Michaela Klevisová

Sie verschwand im Nebel

2017 | MOTTO

Prolog
Vor zwölf Monaten

 

Schon lange hatte sie das Gefühl, dass es sich lohnen würde unsichtbar zu sein. Geheim zu halten, wen sie kannte und was sie tat. Ein altes Tastenhandy ohne Internet und mit anonymer Prepaid-Karte zu haben, damit diese Nummer nicht ohne weiteres ihr zugeordnet werden konnte. Soziale Netzwerke zu ignorieren, damit niemand leicht an ihre Kontaktdaten kommen konnte. In einem Interview mit einem Kriminalisten hatte sie einmal gelesen, dass die sozialen Netzwerke der Polizei die Arbeit bei ihren Ermittlungen enorm erleichterten. Die Leute veröffentlichten heute im Internet völlig sorglos ihr ganzes Leben. Ann-Solveig hatte sich dieses Interview herausgerissen und verwahrte es in der Schublade. Mit dem beseelten Gefühl, dass sie anders war.

Ihr schien, dass sie in ihrer Generation wohl die einzige war, die sorgfältig ihre Privatsphäre hütete. Ihre Freunde und auch ihr Partner zeigten ihr einen Vogel. Sie hatte doch gar keinen Grund zur Annahme, dass sie für die Polizei von Interesse sein könnte oder dass ihr sonst jemand an den Kragen wollte – lebte sie doch ein einfaches, ruhiges, vorhersagbares Leben. Damit hatten sie recht. Ann-Solveig lebte mit ihrem Mann bereits drei Jahre in einem der hässlichen staatlichen Reihenhäuser direkt hinter der Krabbenfabrik, im zweitausend Seelen zählenden Hafenstädtchen Batsfjord auf einer der nördlichsten Halbinseln Norwegens. Den Sommer verbrachten sie in ihrem Ferienhaus im zwanzig Kilometer entfernten Ort Syltefjord. Alex erzählte ihr, wie er mit seinen Eltern in diesem gottverlassenen Winkel gelebt hatte, bevor die Bezirksregierung vor knapp dreißig Jahren Schule, Kindergarten, Post schloss, die Buslinie und den Winterdienst auf den Überlandstraßen einstellte. Die Einwohner schrieben Petitionen, protestierten, aber schließlich blieb ihnen doch nichts anderes übrig als die staatlichen Reihenhäuser oder Wohnungen in Batsfjord zu akzeptieren und sich ihre Häuser in Syltefjord als Sommerresidenz zu halten. Dieser Ort existierte eigentlich nicht mehr und entwickelte sich auch nicht weiter. Als ob hier die Zeit stehen geblieben wäre. Ann-Solveig mochte dieses Dorf.

Aber auch Batsfjord gefiel ihr. Hier gab es Restaurants, Geschäfte, alles war gut erreichbar. Bevor Ann-Solveig Mutter wurde, hatte sie als Verkäuferin in einem kleinen Batsfjorder Laden für Biolebensmittel und Wohnaccessoires an der Hauptstraße gearbeitet. Nach der Geburt ihrer Tochter begann sie zuhause Patchwork-Decken zu nähen und sie an die Souvenirgeschäfte auszuliefern – Handarbeit hatte ihr schon immer Freude bereitet, und nun merkte sie auch, dass man damit gutes Geld verdienen konnte. Sie hatte hier ihr Leben und wollte es nicht ändern. Sie genoss das Bewusstsein, dass es, sollte sie aus irgendeinem Grund verschwinden müssen, schwer wäre sie zu finden.

Man konnte schließlich nie wissen, welche Schwierigkeiten einen in der Zukunft erwarteten. Das Schicksal ihrer Mutter war der Beweis dafür.

„Mach mal halblang“, riet ihr Alex, „spiel doch nicht verrückt. Wenn du so weiter machst, wirst du noch plemplem wie deine Mutter, vergiss nicht, was du in den Genen hast. Eines Tages wirst du nicht mehr aus dem Haus gehen, damit dich zum Beispiel keine russischen Seeleute entführen und dich auf ein Schiff verschleppen können. Stell dir das bloß vor“, er senkte die Stimme zu einem unheilvollen Flüstern, „sie fahren mit dir aufs Meer hinaus, amüsieren sich mit dir, und wenn sie genug haben, werfen sie dich einfach über Bord und niemand findet dich mehr.“

Alex hatte eine blühende Fantasie und vor allem Gefallen an finsteren Szenarien. Er versprach Ann-Solveig immer, dass sie dank seines Sinnes für Schauergeschichten noch eines Tages reich würden. Überallhin verschickte er Auszüge aus seinen Romanen und Filmdrehbüchern, bislang erfolglos. Ann-Solveig fand das alles hirnrissig. Er arbeitete als Verkäufer in einem Gebrauchtwarenladen in einem der einsamsten Käffer Nordnorwegens. Guter Gott! Glaubte er ernsthaft, für etwas Besseres bestimmt zu sein? Ehrlich? Behauptete, dass sie sich verhielt wie eine Verrückte. Das musste gerade er sagen!

„Ich bin einfach nur vorsichtig“, verteidigte sie sich „rein theoretisch – wenn dir jemand an den Kragen wollte, wo könntest du dich denn verstecken, wenn nur einige Klicks genügen, dass wer auch immer die komplette Liste deiner Freunde und Bekannten hätte?“

„Rein theoretisch, Ann-Solveig – wir leben zwar in einer Stadt, aber es ist doch wie auf dem Land. Alle deine Bekannten kennen die komplette Liste deiner anderen Bekannten auswendig. Dazu braucht man kein Internet. Und wer sollte dir schon an den Kragen wollen? Die Polizei, wenn du falsch geparkt hast?“

Er lachte sie aus. Warf ihr vor, sie würde zu viele Filme gucken. Aber was sollte sie auch in diesem verlassenen Loch den ganzen Tag tun? Immer schon versetzte sie sich gerne in Filmheldinnen, die vor jemandem auf der Flucht waren und sich verstecken mussten. Ich wäre schlauer, dachte sie oft. Ich könnte das besser.

Natürlich war ihr klar, was die Bekannten von ihr dachten: Sie sei bekloppt, exzentrisch, paranoid. Noch abgefahrener als ihr schräger Schreiberling.

Und sieh an, am Ende würde ihr die ganze Vorsicht doch noch nützen.

 

*

 

Alles veränderte sich vor einem Jahr, als Agnes zur Welt kam. Obwohl – bestimmte Anzeichen hatte Ann-Solveig bereits lange vorher bemerkt, sich aber dazu entschlossen, sie zu übersehen. Sie war ein Einzelkind, ihren Vater kannte sie nicht und ihre Mutter war schon gestorben, und so klammerte sie sich an den einzigen Menschen, der sich so verhielt, als wäre ihm an ihr gelegen – an ihren Mann. Alex war ein Fixpunkt. Sicherheit. Ann-Solveig gehörte nicht zu den Leuten, die ihr Leben leichthin änderten. Es würde sich bestimmt bessern, sagte sie sich immer wieder. Vielleicht bin ich überempfindlich…

Aber es wurde eher schlimmer. Schon ging es nicht mehr um Anzeichen. Alex benahm sich seltsam. War das der Mann, mit dem sie für immer hatte zusammen sein wollen? Wirklich? Was war nur mit ihm geschehen? Ann-Solveig begann sich vor ihm zu fürchten. Zudem fühlte sie sich seit der Geburt nicht gut, und das lag bei weitem nicht nur am Schlafmangel. Immer öfter hatte sie Kopfschmerzen, morgens war ihr übel und ständig hatte sie ein Piepen in den Ohren; das war von allem am schlimmsten, manchmal hätte sie am liebsten ihren Kopf in die Wand gerammt, um diesen widerlichen Ton abzustellen. Zahlreiche Ärzte hatte sie deswegen aufgesucht, bis man ihr schließlich sagte: „Sie haben einen Tinitus. Dagegen kann man nichts tun.“ So viele Stunden hatte sie in Wartezimmern und Praxen zugebracht, nur um die lateinische Bezeichnung für ihr Ohrenpiepen zu erfahren!

Allen Untersuchungen nach war sie gesund. Als sie sich zum wiederholten Mal bei ihrer Hausärztin über schlimme Müdigkeit beschwerte und auf weiteren Untersuchungen bestand, weil sie spürte, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war, setzte die ältere Frau die Brille ab und sah ihr in die Augen: „Sie haben nicht vielleicht eher ein Problem mit Hypochondrie?“

Daraufhin begann Ann-Solveig Katrine, eine alte Bekannte von Alex, aufzusuchen. Die Psychosomatikerin hatte ihre Praxis in der Stadt unweit ihres Reihenhauses, aber auch in ihrem Sommerhaus in Syltefjord empfing sie Patienten. Ann-Solveig besuchte sie sowohl da als auch dort, wie es ihr gerade passte. Und Katrine ließ sie reden und reden, bis Ann-Solveig eines Tages einen Weinanfall bekam, den sie nicht zu stoppen vermochte. Auf dem Heimweg fühlte sie sich erleichtert, reingewaschen.

„Weine ruhig, schrei, fluche, löse das Ventil von diesem Fäkalienwagen“, ermutigte sie Katrine – der Vergleich war treffend.

Und so vertraute sich Ann-Solveig Katrine mehr und mehr an; sie schüttete vor ihr sogar Dinge aus, von denen sie nie gedacht hätte, sie jemals laut auszusprechen.

„Diesen Tinitus hast du von Alex“, eröffnete ihr eines Tages Katrine, „du hast den Kopf voll von ihm, deshalb das Ohrenpiepen. Und die Magenprobleme hast du auch von ihm. Du kannst sein Verhalten nicht verdauen, klar? Verstehst du die Zusammenhänge?“

„Das ist doch Unsinn.“

Katrine seufzte: „Weißt du, was an meiner Arbeit so furchtbar ist? Die Leute sind an vielen ihrer Leiden selbst schuld. Aber wenn ich ihnen sage, dass der Heilungserfolg am größten ist, wenn sie in ihrem Leben etwas Grundlegendes ändern, sich zum Beispiel von einem Menschen trennen, der sie erdrückt, oder von einer Arbeit, die sie fertig macht, dann antworten mir die meisten das gleiche wie du auch: ‚Das kann ich nicht‘.“

„Das ist sehr kompliziert, Katrine. Dann halte ich vielleicht lieber das Ohrenpiepen aus.“

Ann-Solveig bezahlte die Nachbarin und ging nach Hause.

Aber Katrines Worte blieben ihr im Kopf hängen. Einige Tage später überrumpelte Ann-Solveig ihrem Mann damit, dass sie ihn auch ruhig verlassen könne.

Unbeeindruckt antwortete der: „Das könntest du sicher. Und ich könnte dich auch ruhig umbringen.“

An diesem Abend beschloss Ann-Solveig, ihn wirklich zu verlassen. Auch wenn sie mit ihm ein Kind hatte. War es besser, der Tochter den Vater zu nehmen oder tagtäglich diesen Mann fürchten zu müssen?

Schon vorher hatte sie sich Bargeld beiseite gelegt, das würde für drei Monate reichen, bis sie sich irgendwo niederlassen konnte. Sie wartete nur auf eine Gelegenheit. Und jetzt war sie endlich gekommen – Alex fuhr zur Beerdigung seiner Großtante nach Oslo. So weit weg! Sie sagte ihm, dass für sie eine solche weite und strapaziöse Reise mit ihm nicht in Frage komme, sie hätte die Frau ja nicht einmal gekannt. Zu ihrer Überraschung protestierte er nicht. Vielleicht war er sogar froh, sich von ihr und dem Kind etwas erholen zu können. Es war Juni, also würde sie mit der Kleinen im Sommerhaus in Syltefjord bleiben.

Sie hatte fünf Tage, um in Ruhe ihre Sachen zu packen.

Und bekam Angst. Jetzt also? Sollte sie das alles hier aufgeben – diesen Sommersitz, ihr Reihenhaus in der Stadt, beide Orte, die ihr so vertraut waren? Zwei Tage war sie wie paralysiert. Sie packte ihre Sachen nicht, tat nichts, erfüllte bloß weiter ihre täglichen Routineaufgaben. Die Kleine versorgen, mit ihr spielen, rausgehen. Nun, da sie plötzlich etwas ändern konnte, wollte sie es eigentlich nicht mehr. Dieses Leben war bekannt, erprobt, bequemer. Vielleicht hatte Katrine gar nicht recht… Vielleicht würde es sich doch bessern…

Eines Tages erwachte sie im Zimmer mit der Decke aus rissigen Balken und ihr wurde bewusst, dass ihr nur noch die letzten beiden Tage für ihren Neuanfang geblieben waren. Wenn sie diese Chance nicht nutzte, würde sie es vermutlich nicht mehr wagen.

Noch im Nachthemd zog sie unter dem Schrank den Koffer mit den Rollen hervor und begann damit, Sachen hineinzulegen. Schnell, bevor sie der Mut verließ.

„Wir machen einen Ausflug“, verkündete sie der Tochter, wenn auch ein einjähriges Kind damit wohl nicht viel anzufangen wusste, „für ein paar Tage. Freust du dich? Ich schon. Und wie.“

Das Mädchen fing an zu weinen. Konnte so ein Kleinkind spüren, dass das, was in Mamas Bauch kitzelte, keine Freude war, sondern Angst?

Ann-Solveig steckte einen Umschlag mit ihren Ersparnissen in eine Gürteltasche. Sie zog sich einen warmen Rolli, Steppjacke und Wollmütze über. Es war zwar Juni, doch auf den kurzen Sommer wartete man hier hoch im Norden noch. Beim Anblick ihres schwarzen Abendkleides zögerte sie. Ihre Mutter hatte es ihr zum einundzwanzigsten Geburtstag nähen lassen – das war nicht irgendein ersetzbarer Fummel, sondern eine materialisierte Erinnerung an die wenigen feierlichen Ereignisse, die sie darin erlebt hatte. Zuletzt hatte sie es zu Agnes‘ Taufe getragen. Sie fuhr mit den Fingerkuppen darüber; sie würde es hierlassen. Sie brauchte vor allem genügend Platz für Agnes‘ Kleidung. Außerdem durfte sie sich nicht an Sachen binden.

Sie stellte sich vor, wie sie ihr Leben von sich abzog wie eine Schlange die alte Haut. Die neue Haut darunter war empfindlich, verletzlich. Aber schon bald würde sie sich daran gewöhnen, rauer werden. Mit dieser Vorstellung fiel es ihr nun etwas leichter zu gehen.

Ann-Solveig ließ hinter sich die Tür zufallen, schloss das Haus ab, legte die Taschen ins Auto und setzte Agnes in den Kindersitz.

Und in diesem Augenblick verließen sie ihre Kräfte. Was tat sie da? Sie konnte doch nicht so einfach verschwinden und Alex‘ Kind entführen. Wo wollte sie überhaupt hinfahren? Ginge sie alleine fort, wäre das etwas anderes. Aber so? Alex konnte sie von der Polizei suchen lassen. Alle ihre Theorien über das perfekte Verschwinden wären zu nichts nütze, denn völlig anonym leben konnte sie nicht – sie würde mit der Kleinen zum Arzt gehen, eine Wohnung mieten und das Mädchen mit der Zeit an einem Kindergarten anmelden müssen. Alex würde seine Tochter nicht so einfach loslassen. Er würde sie finden, wo immer sie auch wären.

Sie ließ die Sachen im Auto, setzte Agnes in die Kindertrage und ging mit ihr spazieren wie an jedem anderen Tag. So war ihr Leben. Wahrscheinlich wäre sie glücklicher, wenn sie aufhören würde, von einem anderen zu träumen.

Früh morgens waren in allen Häusern noch die Vorhänge zugezogen, und nur die parkenden Autos an den Zufahrtsstraßen zeugten davon, dass das Dorf nicht völlig menschenleer war. Bei Katrines Haus fiel Ann-Solveig ein, dass sie mit ihr wieder mal einen Termin vereinbaren müsste. Über sich sprechen. Lange. Ohne fürchten zu müssen, dass ihr Gesprächspartner sie verurteilen würde. Oder sie könnte auf einen Tee bei Hilda im Wohnanhänger vorbeischauen oder bei Isak und Olga; bei den Nachbarn konnte sie sich kostenlos aussprechen. Höchstwahrscheinlich würde sie von ihnen aber das gleiche hören wie von Katrine: Hier quälst du dich, also hör auf dich immerzu zu beschweren und mach etwas. Geh weg.

„Aber ich kann doch nicht“, protestierte Ann-Solveig laut, „ich kann mich doch nicht einfach in Luft auflösen.“ Mit diesen Worten verließ ein kleines Wölkchen kondensierten Atems ihren Mund. Hätte sie sich nicht so miserabel gefühlt, würde sie sich darüber amüsieren.

Für einen Augenblick hielt Ann-Solveig auf einem Holzbrückchen über dem Fluss ein kurzes Stück vor dessen Mündung ins Meer an. Die Bretter waren an einigen Stellen morsch, aber die Brücke hielt noch. Bei Flut standen auf ihr und an den Ufern des Flüsschens die Fischer, aber jetzt hatte die Ebbe eingesetzt, deshalb war sie alleine. Ann-Solveig entfernte sich langsam weiter vom Dorf, den Pfad entlang auf den ersten Felsgipfel. Bereits seit einer Weile hatte sie bemerkt, dass Agnes auf ihrem Rücken eingeschlafen war; ein Spaziergang brachte ihre Tochter zuverlässig zum Schlafen.

Die Hänge bedeckte noch das frostgelbe Gras vom letzten Jahr, aber zwischen den alten Halmen wuchsen bereits niedrige, frische grüne Büschel. Vom Gipfel des Felsens sahen die bunten Dorfhäuser ganz klein aus. Ann-Solveig ging weiter. Sie kannte die Pfade hier so gut, dass sie ihnen auch blind hätte folgen können. In einer Mulde zwischen zwei Felsklippen gab es einen Kiesstrand, an den das Meer eine ganze Menge Unrat gespült hatte: bunte Bojen und Bootstaue, Fischernetze, das salzgebleichte Skelett eines ertrunkenen Rens. Niemand machte hier Ordnung – was das Meer bei einem Sturm hierhin brachte, das nahm es beim nächsten wieder mit.

Ann-Solveig begab sich auf den steilen Pfad zum hohen Felsen über dem Strand. Sie scheuchte eine kleine Herde von Rentieren auf. In staksigem Trab verschwanden sie hinter der Wegbiegung. Sie folgte ihnen, und als sie oben ankam und ihr ein sanfter feuchter Wind vom offenen Meer entgegenblies, konnte sie endlich etwas freier atmen. Sie stand auf einem grasbewachsenen kleinen Plateau hoch über dem Meer, dessen Wogen irgendwo unter ihr mit viel Getöse gegen die Felsen schmetterten. Das Brausen übertönte sogar das abscheuliche Piepen in Ann-Solveigs Ohren, und sie lächelte erleichtert. In den spitzen Felswipfeln nisteten Möwen, Alkenvögel und Basstölpel, von Zeit zu Zeit flogen sie mit Gekreische auf und kreisten über ihrem Kopf. Die zerklüfteten Felsen verdeckten ihr bereits die Sicht aufs Dorf. Lange stand sie da und atmete tief ein und aus. Hier war nur sie, waren die Vögel und das Meer. Als sie sich noch vorstellte Syltefjord zu verlassen, wusste sie, dass sie sich nach diesem Ort sehnen würde.

Aber jetzt war sie sicher zu bleiben. Alles wäre wie immer. Oder schlimmer. Ein endloser Kreis. Ohne Ausweg. Es hatte keinen Sinn sich dem zu widersetzen – das hier war ihr Leben, das Leben, das sie verdiente, das sie sich selbst aufgebaut hatte. Sie würde ihrer Tochter keine bessere Welt zeigen, dazu hatte sie keine Kraft.

Denn so war es gewissermaßen einfacher.

Ann-Solveig ging weiter entlang des Pfades zur Kante der höchsten Klippe. In zwei Metern Entfernung von ihr blieb sie stehen und beobachtete, wie sich aus der Ferne vom stahlgrauen Meer eine hellgraue Nebelwand näherte. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich mit einem Mal der Wind völlig gelegt hatte. Die Luft war zäh und feuchtigkeitsgesättigt. Nur die Wellen waren zu hören und das Geschrei der Vögel.

Besser sie machte kehrt. Bald würde der kalte Nebel alles einhüllen; wenn sie auf dem Rückweg vom Pfad abkäme, könnte sie leicht in den Abgrund stürzen.

Lange blickte sie in die schäumenden Wellen.

Und zum ersten Mal fiel ihr ein, dass sie auch eine andere Möglichkeit hatte.


Kapitel 1
Gegenwart

 

Katrine Nordberg führte ein schönes Leben. Geordnet, reibungslos, regelmäßig, gesichert. Sie mochte ihre Arbeit, ihren Mann, ihre Wohnung, das Sommerhaus (an letztgenanntem änderten auch die zwei gekreuzten Messer nichts, die als diffuse Drohung vor kurzem auf der Türschwelle lagen). Und sie mochte sich selbst. Das wusste sie zu schätzen, denn es war nicht immer so.

Ihre Kindheit und Jugend waren die Hölle gewesen. Katrine war hier aufgewachsen, in dem Syltefjord, das sie jetzt so liebte. Zu Schulzeiten aber hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als aus diesem abgeschiedenen Loch zu verschwinden. Sie hatte hier keine Freunde, weil sie hier nicht reinpasste. Sie war die Tochter einer der beiden Syltefjorder Lehrerinnen, dazu kein schönes Kind mit widerborstigem lockigen Haar, einer dicken Brille und abstehenden Ohren, derentwegen sie von ihren Mitschülern Schlabberohr genannt wurde.

Bei der Entsiedelung Syltefjords war Katrine dreizehn Jahre alt gewesen. Aus der Outsiderposition kam sie aber auch im benachbarten Batsfjord, wohin die meisten Familien gezogen waren, nicht heraus. Oft dachte sie darüber nach, worin sie sich eigentlich so unterschied, dass sie nirgendwo eine Lücke in einer Clique fand. Und warum es die anderen reizte, sich über sie lustig zu machen und sie von sich noch weiter wegzustoßen. Auch mit ihren Eltern verstand sie sich nicht, sie kamen ihr begrenzt vor – der Mutter waren nur ihre Zimtschnecken und geputzte Fenster wichtig, und der Vater verbrachte die meiste Zeit in seinem Gebrauchtwarenladen an der Hauptstraße von Batsfjord, ihn interessierte nichts anderes als alter Kram. Wie konnten sie nur so ein oberflächliches Leben führen? Waren sie wirklich glücklich? Wohl am ehesten deshalb beschloss Katrine, Psychologie zu studieren. Um die anderen besser zu verstehen… aber vor allem sich selbst.

An der Universität in Oslo fand sie zwar schließlich Freunde, aber immer noch machten ihr die Zweifel an ihrem Aussehen und die Sehnsucht nach Anerkennung zu schaffen. Sie kam über durchschnittliche Studienleistungen nicht hinaus, stach in nichts hervor. Immerzu bewegte sie sich am Rande einer Clique auf der Stelle, versuchte hineinzukommen. Nicht, dass die anderen sie vorsätzlich nicht mochten, sie waren einfach anders. Für sie war sie bloß das seltsame Mädchen aus dem fernen Norden…

Damals versuchte sie wenigstens, an sich das zu verändern, was sie ändern konnte. Sie ließ sich an den abstehenden Ohrmuscheln operieren. Per Laser ihre Aknenarben entfernen. Sie bleichte sich die Haare fast platinblond und gewöhnte sich an, sie jeden Morgen zu glätten. Und erkannte etwas Tolles: Sie musste sich gar nicht perfekt fühlen – es reichte völlig, die Perfektion bloß vorzutäuschen. Sie hörte auf, sich den Leuten aufzudrängen und ihre Anerkennung erzwingen zu wollen und setzte, im Gegenteil, die Maske kühlen, abgehobenen Desinteresses auf.

Erstaunlicherweise funktionierte das. Je distanzierter sie sich gab, umso mehr interessierten sich die anderen für sie. Eigentlich tat sie nur das gleiche wie vorher – sie war allein. Jedoch zeigte sie allen demonstrativ, dass es ihre Wahl war, und nicht ihr Schicksal.

Zudem arbeitete sie so lange an sich, bis sie recht ansehnlich war. Sie war zu einer Schönheit erblüht, sagte ihr Vater. Auch wenn sie zu seiner Art zu leben eine Million Einwände hatte, so bedeutete doch eine solche Würdigung alles für sie. Also bemühte sich Katrine noch mehr… bis sie in Schwierigkeiten kam.

Aber auch damit wurde sie schließlich fertig.

Deshalb war sie aus Oslo in den Norden zurückgekehrt, deshalb hatte sie sich dazu entschlossen, das Risiko einzugehen und eine private psychosomatische Beratungsstelle an einem Ort zu eröffnen, wo die meisten Leute keine Ahnung hatten, was in so einer Praxis eigentlich behandelt wurde.

Und allmählich zeigte sich, dass dies eine gute Entscheidung gewesen war. War sie in Oslo eine von vielen gewesen, so stach sie hier deutlich hervor. Eine Akademikerin, Psychologin, Expertin für psychosomatische Medizin… und wie schön sie geworden war! Alle, auch die, die ihr früher Schlabberohr zugerufen hatten, grüßten sie jetzt mit Hochachtung und Respekt. Und ihre Befürchtungen, ihr könnte Oslo fehlen, erfüllten sich nicht. Es zeigte sich, dass es mit der Stadt war wie mit einer Fernsehserie; solange sie läuft, fragt man sich, was man bloß machen soll, wenn sie mal endet, wie man seine Abende füllen soll – und dann wird die Ausstrahlung eingestellt, und man bemerkt, dass sie einem überhaupt nicht fehlt.

Durch die Küche zog der Duft von Kaffee. Katrine schenkte sich ein. Das Klirren der teuren Porzellantasse gegen die Untertasse. Reine Glückseligkeit. Es war Sommer, und so wohnten sie und Nils in Syltefjord. Die meisten Nachbarn verbrachten den ganzen Sommer über hier in ihren Häusern. Katrine empfing auch ihre Patienten hier, zu diesem Zweck hatte sie sich einen großen Raum im Erdgeschoss eingerichtet. Das war angenehmer als jeden Tag nach Batsfjord zu pendeln, und Katrine hatte den Eindruck, dass der Blick aus dem Fenster auf die Motorboote im kleinen Hafen die Patienten beruhigte, dass einige auch seinetwegen immer wieder zu ihr kamen.

In einer Viertelstunde würde eine Patientin kommen; ansonsten hatte sie niemanden mehr für heute herbestellt. Danach würde sie zum Friseur fahren. Und morgen würde sie Geburtstag haben. Katrine blickte sich im Zimmer voller teurer Möbelstücke und schöner Dinge um, die sie von ihrem selbst erarbeiteten Geld gekauft hatte und wurde von einer solch tiefen Zufriedenheit erfüllt, dass sie lächelte.

 

Aus dem Tschechischen von Daniela Pusch