus, ihn schmerzt und auch die unansehnliche und vergebliche Hast zweier alter Paare vom Land, die sich verstrickt haben in dem Irrsinnslabyrinth, das die Trubařka von der Straßenbahnhaltestelle trennt.

Die Identität des einen der beiden fremden Opas, die ihren bekopftuchten Frauen hinterher schlurfen, beeinträchtigt Filips Mitgefühl nicht. Filip denkt überhaupt nicht daran, dass er Křen kennen könnte. Seine erwachsenen Augen sehen einen ganz alltäglichen, alten, bemitleidenswerten Mann vom Land. Der Motor des Busses springt an, der Fahrer legt den ersten Gang ein, denn schließlich wird er nicht warten auf irgendwelche Gscherten vom Dorf.

Lidkas Blick richtet sich auf den sanft ansteigenden, absolut anonymen Asphaltweg in Velké Mezíříčí. Das ist aber doch keine Autobahn! Die Autobahn spannt sich hoch über dem Schloss, führt über die höchste Autobahnbrücke im Land. Der Lärm der jagenden Personen- und Lastkraftwagen dringt nicht bis hier unten. Mein Gott, warum nur hab ich die Mutter hierher gebracht? Lidka erkennt den Ort nicht, an dem ihr Elternhaus stand und nicht mehr steht. Sie schaut zu Filip und sieht in ihm Přemysl, ihren Mann. Filip hofft, dass der Blick auf das Nichts, das an diese Stelle getreten ist, um das malerische Haus mit der Linde und dem steinigen Gärtchen zu ersetzen, seine Mutter überzeugen wird. Überzeugen wovon?

Lidka schüttelt den Kopf, überlegt, warum er sie ausgerechnet hierher geführt hat, dieser

Mensch, den sie gut kennt und zu dem sie Vertrauen fühlt.

 

Aus dem Tschechischen von Kristina Kallert