Petr Stančík

Nullhorn

2018 | Druhé město

Kapitel 2

Ich habe kein Horn, leider! Wie häßlich ist das doch, so eine glatte Stirn. Eins oder zwei sind nötig, um meine eingefallenen Züge wieder zu heben.

(Eugène Ionesco — Die Nashörner)

Die Jungs von der Garage sind wieder zurück zum Auto. Leutnant Kostiha kurbelte das Fenster hinunter und rief mir zu:

„Verhör den Besitzer von dem Saftladen hier allein, ja? Wir müssen los.“

Es war allerdings bloß eine rhetorische Frage, wie man so schön sagt, er erwartete keine Antwort, drückte aufs Gaspedal und weg war er, samt den Kollegen. Ich steuerte auf das Haus gegenüber den Stallungen zu, das zum Glück vom Feuer verschont geblieben war.

Dieser „Glas gewordene Unsinn“ war in Wirklichkeit eine selbsttragende Schale aus durchsichtigem, pergamentfarbenem Plastik und erinnerte auffällig an das vergrößerte, spiralig aufgerollte Gehäuse des Meereskopffüßlers der Gattung Nautilus pompilius, hier auf der Seite liegend. Am Ende der Spirale, im breitesten Teil des Gebäudes, fand ich etwas, das nach einer Tür aussah. Ich klopfte und sogleich öffnete mir ein etwa dreißigjähriger Mann im dunklen Anzug. Er war von wuchtiger Statur. Auf dem breiten Hals saß ein länglicher Kopf mit ausdrucksstarker spitzer Nase, breiten, massiven Lippen und sich nach oben zuspitzenden Ohren. Die tief verankerten und weit voneinander abstehenden Äuglein waren angeschwollen, entweder vom Alkohol oder vom Weinen. Wahrscheinlich vom beiden. Er erinnerte mich sehr an ein Tier, mir fiel aber nicht ein, an welches.

„Inspektor Lavabo, Kriminalkommissariat.“

„Doktor Alva Vrutec, Eigentümer der Firma Rhinnocent. Treten Sie ein.“

Er versuchte erst gar nicht, mir die Hand zu reichen, was ich zu schätzen wusste.

Der Innenraum nahm sich wie bei einem echten Nautilus aus, er war durch gebogene Trennwände in eine Reihe von Kammern geteilt, die sich zur Mitte hin verkleinerten. Sie ließen sich alle vom Flur aus betreten, der sich am Gehäuse entlangschlängelte. Es gab keine Fenster, doch dank der durchsichtigen Wände konnte auf angenehme Weise diffuses Licht ins Innere treten. Vrutec führte mich in den ersten Raum, bot mir einen Platz im Ledersessel an und öffnete das Türchen zur Hausbar, die sich sinnigerweise im Inneren des Brustbereichs eines Nashorns aus Bronze befand.

„Wollen Sie etwas trinken, Inspektor?“

„Ich bin im Dienst, also vielen Dank, ja. Das Gleiche wie Sie.“

Er wärmte zwei bauchige Gläser über der Spiritus-Lampe und schenkte uns beiden einen guten alten Cognac ein. Dann nahm er mir gegenüber im Sessel Platz und beugte fragend den Kopf.

„An der Brandstätte haben wir die Leiche eines ungefähr zwanzigjährigen Mannes gefunden. Wissen Sie, wer das sein könnte?“

„Das war wohl unser Nachtwächter. Während seines Rundgangs war er plötzlich verschwunden, das hat er nie zuvor gemacht. Er war absolut zuverlässig, nahm seine Arbeit todernst. Der Arme, er litt am Asperger-Syndrom. Wissen Sie, was das ist?“

„Natürlich. Eine Spielart von Autismus. Der Aspi ist überdurchschnittlich intelligent, hat aber auch Schwierigkeiten in der Kommunikation und im Sozialverhalten. Er lebt sich in Ritualen aus und hasst Veränderungen.“

„Früher nannte man solche Leute Sonderlinge oder sogar Heilige, aber heute muss es für alles eine ärztliche Diagnose geben.“

Wir genehmigten uns einen Schluck. Der Cognac lief mir runter wie Orpheus in die Unterwelt und wärmte, was das Zeug hielt.

„Und die riesigen Tiere im Stall?“, fragte ich, sobald die Wirkung verklungen war.

Die Frage brachte seine Augenbrauen zum Zucken, aber er beherrschte sich.

„Das war kein Stall, sondern eine Nashornerei. Abgeleitet von Molkerei. Ganze zwölf Weibchen des afrikanischen Breitmaulnashorns. Weibchen deshalb, weil Männchen ihr Territorium verteidigen und sich unter einem Dach gegenseitig umbringen würden.“

„Du meine Güte, warum halten Sie Nashörner? Für den Zoo, etwa?“

Vrutec öffnete einen in der Zimmerecke befindlichen Tresor aus einem Steinblock, der so geformt war, damit er genau in die schräge Wand passte. Er holte ein Origami hervor, das an ein Nashorn erinnerte und reichte es mir. Das Faltobjekt aus groben Büttenpapier war nahezu von schmerzhafter Schönheit. Am Schildchen stand auf einer Seite eine Aufschrift in chinesischen Schriftzeichen und auf der anderen Seite auf Englisch:

Rhinnocent®

100% pure rhino horn powder

100 grains

Vrutec zog am Horn des Nashorns und das Origami öffnete sich. Er legte ein Blatt sauberes Papier auf den Tisch und streute eine Prise des gelbweißlichen Pulvers darauf.

„Das ist gemahlenes Pulver aus dem Horn des Nashorns. Die Chinesen oder Japaner sind bereit, für so ein Päckchen ruhig mal zehntausend Dollar zu zahlen. Vom Gewicht her ist es dreißig Mal teurer als Gold. In Asien ist man nämlich davon überzeugt, dass das Horn eines Nashorns die zwei schwerwiegendsten Krankheiten des Reichtums heilt – Krebs und Impotenz. Kosten Sie mal, Herr Inspektor. Chemisch gesehen ist es im Grunde reines Keratin. Auf den Organismus hat es die gleiche therapeutische Wirkung, wie wenn Sie sich die Nägel kauen würden.“

Ich befeuchtete die Spitze meines kleinen Fingers, tauchte sie in das Häufchen und leckte den Finger ab. Das Pulver hatte einen unangenehm herbsauren Geschmack. „Zehntausend Dollar für sechseinhalb Gramm Hornstoff ist eine Menge Geld“, sagte ich und spülte den schlechten Geschmack des Tierprodukts mit dem Cognac herunter. „Für Fälscher muss es verlockend sein.“

„Das ist wahr, auf den ersten Blick ist es auch chemisch nicht von gemahlenen Nägeln zu unterscheiden. Doch heute testen es Kunden auf Nashorn-DNA. Die Fälscher haben also Pech.“

„Und Sie stellen das Pulver her?“

„Noch vor einem Jahr gehörte der gesamte Markt allein den Wilderern. Die afrikanischen Wilderer sind die allerschlimmsten. Völlig sinnlos töten sie Nashörner nur deshalb, um ihnen das Horn abzusäbeln. Es ist ihre Schuld, wenn die Nashörner von der Erdoberfläche verschwinden. Einige Arten sind schon ganz ausgestorben, bei den anderen gibt es in freier Wildbahn nur noch ein paar tausend Exemplare. Die Wilderer sind so dreist, dass sie sich nicht davor scheuen, Nashörner in europäischen Zoos zu ermorden.“

Vrutec schwieg. Er legte das Papier zusammen, schüttete das restliche Nashornpulver mit Hilfe der Knickfalte zurück ins Origami und setzte das Papierhorn wieder auf das Kunstwerk.

„Ich liebe Nashörner von klein auf. Es sind keine besonders genialen Tiere – ein Nashorn hat in seinem massiven Kopf ein winziges Gehirn, das Verhältnis des Gewichts vom Gehirn zum restlichen Körper steht ungefähr eins zu achttausend, beim Menschen ist es eins zu fünfzig – aber sie haben etwas Pfiffiges an sich. Ich wollte abends im Bett nicht mit einem Teddy kuscheln, sondern mit einem Nashorn. Im Kindergarten hab ich keine Ruhe gegeben, bis man mir das Bild auf meinem Schuhschränkchen von dem Kätzchen auf ein Nashorn übermalt hatte. Und schließlich studierte ich Zoologie an der Universität. Das Thema meiner Dissertationsarbeit war die Anatomie der Einhörner. Diese Fabelwesen waren in Wirklichkeit Nashörner, doch im mittelalterlichen Europa kannte man sie nur aus Erzählungen der Reisenden, und so hatte man sie ein klein wenig idealisiert. Zum Beispiel darin, dass wenn es eine Jungfrau sieht, es seinen Kopf in ihren Schoß legt und einschläft. Auch wenn das Nashorn dies vorbildlich machen würde, so würde es die liebe Jungfrau plattmachen wie einen Pfannkuchen. Das erste Mal tauchte es erst im Jahre 1593 in Europa auf, als der äthiopische Kaiser Malak Sagad I, nebenbei bemerkt ein direkter Nachkomme des biblischen Königs Salomon und der Königin von Saba, dem römischen Kaiser und tschechischen König Rudolf II. ein Nashornmännchen als Geschenk sandte. In die Prager Burg passte er nicht mehr hinein, also hielt man es hier, auf der Kaiserinsel. Darum hatte ich das Grundstück gekauft. Rudolfs Nashorn lebte hier friedlich bis zum Februar 1611, als das Passauer Kriegsvolk in Prag einmarschierte. Die Söldner erlegten das Nashorn mit der Kanone, auch wegen des Horns. Sie glaubten nämlich damals, dass ihm aus dem Schädel unter der Hornwurzel ein Edelstein wachsen würde, ein sogenannter carbunculus, also ein Rubin.“

„Das weiß ich“, nutzte ich die Gelegenheit, um seinen langen Monolog zu unterbrechen. „Der Minnesänger Wolfram von Eschenbach schrieb in seinem Parzival davon. Vielleicht krieg ich es noch zusammen.“

Ich räusperte mich und fing an zu rezitieren:

„Ein tier heizt monîcirus:

Daz erkennt der meide rein sô grôz

daz ez slæfet ûf der meide schôz.

Wir gewunn des tieres herzen

über des küneges smerzen.

Wir nâmen den karfunkelstein

ûf des selben tieres hirnbein,

Der dâ wehset under sîme horn.“

Meine Darbietung der mittelalterlichen Poesie brachte den Nashornfreund ein wenig aus der Fassung.

„Sind Sie überhaupt von der Polizei? Könnten Sie sich bitte ausweisen?“

Ich legte mein Abzeichen auf den Tisch, ließ das Metall im Sonnenlicht funkeln und steckte es wieder in die Tasche.

„Sie können sich nicht vorstellen, was man heutzutage alles auf der Polizeiakademie lernt.“

„Jetzt fühle ich mich plötzlich viel sicherer“, beruhigte sich Vrutec. „Das klang wie Deutsch, ich habe aber kein Wort verstanden.“

Das war mittelhochdeutsch“, erklärte ich. „Ich versuche es mal zu übersetzen:

Ein Tier, das monîcirus heißt.

Die Reinheit einer Jungfrau sucht

auf dass es in ihrem Schoße ruht.

Heilt des Königs Schmerz

durch sein reines Herz.

Wir nahmen den Karfunkelstein

aus des Tieres Gebein,

der da unter seinem Horne wuchs.“

Meine Dichtkunst erfreute Vrutec gar nicht. Ganz im Gegenteil. Er wurde rot im Gesicht und atmete eine Weile in einen Papierbeutel hinein, um sich zu beruhigen.

„Das arme Einhorn! Haben es jungfräulich gefangen, im Schlaf getötet, das Herz aus dem Leib und den Rubin aus dem Kopf gerissen und dann wollten sie damit den alten Wüstling König Anfortas kurieren. Er ist trotzdem nicht gesund geworden!“

Plötzlich fiel mir ein, dass ich Hunger hatte. Seit heute Morgen hatte ich nichts gegessen und mein Magen rebellierte.

„Lassen wir die Geschichte Geschichte sein“, sagte ich knapp. „Sie haben mir noch nicht erklärt, wofür Ihnen die Nashörner gut waren.“

„Vor ein paar Jahren hatte ich eine geniale Idee: Nashorn-Hörner zu züchten. Es sind nämlich keine echten Hörner, sie haben keine Knochenbasis, sondern wachsen aus der Haut, ähnlich wie menschliche Nägel. Das bedeutet, sie wachsen immer nach, und wenn die Tiere zudem noch eine spezielle Diätkost mit reichlich Keratin und Vitamin B plus E vorgesetzt bekommen, sprießen die Hörner wie wild. Und es tut überhaupt nicht weh, wenn man ihnen jeden Tag ein Stückchen Horn abfeilt.“

Vrutec verstummte, nahm ein Klappmesser aus der Tasche, zog eine Stahlfeile heraus und feilte sich ein Stück Nagel ab, um sein Tun zu veranschaulichen. Dann bot er mir die Feile zum Probieren an. Dankend lehnte ich ab.

„Die Vorbereitungen haben lange gedauert. Die Tiere einzufangen und sie von Afrika hierherzubringen war nicht einfach, aber ein Klacks dagegen, alle behördlichen Bewilligungen, Bestätigungen und Stempel zu bekommen. Schließlich habe ich es aber geschafft und die Marke Rhinnocent überflutete die Weltmärkte. Von den Wilderern nahm keiner mehr ein Gramm, also hörten sie auf, Nashörner zu töten. Die Kunden haben nämlich begriffen, wenn sie weiter bei den Wilderern einkauften, es bald nichts mehr zu kaufen gäbe. Es sah so aus, als könnte man die afrikanischen Nashörner vor dem Aussterben bewahren. Ihr Bestand in freier Laufbahn begann zu steigen, überhaupt seit Beginn der Zählung. Aber nun ist es aus und vorbei.“

Er legte den Kopf in seine Hände, aber seine Nase war so lang, dass sie zwischen den Händen hervorlugte.

„Sie können sich doch andere Tiere besorgen“, versuchte ich ihn zu trösten.

„Das könnte ich. Aber ich habe Angst. Jemand hat es hier mutwillig angezündet.“

„Warum denken Sie das?“

„In der Nashornerei gab es nichts, was brennen könnte. Nicht einmal Stroh, die Nashörner standen auf sauberem Sand. Zudem war dort ein erstklassiges Brandschutzsystem installiert. Überall Wärme- und Rauchsensoren und automatische Sprinkleranlagen.“

„Und haben Sie jemanden im Verdacht?“

„Die einzigen, die einen Grund gehabt hätten, war die Konkurrenz, das heißt die afrikanischen Wilderer. Persönlich kenne ich aber keinen.“

Mir fielen keine weiteren Fragen ein, also nahm ich von Vrutec die Aufzeichnungen der Überwachungskameras vom letzten Tag und von letzter Nacht mit, legte ihm ans Herz, sich in der Zeit der Ermittlungen nicht ohne Ankündigung aus Prag zu entfernen, und wir verabschiedeten uns mit den Worten Auf Wiedersehen, was keiner vor uns beiden ernst nahm.

Kapitel 3

Ich will keine Flammen fressen

Geht ja eh nicht

Ich will nur schlafen

(Filip Topol — Ich will nur schlafen)

In der Tür bin ich fast mit einem Mann zusammengestoßen, der gerade hineinwollte. Groß, schlank, mit Haaren schwarz wie Mitternacht, auf den ersten Blick ein perfektes Abziehbild eines modernen Comic-Helden mit Vorbildcharakter. Ein bekanntes Gesicht aus den Massenmedien. Patrik Metyloun, Umweltaktivist und vorsitzender der Öko-Organisation namens Planet Palatin. Er ging achtlos an mir vorbei, zückte Vrutec die rechte Hand entgegen und hielt sie mit der linken fest.

„Eine furchtbare Tragödie! Die armen Nashörner. Eigentlich Nashörnerinnen, um gendermäßig korrekt zu sein. Lieber Alva, mein herzlichstes Mitgefühl. Als das Unglück im Fernsehen kam, habe ich mich gleich freigemacht. Ich war nämlich an den Kalkstein-Felsen angekettet, dem Heim von bedrohten Pflanzenarten, wie zum Beispiel der Violette Dingel, die Deutsche Tamariske oder die Kleinblütige Schwarzwurzel, damit ihn die Kapitalisten nicht abschießen und ihn pulverisiert in Zementsäcke stecken können. Naja, jetzt haben sie’s wohl getan.“

Metyloun, vom Kummer überwältigt, senkte das Kinn zur Brust, wodurch er den Blick auf seinen Scheitel freimachte, der sein perfektes Äußeres störte: zwei Haarwirbel am Kopf – einer rechtsdrehend, der andere linksdrehend. Das fand ich beeindruckend, denn die meisten Leute, mich eingeschlossen, besitzen nur einen Wirbel am Kopf.

Weiter hörte ich aber dem Ökoaktivisten nicht mehr zu und begab mich zurück zum Tor. Mein Auto verlor sich irgendwo zwischen den Übertragungswagen des Fernsehens. Das Absperrband der Polizei war durchtrennt und in den Matsch eingestampft. Die Journalisten tummelten sich um die Brandstelle wie Krabben um einen an Land gespülten Wal. Diese Bildgeier. Diese Gefühlshyänen. Die Verkünder leerer Botschaften, wie Jan Hus solche Leute nannte.

Ich setzte mich ins Auto, manövrierte mich aus der Umringung und war wieder auf der Straße. Die Frage, wo es zum Mittagsessen gehen sollte, war früher beantwortet, als sie gefallen war, denn nur ein kleines Stück von der Kaiserinsel befand sich mein Lieblingslokal „Zur Mütze“. Es war im Billard-Saal der im Neorenaissance-Stil gebauten Villa Lanna gelegen. Die dortige Küche war renommiert, doch die Hauptattraktion bestand darin, sich nach dem Essen den Sitz ein eine bequeme Liege auszuklappen und die besagte Mütze voll Schlaf einzunehmen.

Ich bestellte ein Gericht, das früher einmal zum Standard der Speisekarten von Lokalen niedriger Kategorien gehörte, heute allerdings fast ausgestorben, genauso wie die Kleinblütige Schwarzwurzel von Metyloun: Innereien vom Lamm auf Sahnesauce mit Ingwer und frisch gepflücktem Thymian.

Es war wahrlich kein Mahl für Krieger, kein halb blutiges, halb verrußtes Roastbeaf, sondern ein gediegenes Miteinander der Rhythmen des Weltalls, eine Reminiszenz an die herrliche Geschmacksvereinigung der mütterlichen Brust und der Milch. Als ich den letzten Bissen hinunterschluckte, kam mir in den Sinn, dass ich für diesen zarten Hauch des Verdorbenen bereit wäre zu töten. Nach dem Essen wurde mir der Kaffee gereicht und statt eines Desserts ließ ich mir ein Liegestuhl ausziehen. Die waagrechte Position schickte mich augenblicklich in den Äther des Schlafes und ich träumte einen seltsamen Traum:

Ich bin mit dem Hund hinausgegangen. Eigentlich war es gar kein Hund, sondern ein kleines, verspieltes Nashorn. Wir kamen an ein Seeufer und das kleine Nashorn fing an, aufgeregt herumzukläffen. Ich beugte mich übers Wasser, um zu sehen, was er denn so anbellte. Unter der Oberfläche flimmerten Silhouetten von Rehen, die seelenruhig die Algen am Seegrund abgrasten. Nachdem ich mich sattgesehen hatte, war das kleine Nashorn futsch. In der Hand hielt ich die leere Leine. Aus dem See stieg ein Reh, schüttelte sich und sagte zu mir, wie wolle mir helfen, das verlorene Nashorn zu finden. Wir haben überall gesucht, aber vergeblich.

Schließlich kehrte ich ganz müde und verzweifelt nachhause. Auf dem Tisch lag ein ganzes Blech voller frisch gebackener Buchteln. Ich nahm eine in die Hand, sie war noch warm und innen bewegte sich etwas. Ich öffnete das dampfende Gebäck und aus der Buchtel sprang mein kleines Nashorn, gesund und munter. Es fing an, freudig auf dem Tisch herumzuhüpfen und seinem Schwänzchen nachzurennen.

Nach dem Mittagessen kehrte ich missmutig ins Dienstgebäude zurück. Auf den Friedhöfen musste der jüngst Beerdigte jede Nacht Wache halten, solange kein neuer Verstorbener dazukam. Mir als Eleven wurde der schlimmste Schreibtisch zugeteilt, im Schatten der überwachsenen Schwiegermutterzunge, gleich neben der Tür zum Klo.

Ich schaltete die Aufnahme der Überwachungskameras von Vrutec ein. Sie zeigten nicht nur das Innere des Nashorn-Geheges, sondern auch das Eingangstor sowie alle vier Seiten des Zauns. In der Nacht schalteten sie automatisch auf Nachtsicht um. Wenn also jemand Fremdes eingedrungen wäre, hätten ihn die Kameras aufnehmen müssen. Allerdings war weit und breit kein Eindringling.

Neben Vrutec selbst besaß die Firma drei Angestellte: zwei Pfleger, die sich den Tag über abwechselten, und den Nachtwächter. Ich machte eine Übersicht vom gestrigen Tag:

  1. August

4:55 Ankunft Nashornpfleger Morgenschicht

9:03 Ankunft Vrutec

13:48 Ankunft Nashornpfleger Nachmittagsschicht

14:09 Abfahrt Nashornpfleger Morgenschicht

17:04 Futterlieferung, Fahrer schüttet die Säcke in den automatischen Futterspender und fährt gleich wieder weg

19:27 Abfahrt Vrutec

21:52 Ankunft Nachtwächter

23:11 Abfahrt Nashornpfleger Nachmittagsschicht

  1. August

0:00 Eintritt Nachtwächter in das Nashorn-Gehege

0:05 Ausbruch Feuer in das Nashorn-Gehege, Ende der Aufnahme

Eine Weile überlegte ich, ob ich das Datum 30. August vor oder unter die Zeile mit der Zeit von null Uhr und null Minuten schreiben sollte. Punkt Mitternacht verband beide Tage miteinander und gleichzeitig gehörte es zu keinem der beiden. In dem Zusammenhang kam mir das antike Paradox von Achilles und der Schildkröte in den Sinn, wodurch Zenon von Elea zu belegen versuchte, dass Bewegung reine Illusion war: der schnellste aller Griechen, Achilles, läuft ein Wettrennen gegen das langsamste Tier, die Schildkröte. Die Schildkröte ist hundertmal langsamer, daher bekommt sie einen Vorsprung. Achilles gelangt an den Punkt, von dem die Schildkröte gestartet war, diese aber hat sich inzwischen um ein Hundertstel der ursprünglichen Entfernung weiterbewegt, und so weiter bis ins Unendliche, das heißt also, Achilles wird die Schildkröte niemals einholen. Aristoteles argumentierte gegen dieses Paradox mit der Überlegung, die Summe der unendlichen Reihe der Entfernung und Zeit könne endlich sein, wenn sich ihre Einheiten ausreichend schnell verkleinerten. Das ist natürlich ein Unsinn, den leider alle, die nach Aristoteles kamen, wiederkauen. Die unendliche Reihe – auch wenn sie eine Endsumme besitzt – hat keinen letzten Schritt, kann also niemals zur Gänze verlaufen. Die richtige Lösung von Zenons Paradox steckt darin, dass sich weder Zeit noch Raum verbinden lassen, sondern sich aus zwar geringfügigen, aber nicht mehr teilbaren Abschnitten oder Quanten zusammensetzen. Das kleinste Quantum des Raumes ist die sogenannte Planck-Einheit, ungefähr 16 Sextillionen Meter, und das kleinste Quantum der Zeit, die Planck-Zeit, in etwa 54 Septiliarden Sekunden. Die beiden Wettstreiter bewegen sich also nicht gleichmäßig, sondern durch eine Reihe von Sprüngen von der Größe einer Planck-Einheit. Sobald Achilles in das gleiche Längenquantum wie die Schildkröte gelangt, schiebt er sich einfach früher als sie vor und überholt sie somit.

Eine faszinierende Überlegung, aber die hilft mir nicht, den Brandstifter zu finden, also ließ ich das Datum dort, wo es war, und kehrte wieder zum Fall zurück.

Aus den Aufzeichnungen über den Brand konnte man nichts Vernünftiges herauslesen. Der Wärter machte sich genau jede halbe Stunde zum Rundgang auf. Viermal passierte nichts Besonderes. Das fünfte Mal betrat er die Fläche mitten im Kreis der schlafenden Tiere. Er hob die Hand, blickte auf die Uhr und in dem Augenblick versengte die Glut das gesamte Bild. Die Glut blendete die Augen so stark, auch wenn sie nicht wirklich echt war, sondern vom Bildschirm kam. Hier endete der Film, denn unmittelbar danach schmolz die Kamera in der Glut dahin.

Ich sagte dem Chef, ich müsste los, die Tierpfleger verhören, und brach auf. Zum Glück fand ich beide gleichzeitig im Restaurant Zum Durstigen Strich vor, im Garten der im Neorenaissance-Stil erbauten Villa Václavka in Smíchov, wo sie den Kummer über den Verlust ihrer Schützlinge in Alkohol ertränkten.

Ich setzte mich dazu, um zu erfahren, dass die Nashorn-Weibchen Ballerina, Prinzessin, Primadonna, Stupsnäschen, Mona-Lisa, Rotkäppchen, Zick-Zackelinchen, Goldmariechen, Tripp-Trappeline, Calamity Jane, Dicke Berta und Fresserlinchen hießen. Dass die Ballerina beim täglichen Hornabfeilen ungezogen tanzte, Fresserlinchen nur stillhielt, wenn sie vorab ein Leckerli bekommen hat, währenddessen Tripp-Trappeline sich in die grobe Feile ausgesprochen verliebte und nicht genug vom Feilen bekommen konnte. Und noch viele andere Nashorn-Geschichten.

Sie erzählten mir auch, die Nashörner wären einst aus dunklen Einhörnern entstanden, die sich auf die Seite des Bösen schlugen und die Jungfrauen mit ihrem Horn vergewaltigten, anstatt auf ihrem Schoß einzuschlafen, und zur Strafe wurden sie dick und grob, so wie sie heute eben aussehen.

Ich musste die Pfleger von der Liste der Verdächtigen streichen. Die beiden würden keiner Fliege etwas zuleide tun. Geschweige denn einem Nashorn. Zudem hatten sie für die ganze Nacht ein astreines Alibi: der erste war mit seiner Gattin auf einem Gruppensex-Treffen, der andere sang Liturgien im Chor des Hl. Kastulus.

Der Abend brach herein und ich hatte mehr als genug gearbeitet und machte mich auf, die Lokale durchzustreifen, die für gewöhnlich von gelangweilten Damen aufgesucht wurde. Fortuna erwies sich mir erst im Kaffeehaus „Bei den Realisten“ hold, das sich im Erdgeschoss des Hussitenchors in Dejvice versteckte. In der Fassade des monumentalen Tempels vermischten sich wohl alle architektonischen Pseudostile – vom neoromanischen über den neogotischen, dem der Neorenaissance bis zum Neobarock, im wundersamen Reigen der Bögen und Linien.

Sie saß allein am Tisch, trank Rotwein, ihre Haare waren schwarz und kurzgeschnitten, sie las Goethes Schrift über die Karlsbader Zwillinge und war auf ihre Art sehr hübsch.

„Guten Abend. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Sie blickte sich um, erst waagrecht im Raum, dann musterte sie mich von oben nach unten.

„Bitte sehr.“ Sie deutete mit der Hand auf den Stuhl gegenüber und vertiefte sich wieder in ihre Lektüre.

Ich ließ sie eine Weile schmoren. Ich wusste, sie würde es nicht lange aushalten und mich ansehen. So geschah es.

„Ich will Sie nicht stören, aber dem Buch nach schließe ich, dass Sie sich entweder für Goethe interessieren oder für Kristallographie“, sagte ich, sobald sich unsere Blicke trafen.

„Für beides, so gewissermaßen“, sagte sie lächelnd. „Sie kennen sich aus?“

„Nicht nur das. Zufälligerweise bewahre ich einen echten Karlsbader Zwilling in meiner Sammlung auf. Wollen Sie ihn sehen? Mein Auto steht um die Ecke.“

„Aber ich fahre grundsätzlich nicht mit Männern mit, die ich nicht kenne.“

„Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Libor Lavabo, ich bin Unternehmer in der Baggerindustrie.“

„Marcela Micelová, Theologiestudentin.“

„So, und nun kennen wir uns. Können wir dann? Herr Ober, bitte zahlen.“

Auf dem Weg redeten wir über Goethe. Sobald sich das Auto auf den Petřín-Kamm hinaufgeschlängelt hat, öffnete sich ein Ausblick auf die Kathedrale und auf die Klosterziegel der Dächer der Kleinseite. Das nächtliche Prag posierte unter uns hell erleuchtet wie ein Model beim Fotografen. Ich blieb stehen und drehte den Motor ab.

„Oh, was ist denn das?“, wunderte sich Marcela beim Anblick meines Zuhauses, das sich im dichten Buschwerk bei der Hungermauer in der Nähe des Strahov-Klosters verbarg. „Das sieht ja total wie eine Burg aus. Und es hat sogar eine gezackte Mauer oben rundherum.“

„Du meinst die Zinnen. Ja, das hat es.“ Es ermüdete mich, es immer wieder aufs Neue zu erklären, aber ich überwand mich.

„Das, was du siehst, war die erste elektrische Trafostation in Prag, dem Heiligen Elias geweiht. Sie wurde an dieser Stelle errichtet, damit Wechselstrom in das Strahov-Kloster gelangen konnte. Die Geräte im Inneren hatte der berühmte Erfinder Emil Kolben hergestellt. Die neogotische Architektur im Stil von Peter Parler ist das letzte Werk des vorletzten Baumeisters der St.-Veit-Kathedrale, Josef Mocker. Die Trafostation hatte er im Herbst 1898 vollendet, nur wenige Wochen vor seinem Tod. Ganze Jahrhunderte lang vereinte sie Technologie und Theologie, dann aber wurde sie geschlossen und verfiel zusehends. Ich habe sie zufällig entdeckt, dem Magistrat abgekauft, den Transformator herausmontiert und den Turm bewohnbar gemacht. Er ist nicht besonders breit oder lang, dafür hat er drei Geschosse über der Erde und eins unter der Erde. Und statt Decken echte, aus Stein gehauene Netzgewölbe.“

Ich öffnete eine Flasche aus dem Regal mit der Aufschrift „Frauenweine“ und holte aus dem Mineralienschrank vorsichtig den Karlsbader Zwilling heraus. Das heißt also zwei tafelig verwachsene, graubraune Kaliumfeldspatkristalle, die gleich aussahen und in einander versunken waren, ganz wie ein Liebespaar bei der Neunundsechzig-Position. Es dauerte einige Minuten und die erotische Aura des Steins übertrug sich auf uns beide.


Kapitel 4

Gut, wenn Sie wollen, so gehe ich, aber es ist thöricht, jetzt auf den Laurenziberg zu gehn, denn das Wetter ist noch kühl und da ein wenig Schnee gefallen ist, sind die Wege wie Schlittschuhbahnen.

(Franz Kafka — Beschreibung eines Kampfes)

 

Mit vereinten Kräften erklommen wir den Gipfel und entrollten dort die Fahne. Die Vögel in den Baumkronen erwachten von unserem Geschrei aus ihrem Schlaf. Es war die reinste Freude. Doch als es am schönsten war, fing Marcela an, Probleme zu machen.

„Nicht schauen – hauen!“, flüsterte sie mir heiß ins Ohr.

„Wie bitte?“ Ich traute meinen Ohren nicht.

„Ich will, dass du mich quälst, folterst, bestrafst, dass du grausam zu mir bist, mir Schmerz und Qual bereitest.“

Ich dachte einen Augenblick nach und dann entfachte ich sozusagen ein kleines Feuer auf ihrem Arm, indem ich mit den Händen ihre Haut in die entgegengesetzte Richtung drehte. Sie haute mir eine runter.

„Nicht so. Das macht man im Kindergarten, du Knallkopf. Hast du vielleicht eine Folterbank? Eine Eiserne Jungfrau? Oder wenigstens eine neunschwänzige Katze?“

„Eine Katze hab ich nur als Nierengurt, wenn du frieren solltest…“

Die Ironie war fehl am Platz.

„Und was ist mit Strom? Damit lässt sich auch quälen. Hast du nicht noch irgendwo was Elektrisches da, was vom Stromhaus übriggeblieben ist?“

„Ich hab noch ein Gerät. Komm mal mit, in die Dunkelheit.“

Wir sind in den Keller hinunter. Beim Umbau der Trafostation war zufällig eine Tür zum Vorschein gekommen, die eine hintere Schrankwand verdeckte. Darin befand sich ein Haufen Ersatzblitzableiter und auch eiförmige Isolatoren aus Porzellan mit zwei Rillen für Stahlseile, mit denen einst die Säulen der Elektroleitungen abgespannt wurden. Der Schrank führte in eine Zelle, in eine geheime Kapelle der Elektrizität, die jemand hier erbaut hatte, wer und wann ist nicht bekannt, vielleicht war es Baumeister Mocker höchstpersönlich gewesen.

Zwei gläserne Rohre nahmen fast den ganzen Raum ein. Das erste verlief waagrecht von Wand zu Wand, das andere senkrecht vom Boden zur Decke, und beide trafen sich genau in der Mitte. Vor dem Kreuz stand ein Siebenarmiger Leuchter, daneben ein Betstuhl aus Stein und an der Wand zwei Schalthebel aus Messing. Das war’s. Wir zogen Gummihandschuhe und Stiefel an. Ich schaltete beide Schalter an und der Stein begann unter tiefen Summen zu vibrieren. Die Dunkelheit wurde von zwei langen, sich kreuzenden Funken in den Röhren durchbrochen. Im Leuchter flackerten sieben Lampen auf. Wir knieten uns hin. Ich spürte, wie mir die Haare mitsamt allen Körperhaaren zu Berge standen. Marcelas erhobener Haarschopf rahmte ihren Kopf ein wie ein schwarzer Heiligenschein. Das Gummi quietschte, als wir uns unwillkürlich die Hände reichten.

„Jetzt weiß ich, woran mich das erinnert – an die Offenbarung Johannes: Der Thron Gottes, von dem Blitze, Stimmen und Donner ausgehen. Und sieben lodernde Fackeln brannten vor dem Thron; das sind die sieben Geister Gottes“, zitierte Marcela. „Oder die Prophezeiung Hesekiels: Das Feuer kam unter die Menschen und leuchtete hell, denn aus dem Feuer kamen Blitze.“

„Elektristus sei mit uns“, sagte ich laut, um das laute Sprühen der Funken zu übertönen. „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in Seinem Namen, da ist Er mitten unter ihnen.“

In der Schaltanlage im Schrank brannte die erste Sicherung durch, gleich danach folgte die zweite und dritte. Die in den Röhren gefangenen Blitze und die Lichterkette erloschen, die elekchristliche Kapelle tauchte zurück in Dunkelheit und Stille, in den Duft vom frischen Weihrauch-Ozon.

„Komm zurück ins Bett“, befahl Marcela schon wieder.

„Hier ist zu viel Spannung für meinen Geschmack. Hast du nicht etwas Profaneres?“

„Ich leih dir ohne weiteres zwei Drähte, die du gerne in die Steckdose stecken kannst.“

Marcela seufzte angesichts meiner Verständnislosigkeit und zog dann eine zugeschmolzene Ampulle aus der Handtasche. Darin befand sich eine kleine rote Chili-Schote. Mit einer Nagelfeile säbelte sie an der Glasspitze, die sie anschließend abbrach. Sie legte sich die Chili auf die Zunge.

„Koch mich!“, befahl sie mit einem Knoten in der Zunge.

„Kochen? Jetzt? Und damit würzen wir?“, sagte ich ratlos und deutete auf ihr Gesicht.

„Hein! Hich kochen, küchen!“, regte sie sich auf.

Endlich hatte ich’s.

„Ich soll dich küssen?“

Eifrig nickte sie, woraufhin wir anfingen, uns zu küssen. Sie zerbiss die Chili und drückte sie mit ihrer Zunge auf meine. Auf unseren Gaumen explodierte ein kleiner Vulkan. Auf irgendeine perverse Art gefiel mir die quälende Wirkung des Capsaisin, und so verteilten wir mit Marcela das Chilifeuer über die Schleimhäute mit diversen Techniken nach und nach über den ganzen Körper.

Das Brennen ließ zusammen mit der Leidenschaft nach. Oder war es umgekehrt? Auf jeden Fall war alles vorbei und wir lagen nur noch müde und geröteter Haut nebeneinander.

„Magma Mia“, sagte Marcela, als sie endlich zu Atem kam. „Die feurigste aller Chilies weltweit. Wurde wissenschaftlich mit über fünf Millionen Scoville-Einheiten gemessen. Zum Vergleich: das Pfefferspray gegen Perverslinge hat nur viereinhalb Millionen Einheiten.“

„Ich ruf dir ein Taxi, okay?“

Als es mir endlich gelungen ist, die Sadomasochistin aus dem Turm zu schaffen, fing die Nacht im Osten bereits an, zu verblassen. Ich schlief ein Stündchen und dann musste ich schon los, zur Arbeit.

Auf meinem Schreibtisch beim Klo lag schon der Bericht des Einsatzleiters der Feuerwehr. In einer leuchtend roten Mappe. Komisch, dass er die Farbe des Feuers genommen hat, das Zeichen seines Feindes. Aber eigentlich ist es gar nicht verwunderlich. Genauso verfuhr Edward, bekannt als Der Schwarze Prinz, als er aus der Schlacht von Crécy die wertvollste Beute mit nach England genommen hatte, ein Helmkleinod in Form von drei Straußenfedern mit dem Wahlspruch Ich Dien, welches seinem gefallenen Feind gehörte, dem blinden König Johann von Böhmen. Die Princes of Wales rühmen sich heute noch mit dieser heraldischen Trophäe. Oder die britischen Grenadier Guards, die ihr Symbol, die Hohen Mützen aus Bärenfell, den auskühlenden Köpfen der Garde Napoleons nach der Schlacht von Waterloo von den Köpfen gerissen hatten.

Die Nachricht enthielt nichts, was ich nicht schon gewusst hätte.

Das Feuer brach gestern im Gehege aus, an zwölf voneinander isolierten Brandstätten gleichzeitig, fünf Minuten nach Mitternacht. Obwohl die Rauchsensoren sofort die automatischen Sprinkleranlagen an der Decke in Betrieb setzten, gelang es erst um zwei Uhr früh der Feuerwehr dank dem Einsatz von drei Strahlrohren das Feuer zu löschen. Trotz der absoluten Windstille war das Feuer außerordentlich intensiv. Die Feuerstellen im Inneren waren symmetrisch genau im Kreis angeordnet, eine Spur, die zu einem bekannten Brennstoff geführt hätte, war vor Ort allerdings nicht so finden. Mit freundlichen Grüßen, Einsatzleiter der Feuerwehr, Kommandant Loskot.

Ich wählte die Telefonnummer im Briefkopf und hatte Glück, Kommandant Loskot persönlich hob ab.

„Hier Inspektor Lavabo, Kriminalkommissariat. Herr Kommandant, ich rufe an wegen dem gestrigen Einsatz auf der Kaiserinsel. Ich habe ihren Bericht gelesen und möchte gerne wissen: die zwölf Brandstätten, befanden sie sich an der gleichen Stelle, wo sie die Asche der zwölf verbrannten Nashörner gefunden haben?“

„Natürlich. Stand es denn nicht im Bericht?“, wunderte sich der Kommandant.

„Nein, stand es nicht.“

„Na da sehen Sie mal. Ich bin schon ganz ausgebrannt von den ganzen Einsätzen. Noch Fragen?“

„Danke, das wäre alles. Ende.“

„Keine Ursache. Ende.“

Ich legte auf und blickte auf die Uhr. Die Uhr am Turm der Kirche des Heiligen Bartholomäus über der Straße schlug dreiviertel zwölf.

Ich ging zur Tür vom Chef und klopfte entschieden, genau auf Höhe seines Kopfes, der sich hinter dem Milchglas abzeichnete. Unmittelbar danach hörte man von Innen einen Schmerzensschrei. Ich schüttelte die Klinke. Abgeschlossen.

Der nächste verzweifelte Schrei.

Ich trat die Tür ein.

Der Chef saß hinter dem Schreibtisch auf der Seite gelehnt, Blut schoss ihm aus dem Ohr und er versuchte, etwas herauszuziehen. Doch dieses Etwas rutschte ihm immer wieder von den blutigen Fingerspitzen.

„Steh nicht so blöd rum hier und hilf mir lieber!“, blaffte er mich an, als er mich sah.

„Was ist denn passiert?“

„Ach nichts, ich hab nur mit einer Nadel im Ohr herumgestochert, als jemand gegen die Tür gehämmert hat. Ich hab mich erschrocken und sie mir ganz reingerammt. Was für ein Schmerz, verdammte Scheiße!“

Ich versuchte die Nadel zwischen Daumen und Zeigefinger aus dem Gehörgang zu ziehen, aber sie steckte zu tief.

„Wo willst du hin?“ regte sich der Chef auf.

„Hilfe holen.“

Unter den Füßen knirschten die weißen Scherben der Scheibe.

Das Notfallschränkchen an der Wand der Wache war geplündert, bis auf eine Flasche verdorbenen Desinfektionsmittels und einen porösen Venenstauer aus Gummi.

„Der Chef hat was im Kopf. Hat jemand eine Pinzette?“, rief ich, aber keiner der Kollegen hob den Blick von der Arbeit. Es erbarmte sich nur noch die Majorin Marhanová, deren Aufgabe weitgehend darin bestand, bei den Verhören Kaffee zu kochen. Sie kramte in ihrer Handtasche und reichte mir dann eine Nagelschere. Ich versuchte, das Ende der Nadel damit zu fassen, doch es entglitt mir immer wieder und aus dem Ohr drang immer mehr Blut. Ich legte die Schere beiseite, entnahm dem Hemdsknopf ein wenig Faden, ließ ihn durch das Nadelöhr gleiten und zog ein unbedeutsames Stück Stahl aus dem Ohr. Ich wollte es in den Papierkorb werfen, aber der Chef entriss mir dieses Stück blutigen Stahls und warf es in die Schreibtischschublade.

„Noch das zweite Ohr“, murmelte er.

Draußen schlug die Uhr zwölf und ich betete im Geiste das Angelusgebet.

Ich wusch mir das Blut meines Vorgesetzten von den Händen und eilte zum Mittagessen in den Königlichen Wildpark, damit meine Reservierung im Restaurant Mount Feverest nicht verfiel.

Aus dem Tschechischen von Hana Hadas