Vojtěch Matocha

Das Staubviertel

2018 | Paseka

Auszug

Schnell und wortlos schlichen sie durch das nächtliche Staubviertel. Sie konnten es kaum erwarten, wieder in Opas warmer Küche zu sitzen. Es musste schon nach Mitternacht sein, überlegte Jirka. Dabei war er kein bisschen müde, im Gegenteil. Er fühlte sich wachsamer und aufmerksamer als je zuvor, als hätte der Aufenthalt im Staubviertel seine Sinne geschärft. Er hörte jedes Rascheln, bemerkte jeden Lichtreflex auf einer Fensterscheibe, roch deutlich den Geruch feuchter Steine und verfaulter Blätter. Was wird Opa machen, wenn sie ihm die seltsamen Glühbirnen überreichen? Wird er damit die Ausdehnung von dem Staubviertel irgendwie aufhalten können?

„Ich habe Durst“, meldete sich En. Sie blieben vor einem prunkvollen Gebäude stehen. Neben dem Eingang standen rechts und links stumme Frauenfiguren in wallenden Gewändern. Sie stützten einen breiten Balkon im ersten Stock. Jirka gab En die mit Wassser gefüllte Feldflasche und während sie trank holte er eine der Glühbirnen aus dem Beutel und sah sie sich genau an. Zwischen den Wolken blitzte der Mond hervor und tauchte das Staubviertel in blasses Licht.

Auf einmal atmete En scharf ein und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.

„Hinter dir“, murmelte sie und sprang auf.

Jirka sah sich um. Sein Herzschlag beschleunigte. Als sie umhergelaufen waren, war die im rechten Winkel abzweigende Gasse genauso finster gewesen wie alle anderen. Jetzt, wo der Mond hervorgekommen war, fiel aus ihr ein langgezogener Schatten auf die Hauptstraße. Der Umriss eines erwachsenen Mannes. En zögerte keine Sekunde: „Lauf!“

Sie schnappte sich die Papiertüte, in der noch zwei grüne Glühbirnen waren, und schoss die Straße hinauf.

„Verflucht! Hinterher, los!“, schrie eine vertraute, blecherne Stimme. Mein Gott. Aus der Gasse kam ein dunkler Schatten. Jirka nahm den Rucksack und rannte En hinterher. Er konnte sie gerade noch vor sich erkennen. Hinter ihnen Lärm, Trampeln, Keuchen. Sie rannten so schnell, wie es auf dem rutschigen Pflaster nur ging. Ohne sich umzudrehen. Waren beide hinter ihnen her? Wahrscheinlich. Verdammt. Kraus rief irgendetwas. Was, wenn er eine Waffe hatte? Rennen, rennen, immer geradeaus … Atmen. Wohin ist En verschwunden? Da ist sie, da vorn, er holt sie ein. Was ist damit? Jirka hielt noch immer eine der grünen Glühbirnen in der Hand.

Das Trampeln hinter ihm kam näher und näher. Schneller und schneller. Das wird nichts. Sie kriegen mich, dachte Jirka eine Zehntelsekunde, bevor kräftige Finger nach seiner Schulter griffen und ihn zu Boden rissen. Ein stechender Schmerz im Knie, ein Schlag gegen das Kinn, das raue Pflaster im Gesicht, Blut. Zerberstendes Glas. Beim Sturz war ihm die Glühbirne aus der Hand geflogen. Er öffnete die Augen. Direkt vor seinem Gesicht sah er ein Knie in dunklen Jeans. Kraus‘ Komplize kniete in der grünlichen Pfütze, die die Glühbirne hinterlassen hatte.

„Bleib liegen, dann passiert dir nichts“, brüllte der Kerl.

Jirka hörte nicht auf ihn. Er stemmte sich mit den Händen hoch, rollte sich auf den Bauch, trat zwei Mal blind hinter sich. Treffer. Für eine Sekunde lockerte sich der Griff und er sprang mit einem Ruck auf. Er wollte losrennen, aber der Kerl griff nach seiner Kapuze und hielt ihn fest. Jirka riss sich los, die Kapuze riss ab und blieb in der Hand des Angreifers zurück. Er rannte. Ein irrer Schmerz im Knie. Nicht nachdenken. Nichts wahrnehmen. Der Rucksack ist weg, dachte er. Wo ist En?

Die Straße führte links hinunter, in paar Stufen, ein kleiner Platz, dahinter eine dunkle Rinne, in der Wasser brauste, mit einer niedrigen Brücke, in der Mitte eine Gaslaterne. Sein Knie schien bersten zu wollen. Er sah über die Schulter, der Kerl war ihm auf den Fersen. Auf der Brücke stand jemand. En und Kraus. Vier Meter voneinander entfernt, standen sie einander gegenüber. Zwischen den Fingern ihrer linken Hand schimmerten die zwei letzten Glühbirnen. Sie zitterte, lief aber nicht weg. Sie kann nicht mehr, dachte Jirka. Er musste ihr helfen. Er musste zu ihr. Dieses verfluchte Knie! Kraus trat auf die Brücke, En blieb stehen. Er darf sie nicht erwischen.

„Hau ab!“, rief Jirka ihr zu, aber sie rührte sich nicht.

Sie stand da wie eine Statue, zu Tode erschrocken. Dann fing sie an mit der freien Hand etwas in ihren Taschen zu suchen, aber es war schon zu spät, Kraus war zu nah. Im letzten Moment gelang ihr jedoch etwas Unerwartetes. Als Kraus sich auf ihre Hand mit den Glühbirnen stürzte, trat sie einen Schritt zurück und warf sie weg. Sie beschrieben einen Bogen in der Luft und leuchteten kurz auf. Jirka sah, wie Kraus sich nach ihnen umdrehte, bevor sie mit einem Platschen auf die Wasseroberfläche trafen und der trübe Strom sie mitriss. Nein, jetzt ist es aus, schoss es Jirka durch den Kopf. Jetzt werden wir sie nie schaffen, sie zu Opa zu bringen. Kraus hielt En an der Schulter fest und brüllte sie wütend an. Sie schloss verängstigt die Augen.

Endlich erreichte Jirka die Brücke. Zwei schnelle Schritte. Mit aller Kraft rannte er in Kraus hinein. Der ließ En los, taumelte, stütze sich auf das wackelige Eisengeländer. Es hielt sein Gewicht nicht aus, zerbarst und Kraus fiel ins Wasser.

„Lauf!“, rief Jirka En zu, griff nach ihrer Hand und zog sie weg. Bis Kraus sich wieder aufgerappelt hatte und aus der Rinne geklettert war, blieben ihnen höchstens fünfzehn Sekunden. Wo war der andere hin? Jirka sah sich um. Der Kerl näherte sich langsam, rannte nicht, humpelte. Er kam gerade erst die Stufen hinunter auf den Platz. Das war ihre Chance, sie mussten wegrennen. Jetzt.

Sie rannten weiter die Straße entlang, Hand in Hand. En atmete schwer. Die Feldflasche hielt sie noch immer in der Hand, in der Aufregung hatte sie sie wohl vergessen.

„Hilfe!“, brüllte Jirka, so laut er konnte. „Hilfe!“

Sie hatten nichts zu verlieren, vielleicht würde durch irgendein Wunder ein Freund vor ihnen auftauchen. Vielleicht würden ihnen Kraus und sein Kumpan vor Zeugen nichts tun. Doch das ganze Staubviertel lag noch immer totenstill da, nichts regte sich, kein Laut war zu hören. Eine Weggabelung. Nach links oder rechts? Links. Eine schmale, verwinkelte Gasse. In der Ferne eine Kirche. Der Turm von Sankt Florian? Sie liefen in die falsche Richtung. So schaffen sie’s nie zu Opa! Mist.

„Ich kann nicht mehr“, flüsterte En und drückte seine Hand.

„Nur noch ein Stück. Du schaffst das“, spornte Jirka sie an.

Wenn ich wollte, würde ich ihnen entkommen, dachte Jirka. Aber En schafft es nicht. In der Straße hinter ihnen tauchte Kraus auf, er schnaufte wütend und stürmte auf sie zu, in seinen Schuhen schmatzte das Wasser. Sein kräftiger Kumpan schien sich wieder erholt zu haben und rannte direkt hinter Kraus. Sie hätten in einem der Häuser verschwinden sollen, solang sie außer Sichtweite gewesen waren, fiel Jirka ein. Aber jetzt war es zu spät. Die Häuser wären eine Falle. Sie mussten weiter zur Kirche.

„Hilfe!“, rief er noch einmal.

Eine junge, dunkelhaarige Frau in einem leuchtendgelben, eleganten Mantel und einer Brille mit eckigem Gestell. Schwer zu sagen, woher sie gekommen war, vermutlich aus irgendeiner kleinen Seitenstraße. Nun stand sie mitten auf der Straße und sah verwirrt den angeschlagenen Jungen mit der blutenden Nase an, der En hinter sich her zog, und dann die beiden grobschlächtigen Kerle, die hinter ihnen herrannten.

Jirka fiel ihr fast vor die Füße: „Bitte helfen Sie uns! Die wollen uns wehtun! Retten Sie uns!“

Die Frau sagte nichts, maß mit ihrem Blick zuerst Jirka, dann Kraus, der etwa fünfzehn Meter entfernt stehen blieb und auf seinen langsameren Komplizen wartete.

„Diese Leute verfolgen euch?“, fragte sie verständnislos. Jirka bejahte. Die Dunkelhaarige drehte sich zu Kraus um: „Können Sie mir sagen, was hier los ist?“

Kraus atmete tief aus und deutete an, dass er gleich antworten würde, der zweite Kerl hatte ihn inzwischen eingeholt und blieb neben ihm stehen.

Die Frau trat zwischen Jirka und En und legte ihnen schützend die Hände auf die Schultern: „Keine Sorge, ich spreche mit den Herren.“

Kraus trat zwei Schritte vor. En zuckte zurück, aber die Frau hielt sie fest. „Keine Angst, das lässt sich bestimmt klären. Das ist sicher nur ein Missverständnis. Was wollen Sie von den Kindern?“, rief sie Kraus zu. Sie lächelte Jirka ermutigend an.

„Tja“, sagte Kraus mit rasselnder Stimme. „Sie haben etwas, das uns gehört.“

„Und was soll das sein?“, fragte die junge Frau und sah Kraus lange in die Augen.

Irgendwas stimmt hier nicht, meldete sich ein leise Stimme in Jirkas Kopf. Bevor er irgendwas unternehmen konnte, machte die Frau auf dem Absatz kehrt, griff mit einer schnellen Bewegung Ens Handgelenk, drückte ihr mit der anderen Hand gegen die Schulter und drehte ihr den Arm auf den Rücken, sodass En plötzlich wie ein Schild zwischen Jirka und der unbekannten Frau stand. Jirka war völlig perplex.

„Hau ab, du Held“, flüsterte die Dunkelhaarige und ihr Gesicht verzog sich zu einer amüsierten Grimasse.

„Jirka, lauf!“, kreischte die sich windende En.

Ich kann doch En nicht einfach hierlassen, ging es Jirka durch den Kopf. Bis dieser Gedanke verhallt war, verging eine kostbare Sekunde. Plötzlich stand Kraus direkt neben ihm, legte ihm die Linke von hinten um den Hals und griff mit der Rechten grob seinen Unterarm. Jirka wehrte sich, zerrte und trat um sich, doch bald ging ihm die Kraft aus. Körperlich ware er Kraus und seinem Kumpan unterlegen. Jetzt ist es vorbei.

Inzwischen hatte sich der zweite Kerl En gegriffen. Die dunkelhaarige Frau trat beiseite und strich mit dem Handrücken mehrmals über ihren Mantel, als wolle sie unsichtbaren Staub abstreifen. Sie schob sich die Haare aus der Strin. Das Lächeln war verschwunden, stattdessen wirkte sie kühl und professionell.

„Eine total vermasselte Aktion“, bemerkte sie spöttisch in Kraus‘ Richtung.

„Sei so gut und halt die Klappe, Monika“, erwiderte Kraus. „Es gab ein paar Komplikationen. Jetzt ist alles in trockenen Tüchern.“

„In trockenen Tüchern, ja?“, wiederholte Monika in ironischem Ton und betrachtete seine durchnässte Kleidung. „Du bist also in trockenen Tüchern, Navrátil hat sich den Knöchel verstaucht und ich musste euch aus der Klemme helfen. Dass ich euch vor dem Chef in Schutz nehme, kannst du vergessen. Ihr habt’s versaut.“

Navrátil, der Zweite, murmelte nur: „Krieg dich wieder ein, ja … Wir haben die Kinder, also was soll’s?“

Sie führten sie etwa zehn Minuten durch das Staubviertel, bogen ein paar Mal ab, bis Jirka völlig den Überblick darüber verloren hatte, wo sie sich befanden. Monika ging mit den Händen in den Manteltaschen voran, danach Kraus mit Jirka und hinter ihnen Navrátil mit En.

Als Jirka sich umdrehen wollte, um zu sehen, ob es En gutgeht, stieß ihm Kraus den Ellbogen unter die Rippen und schob ihn vorwärts: „Weiter!“

Es wurde kühler. Über das Staubviertel tauchten die ersten Sterne auf und Kälte strömte in die verwinkelten Gassen. Ein riesiger Vollmond hing über den spitzen Dächern und spiegelte sich in den Pfützen. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Hinter einem Fenster flackerte eine Kerze.

„Hilfe …“, stöhnte Jirka. Gleich darauf spürte er einen Stoß und Kraus drückte ihm grob die Hand auf den Mund. Schmerz durchzuckte seinen linken Arm, der immer noch auf den Rücken gedreht war.

„Versuch das noch mal und ich brech dir die Knochen“, drohte Kraus.

Vor einem großen Mietshaus mit vernagelten Fenstern blieben sie stehen. Monika klopfte an die Tür. Eine halbe Minute verging, bis hinter der Tür jemand leise fragte: „Wer ist da?“

„Wir sind‘s, Tom“, antwortete Monika und die Tür öffnete sich erst einen Spalt und dann ganz. Dahinter verbarg sich ein hochgeschossener, magerer Junge mit zerzausten schwarzen Haaren und Sommersprossen im Gesicht, vielleicht sechzehn, allerhöchstens. Als Jirka und En an ihm vorbeigeführt wurden, sah er sie neugierig an. Dann knallte er die Tür hinter ihnen zu und schloss ab.

Durch das schlecht beleuchtete Treppenhaus gelangten sie in den zweiten Stock und gingen in eine der Wohnungen. Wenn sich Jirka nicht täuschte, hatte sie nicht mehr als vier Zimmer. Sie durchquerten den Flur und standen in einem großen Zimmer, von dem zwei Türen abgingen – eine nach links, eine nach rechts. In dem Zimmer gab es, abgesehen von ein paar Stühlen, keine weiteren Möbel, Teppiche fehlten ganz. Auf dem nackten Boden unter dem Fenster lagen Rucksäcke und einige Sachen: Kleidung, Trinkflaschen, zusammengerollte Isomatten, Schlafsäcke, Plastikbeutel mit Essen, ein Kartenspiel. Das Zimmer wurde von zwei Spirituslampen und einem kleinen Ofen in der Ecke erhellt, durch dessen Klappen ab und zu Flammen aufblitzten. Auf einem Metallrost ein Stück entfernt lagen Scheite, eine Axt, ein Paket Kaminanzünder und eine Streichholzschachtel.

Kraus führte sie in ein Hinterzimmer ohne Fenster, in dem ein Tisch und drei wackelige Stühle standen. An der Wand lag eine Matratze mit einer Decke darauf.

„Hier werdet ihr eine Weile bleiben. Versucht bloß nicht, irgendwelche Dummheiten zu machen“, eröffnete er ihnen. Sein Blick glitt flüchtig über die nackten Wände, dann macht er kehrt und schloss die Tür hinter sich. Das Schloss klickte. Der Raum war stockfinster.

Jirka flüsterte: „Alles in Ordnung?“

„Ja“, vermeldete En. „Was jetzt?“

Jirka antwortet nicht. Niemand wusste, wo sie waren, dachte er verbittert. Und niemand würde sie hier suchen.

 

Aus dem Tschechischen von Katharina Hinderer