Hana D. Lehečková

Sprösslinge

2021 | Vyšehrad

 

SEITE 9-20

 

Meine Eltern heirateten an dem Tag, als Tschernobyl in die Luft ging.

Mein Papa meinte, dass wenn ein Kernreaktor explodiert, wäre es so, als ob man von einer Million kleiner Kugeln durchsiebt wäre, und dann würde alles im Körper schlecht funktionieren. Als mir mein Papa von Tschernobyl erzählte, fiel mir gleich als erstes ein, dass mein Bruder vielleicht so ist wie er ist, weil ihm diese Kugeln das Hirn durchsiebt hatten, als er bei der Hochzeit noch in Mamas Bauch gewesen ist. Er hatte eine Ladung in seinen schiefen Kopf abbekommen, ohne irgendetwas davon zu bemerken und lutschte weiter an seinem riesigen Babydaumen. Und die Folgen sieht man noch heute, vierzehn Jahre später.

Krankes Hirn.

Anders lässt sich seine Blödheit nicht erklären.

 

BRUDER: Was machst du?

ICH: Ich bin am Rechner.

BRUDER: Und was machst du da?

ICH: Nichts.

BRUDER: Zeig mal, was du da machst.

ICH: Nichts werd ich dir zeigen.

BRUDER: Und warum nicht?

ICH: Weil es dich nichts angeht.

 

Mein Bruder geht auf den Computer zu, beugt sich zu mir und ich spüre seinen muffigen Atem auf meinem Gesicht. Er stinkt nach Butterbrot und Zwiebeln.

Ich bedecke den Monitor mit den Händen, damit er nichts sieht, damit er mich in Ruhe lässt, ich gebe mir Mühe, dass er von meinem Bildschirm nicht ein Stückchen sieht.

 

ICH: Verschwinde!

BRUDER: Dann zeig mal her.

ICH: Nein, das ist mein Computer!

 

Aber wenn mein Bruder etwas will, dann gibt er nicht nach. Er wird ganz rot, Druck steigt in ihm auf und entweder ist er wie ein Bagger, der vor sich eine Tonne Kieselsteine herschiebt, oder er geht in die Luft, kreischt, wälzt sich auf dem Boden, tritt mit den Füßen und es ist ihm ganz egal, dass er dabei aussieht wie ein wütendes zweijähriges Kind.

Seine Pranken mit den ausgebeulten Knöcheln, mit denen er immer so knackst, greifen nach mir. Er schiebt meine Hand vom Computer.

 

ICH: Iiih, fass mich nicht an! Du bist so eklig.

Ich versuche die Hände am Bildschirm zu halten, aber mein Bruder ist sehr stark, sein Klaue gewinnt, ich halte es nicht mehr aus und meine Hände gleiten vom Bildschirm.

 

ICH: Leck mich doch.

BRUDER: BIST DU EINE GUTE FREUNDIN? MACH UNSEREN TEST. Den musst du gar nicht machen, ich sag dir, was du für eine Freundin bist. Eine ganz schön aufdringliche und FÜR’N ARSCH.

 

Ich nehme ein Glas Wasser und schütte es ihm ins Gesicht, mein Bruder erschrickt, zuckt, erstarrt und verzieht plötzlich das Gesicht, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen, und dann kommt der Moment, der Moment der Stille nach dem Atemzug, als er überlegt, was er als Nächstes machen soll.

 

BRUDER: Mama!

ICH: Schrei nicht so, verdammt, sei leise.

BRUDER: Mama!

ICH: Mann, lass es doch einfach.

BRUDER: Mama!

ICH: Was willst du denn? Sag was du willst und ich geb’s dir, wenn du ruhig bist!

 

Doch es ist schon zu spät. Die Tür geht auf. Die Mama steht dort und fragt, was um Himmelswillen in uns gefahren ist, dass wir so schreien.

 

BRUDER: Fanny hat Wasser über mich geschüttet.

ICH: Er hat auf meinen Bildschirm geglotzt.

 

Die Mama zuckt nervös mit den Augen, ihre Lider flattern und ihre Nasenflügel beben, gleich könnte Dampf durchzischen, dann atmet sie tief ein und sagt: Darum hast du das gemacht? Weil er auf deinen Bildschirm geguckt hat? Ist das dein Ernst?

 

ICH: Ja, das mein ich.

 

Die Mama wiederholt ihre Frage, langsam und ruhig, sie betont die Wörter, als ob ich sie vorhin nicht gehört hätte, als ob ich nicht verstehen würde.

 

ICH: Er ist ein dummer Arsch.

 

Ich blicke sie geradewegs an, die Mama blinzelt, atmet tief ein, es dauert lange, mir scheint, dass sie vielleicht im Stehen eingeschlafen ist, dann aber fasst sie sich und verkündet: Eine Woche Computerverbot.

 

ICH: Das ist aber unfair, er hat angefangen.

 

Mir ist es egal, wer angefangen hat, ich beende das, antwortet die Mama und knallt mit der Tür, als ob sie uns damit etwas sagen wollen würde. Etwas, was sie nicht mit Worten ausdrücken kann. So macht sie es immer, wenn sie sauer ist, auf mich, auf meinen Bruder, auf den Papa, auf das ganze Leben.

 

ICH: Mein Gott! Wie ich das alles hier hasse.

BRUDER: Selber schuld. Fanny, Nanny, du blöde Nuss.

 

 

Das stimmt nicht.

Dass ich als Freundin für’n Arsch bin.

Ich bin nämlich eine gute Freundin.

Meine beste Freundin heißt Magda und wir sitzen zusammen in einer Bank, schon seit der ersten Klasse. Wir haben viel Spaß zusammen und sind fast immer gleicher Meinung. Darum sind wir auch die besten Freundinnen. Magda hat dunkelbraune gewellte Haare und kratzt sich immer so komisch das Gesicht und die Hände, weil es sie immer irgendwo juckt. Sie wohnt in einer der Häuser, die wir Smarties nennen.

Das sind ganz neue Wohnhäuser, die man, damit sie neben den ganzen grauen Plattenbauten interessanter aussehen, mit bunten Farben angemalt hat. Für mich sieht das gar nicht wie Luxuswohnen aus, sondern wie ein Irrenhaus für alle Exoten der Stadt.

Eine Sache aber mag ich an diesen Häusern. Den Aufzug. Wie da die Frauenstimme spricht. Unser Aufzug sagt nichts, die Tür klappt zu, und man fährt einfach, und bis man in seinem Stockwerk angekommen ist, man starrt die Wände an, an denen getrocknete Kaugummis kleben, Sprüche wie FICK MEINE ACHSEL stehen, überall Schlüsselkratzer, farbiges Gekritzel. Hier aber ist alles sauber, an der Wand hängt ein großer Spiegel, die Knöpfe leuchten blau und eine Stimme sagt: DIE TÜREN SCHLIESSEN, ZWEITER STOCK, BITTE AUSSTEIGEN. Es ist wie in einem Science-Fiction-Film, wo die Technik alles in der Welt möglich macht.

Ich klingle.

Magdas Mutter öffnet die Tür. Ich frage, ob Magda rausgehen darf. Ihre Mama seufzt und verschwindet in der Wohnung. Eine Weile später guckt Magda durch den Türspalt.

 

MAGDA: Hi.

ICH: Hi, kommst du mit raus?

MAGDA: Ok, aber erst so in ner viertel Stunde.

ICH: Macht nix, dann wart ich halt.

MAGDA: Wart aber vor dem Haus, die Mama hat gesagt, dass heute niemand reindarf, weil nicht aufgeräumt ist.

ICH: Ok.

 

Ich sitze auf dem Bordstein und glotze auf die Mülltonnen. Bei den Smarties gibt es nicht nur die normalen silberfarbenen Tonnen, sondern auch welche für Mülltrennung, für Papier, Plastik und Glas. Ich taxiere die Dinger und frage mich, warum Plastik gelb ist, Glas grün und Papier blau. Klar, Plastik wird irgendwann mal gelb, Glas ist grün wie Moldavit, aber warum ist ausgerechnet Papier blau? Vielleicht deshalb, weil es aus Bäumen gemacht wird und die wachsen ihr ganzes Leben so, um irgendwann den Himmel zu berühren?

Irgend so ein Typie mit einem Mülleimer kommt aus dem Haus. Die Shorts gucken aus seiner Trainingshose heraus. Er zieht den Rotz hoch, öffnet den Käfig und schmeißt den ganzen Abfall ein eine Tonne. Er kratzt sich am Po, hüstelt, der Griff seines versifften Eimers kippt nach untern und er weiß jetzt, dass er all die Reste und Abfälle, die ihm die Bude vollgestunken haben, losgeworden ist.

Ich blicke ihm hinterher, wie er wieder ins Haus geht.

Wie kann jemand einen solchen Typen lieben? Wie kann jemand einen solchen dicken Kerl mit Glatze lieben, der hüstelt und sich am Po kratzt? Welche Frau würde einen solchen hoffnungslosen Fall nehmen? Ihn freiwillig anfassen?

Endlich ist der Typ verschwunden.

Ich laufe hin und her und kicke Kieselsteine weg. Sie fliegen in alle Richtungen. Eine Weile balanciere ich am Bordstein und versuche, das Gleichgewicht zu halten.

Warum dauert es bei Magda so lange?

Bestimmt ist sie an der Glotze hängen geblieben und guckt irgendeinen Quatsch, bei denen zu Hause läuft die Kiste den ganzen Tag und die ganze Familie zieht sich Serien rein, das ist deren Leben. Manchmal spiele ich mit Magda Szenen daraus nach, wir gehen die Straße lang, reden laut und tun so, als seien wir Figuren aus einer Telenovela.

 

ICH: Ach, Hosé, ich liebe dich so sehr! Und ich danke Gott jeden Morgen beim Frühstück dafür, dass er dich in mein Leben gelassen hat.
MAGDA: Huanita, ich liebe dich auch so sehr, du hast so schöne Augen und einen so schönen Mund.

ICH: Hosé, es gibt aber eine Sache, die mir Sorgen macht.
MAGDA: Meine Geliebte! Du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst!

ICH: Ich bin schwanger!
MAGDA: Was willst du damit sagen?

ICH: Dass in meinem Bauch ein Baby heranwächst.
MAGDA: Also einst, als wir zusammen in dem dunklen Keller…

ICH: Ach, so ist es!
MAGDA: Huanita, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.

ICH: Sprich, mein Geliebter. Sag es.
MAGDA: Die Flamme der Liebe ist gerade erloschen.

 

Die Smarties-Tür geht auf.

Hurra!

Da kommt Marta endlich.

 

ICH: Junge, hat das gedauert.
MAGDA: Hm.

ICH: Sollen wir noch zu Sara?
MAGDA: Ja, gern.

 

Wir laufen nebeneinander und sagen nichts.

Was könnte ich ihr denn erzählen? Soll ich ihr sagen, dass mein Bruder alle meine T-Shirts aus dem Fenster geschmissen hat, weil er sauer war, dass ich ihm die gebrannte Red Dwarf DVD nicht leihen wollte? Soll ich ihr erzählen, dass ich von einer Creme gehört habe, die alle Sommersprossen im Gesicht verschwinden lässt? Worüber soll ich mit ihr reden, damit sie denkt, ich wäre witzig? Was soll ich sagen, damit sie nicht auf die Idee kommt: Mit Fanny ist es total öde und langweilig, Fanny erzählt nichts, wenn ich mit Fanny zusammen bin, dann ist es wie bei einem Spaziergang auf dem Friedhof, ich will Fanny nie mehr wiedersehen.

Was soll ich sagen, damit sich Magda das mit unserer Freundschaft nicht nochmal überlegt?

Ich kann mich erinnern, als wir acht oder neun Jahre alt waren, bei meiner Oma im Garten. Ich wurde nach ihr benannt, Františka. Wir fütterten die Hühner im Käfig, schaukelten auf der Schaukel und stopften uns reife Kirschen rein. Doch die Schaukelkette riss, wir wollten sie wieder anschrauben, aber keine von uns beiden wusste, wie genau ein Schraubenzieher aussah. Wir gingen also in den Schuppen und durchforsteten den Krempel dort, bis ich mir schließlich einen Hammer schnappte, Magda eine Axt und beide hämmerten wir auf die Schaukel ein und hofften, dass sie so wieder heil würde. Ein Nachbar ging vorbei und wunderte sich, was wir für ein Blödsinn veranstalteten.

 

ICH: Und haben Sie vielleicht einen Beweis dafür, dass es nicht funktioniert?

 

Das habe ich ganz ruhig zu ihm gesagt, er kratzte sich am Kopf, nickte anerkennend und ging weiter. Magda sagte mir daraufhin, das wäre das Witzigste gewesen, was sie je in ihrem Leben gehört hätte, und ich dachte damals, genau in dem Moment dachte ich, ja, wir sind wohl wirklich die besten Freundinnen.

Während ich an die kaputte Schaukel denke, bleibt Magda stehen. Ganz einfach so. Sie schaut mir in die Augen und steht einfach nur da.

 

ICH: Was ist los, komm.

 

Doch sie sagt nichts.

 

ICH: Wir wollten doch zur Sara, oder nicht?

 

Sie steht immer noch da und guckt mich schweigend an. Nach einer Weile sagt sie endlich etwas.

 

MAGDA: Hey, entschuldige, ich darf eigentlich nicht raus, ich muss zu Hause bleiben.

ICH: Wieso? Warum denn nicht?

MAGDA: Die Mama hat mir nicht erlaubt, raus zu gehen. Ich sollte nur raus, um dir Bescheid zu geben.

ICH: Was? Es ist doch immer noch Nachmittag. Es dauert noch lange, bis es dunkel wird.

MAGDA: Ich darf halt nicht. Hab wohl Hausarrest.

ICH: Hausarrest? Aber wofür denn?

MAGDA: Keine Ahnung. Hat die Mama nicht gesagt.

ICH: Aha, na dann gehe ich allein zu Sara.

MAGDA: Ok, tschüssi.

 

Sie dreht sich um und eilt über den Parkplatz zurück. Ich schau ihr hinterher. Aus dem Shirt guckt ein Etikett, bei wieviel Grad man die Klamotte waschen soll, auf dem Rücken ist Minnie Mouse gezeichnet. Die Sonne brennt mir ins Gesicht, Schweiß rinnt mir die Stirn herunter und Magda hüpft auf einmal hoch. Hüpft und läuft los. Sie rennt schnell zum Eingang, als würde sie ein Wettrennen veranstalten, eilig reißt sie die Tür auf, fast rammt sie sie sich ins Gesicht, dann wird sie vom Smartie verschluckt.

Ich bleibe allein auf dem Parkplatz zurück und überlege, warum Magda mit mir nicht raus will.

Dann mache ich mich auf den Weg zu Sara.

 

⁃ ⁃ ⁃

 

Auf dem Weg komme ich am Racek-Haus vorbei. Als ich noch klein war, ist das ein Hotel gewesen, heute ist es nur noch eine graue Abrissbude, die aussieht wie eine alte Schachtel.

Die Fenster im Erdgeschoss sind verriegelt, die im ersten Stock wiederum ausgeschlagen. Und alles zusammen ist zugewachsen, überall Sträucher und Bäume, es sieht so aus, als wollten sie das gesamte Haus verschlingen. Im Racek treffen sich angeblich die Junkies, verbrennen Müll und auch Penner hausen dort. Ins Racek darf keiner von unserer Schule, jedes Jahr trichtern sie uns das von Neuem ein: Allen Kindern ist der Zutritt ins Racek verboten, und wenn wir einen von euch dort aufgabeln, fliegt er von der Schule. So werden wir immer wieder eingeschüchtert, manch einer hat schon eine Zwei im Betragen bekommen, als er dort mit einer Gruppe gesehen wurde. Darum war ich noch nie im Racek, weil man nie weiß, ob um die Ecke nicht irgendein Lehrer daherkommt.

 

___

 

Sara wohnt weder im Smartiehaus wie Magda, noch im Plattenbau wie ich.

Ihre Familie hat ein Haus.

Würde ich in einem Haus leben, wäre mein ganzes Leben ganz anders.

Alle Probleme würden verschwinden.

Ich würde mein eigenes Zimmer haben, in dem ich mich einschließen könnte, und ich müsste nicht im selben Raum wie mein Bruder schlafen, dieser Bruder, der der schlimmste von allen ist. Dass wir beide verwandt sein sollen, das kapier ich überhaupt nicht. Ich bin ein ganz normaler Mensch und er ein Tier, der gehört in eine Hütte oder in den Hühnerstall. Einmal hat er zu Weihnachten vor Wut auf den Teppich gekotzt, weil er ein Videospiel nicht bekommen hatte. Direkt vor den Weihnachtsbaum hat er einen riesigen braungelben Fleck hingelegt.

Ich stehe vor dem Tor zu Saras Haus und drücke die Klingel. Ich betrachte das Namensschild.

ŠTĚTKA.

Mich würde mal interessieren, warum sie so einen komischen Nachnamen haben.

Aber das Haus ist riesig und schön. Wo wohl Saras Eltern arbeiten, dass sie so edel wohnen können und überhaupt keine Sorgen haben? Dass sie sich Urlaub am Meer leisten können, ein Wochenendhaus, einen Grillwagen und dass sie sich den ganzen Sommer die allerleckersten Sachen reinschieben können? Wie kommt es, dass sie jedes Wochenende die Oma besuchen fahren, Familienfeste feiern, gemeinsam Ausflüge machen, Schlösser und Burgen in der ganzen Tschechischen Republik besuchen, oder zumindest abends in der Stadt spazieren gehen?

Wie kommt es, dass alle jeden Abend gemeinsam an einem Tisch zusammen Abendessen?

Liegt es daran, dass sie reich sind?

Ich betrachte das Tor, und sehe wie sich der Lack am Zaun abschält. Ich drehe mich um, ob mich nicht jemand sieht und schabe ihn herunter. Die Lackstückchen bröckeln zwischen meinen Fingern wie grauer Dreck, der früher mal grüne Farbe hatte, aber jetzt ist es nur noch Staub, der zu Boden fällt. Ich kratze noch etwas Lack ab und reibe ihn zwischen meinen Fingern. Es brennt. Winzige spitze Pfeile bohren sich in meine Haut. Ich wische meine Hand an der Legging ab.

Endlich geht die Tür auf und Sara schaut heraus.

 

 

SEITE 149-158

 

 

Jedes Jahr vor Weihnachten findet eine Weihnachtsfeier in unserer Theatergruppe statt, zu der Eltern, Freunde und ehemalige Mitglieder eingeladen sind. Das ist ein Riesenereignis, alle kommen zusammen, begrüßen sich, reden miteinander, tauschen Neuigkeiten aus, und jede Truppe zeigt eine Probe von dem Stück, an dem sie gerade arbeitet.

Unsere Truppe hat im Oktober und November einen Text gelernt, die sie jetzt zum ersten Mal vor Publikum spricht. Ohne Kostüme und Requisiten zwar, und nur vor Leuten, die wir alle kennen, aber wie Mirek sagt: die Familie ist der strengste Kritiker.

 

***

 

Ich kann mich bei dem Auftritt eigentlich an nichts erinnern. An rein nichts.

Diesmal rauschte alles an mir vorbei, wie im Traum. Ein Zug, der sich nicht anhalten lässt, und ich kann nur beobachten, wie er in der Ferne an mir vorbeifährt.

Wir stehen in unserem Klubraum, vor uns sitzen die Eltern auf Stühlchen, die Scheinwerfer sind auf uns gerichtet, es ist heiß, wir schwitzen, sprechen, laufen auf der Bühne herum, winken mit den Armen, erheben die Stimme und werden wieder leiser, wir lachen über die Einfältigkeit der Nachtigall, als sie das erste Mal an den Hof des Fürsten kommt, wir weinen, als sie das erste Mal weint, sind traurig, als sie vom Hof fortgeht, und fürchten uns, als der Kaiser erkrankt und ihn der Tod höchstpersönlich abholen kommt, die Lichter gehen aus, es herrscht Stille, wir alle atmen tief aus, ich sehe uns von ganz weit oben, wie wir uns verbeugen, das Publikum klatscht und überall lautes Tosen, Mirek steht auf und bewegt seine großen Hände, die er bei jedem Klatschen ineinander vergräbt wie in weiche Kissen, und er schreit: Und das, Herrschaften, wurde in nur zwei Monaten eingeübt, hört ihr, liebe Eltern, was für geniale Kinder ihr habt? Und plötzlich ist mir klar, es ist vorbei, die Vorstellung ist zu Ende, der Vorhang ist gefallen, so sagt man doch, wenn sich die Schauspieler verbeugen, und ich weiß gar nicht, wie es geschehen ist.

Haben sich alle Schauspielerinnen mal so gefühlt?

So,

als seien sie allein in einem leeren Geschäft?

 

***

 

Die Weihnachtsfeier beginnt.

Während die Kinder im Klubraum bleiben, lädt Mirek alle Eltern und ehemaligen Mitglieder in den anliegenden Ruheraum ein. Er schiebt einige Tische aneinander, holt ein paar Kinderstühle und stellt einen riesigen Kessel in die Mitte, so einen gibt es in der Schulkantine für süßen Tee, hier wabert warmer roter Glühwein drinnen.

Die Eltern nehmen unsere Becher, die im Schrank stehen, und Mirek schnappt sich die Schöpfkelle. Jaja, man muss sich als alter Junggeselle wie ich einer bin schon zu helfen wissen, ich bin vierzig, hab keine Frau, da ist mir wenigstens der Alkohol ein guter Freund, schreit er in alle Richtungen und gießt den lachenden Eltern Glühwein in die Becher, aus dem es dampft und dazu führt, dass alle Fenster beschlagen. Die Eltern laufen hin und her, sitzen auf unseren Stühlchen, die Knie fast am Kinn, oder sie stehen herum und lehnen an der Wand. In der Menschenmasse erspähe ich die Mama und fühle mich erleichtert, sehr sogar, dass jemand gekommen ist, dass doch noch jemand aus meiner Familie diesmal den Weg hierher gefunden hat. Ich werde nicht wieder die einzige sein, bei der keiner da war.

In der Zwischenzeit laufen die Kids im Klubraum herum, schreien, toben und streiten.

 

BREPTA: ICH BIN DER HERRSCHER DER WELT, VERBEUGT EUCH ALLE VOR MIR!

 

Er schlägt sich mit der Faust gegen den Brustkorb und macht dann einen Handstand.

 

ANDREA: ICH BIN EINE TÜRKISCHE PRINZESSIN UND IHR ALLE SEID MEINE SKLAVEN! IHR MÜSST MIR GEHORCHEN!

 

Sie hüpft auf den Stuhl und redet wie eine Rundfunkansagerin, hebt den Finger und scheucht alle herum.

 

PÉŤA: UND ICH BIN DER HUND WALDI UND LIEBE SCHWEINEKNOCHEN, WAU, WAU.

 

Der kleine Péťa bellt, stürzt sich auf alle Viere zu Boden und tut so, als würde er einen Baum anpinkeln, während Nela so tut, als wäre sie sein Frauchen.

Überall chaotisches Durcheinander und Lärm. Plötzlich wird mir heiß von all den Leuten, die mich umströmen. Ich bekomme keine Luft, kann nicht so tief atmen, wie ich sollte.

Ich gehe lieber für einen Augenblick in die Umkleide.

Hier ist es dunkel, aber es gibt frische Luft.

Ich atme tief ein, wische mir mit der Hand das verschwitzte Gesicht ab. Es stinkt seltsam, so nach Angst, Lampenfieber und Nervosität. Ich lehne mich eine Weile gegen die Wand und schaue stumpf in die Dunkelheit vor mir.

Dann taste ich nach dem Lichtschalter, mache Licht und gehe zu meinem Spind. Die Fliesen unter meinen Füßen fühlen sich kalt an. Beim Öffnen höre ich plötzlich etwas.

Eine Stimme.

Jemand ist auf dem Klo.

Zuerst glaube ich, dass dort jemand pinkelt und dabei mit sich selber spricht, ein Mädchen, dass glaubt, es wäre ganz alleine.

Dann aber höre ich eine weitere Stimme.

Ich rühre mich nicht und höre eine Weile zu.

Dann erkenne ich die Stimmen, das sind Mireks Assistentinnen aus der ältesten Truppe, Myška und Kiki.

Warum zum Teufel haben sie sich auf dem Klo eingeschlossen?

 

MYŠKA: Gib mir noch einen Schluck.

KIKI: Junge, der Glühwein ist echt eklig.

MYŠKA: Macht nix, Hauptsache was zum Saufen.

KIKI: Hör mal, wann ist es denn eigentlich passiert?

MYŠKA: Bevor es mit der Theatergruppe zum Orlík-See ging.

KIKI: Darum bist du nicht mitgekommen?

MYŠKA: Ja. Ich hab gesagt, meine Tante wär gestorben. Aber die ist schon seit einem Jahr tot. Ich wollte ihn nicht sehen. Ich muss immer dran denken. An den dicken haarigen verschwitzten Bauch.

KIKI: Du hast also mit ihm geschlafen.

MYŠKA: Mhm.

KIKI: Also so richtig?

MYŠKA: Mhm.

KIKI: Und wie war’s?

MYŠKA: Keine Ahnung. Wenn er’s bei dir auch probiert, dann musst du dich irgendwie herausreden.

KIKI: Und wirst du es deinen Eltern erzählen?

MYŠKA: Bist du verrückt? Meine Eltern vergöttern den, die würden mir niemals glauben.

KIKI: Wirst du es jetzt immer mit ihm machen müssen?

MYŠKA: Ich hab keine Ahnung. Er hat nichts dazu gesagt.

KIKI: Ach ja, die arme Šíša. Die wird ausrasten.

MYŠKA: Du meinst, ich sollte ihr davon erzählen?

KIKI: Na klar, wir drei sind doch die besten Freundinnen, wir müssen uns die Wahrheit sagen.

MYŠKA: Aber dich hat er doch auch geküsst.

KIKI: Ja, aber küssen ist was anderes, er küsst doch ständig jemanden, auch die jüngeren Mädels, aber schlafen tut er nur mit Šíša. Und jetzt also auch mit dir.

MYŠKA: Ich weiß nicht, vielleicht schläft er auch mit den anderen Mädels.

KIKI: Meinst du?

MYŠKA: Du weißt doch, wie er auf Frauen steht, immer muss er eine befummeln. Immer hat er eine Erste, so wie früher die Beáta und jetzt eben die Šíša. Und dann noch irgendwelche Nebenfrauen, die er in Reserve hat, für alle Fälle.

KIKI: Die Šíša hat er nachts am Orlík gevögelt, oben im Schlafraum, wo auch die anderen Kids waren, ich hab daneben am Boden geschlafen und hab so getan, als ob ich schlafe, aber ich hab kein Auge zugemacht, das war echt widerlich. Ach ja, und die Šíša hatte voll den Stress mit Mirek, es sieht so aus, als ob sie vielleicht geht.

MYŠKA: Das ist aber trotzdem komisch, dass die Beáta nie mit ihm streitet und immer auf die Parties der Gruppe kommt. Dass sie so supergut mit ihm klarkommt.

KIKI: Vielleicht hat es ihr nicht so viel ausgemacht.

MYŠKA: Meinst du?

KIKI: Weiß nicht. Vielleicht hat sie ne ordentliche Gehirnwäsche bekommen und die hält bis jetzt an.

MYŠKA: Wart mal kurz, pssst!

KIKI: Was ist?

MYŠKA: Hast du das gehört?

 

Die Mädels auf dem Klo verstummen auf einmal.

Ich schnappe nach Luft.

Verdammt!

Verdammtverdammtverdammt.

Verdaaaaaaaaammmt.

Das war mein scheißblöder kommunistischer Spind.

Schnell schlage ich Schranktür zu, stecke den Schlüssel in die Tasche, nehme die Klinke in die Hand und öffne die Tür. Ich höre noch, wie die Türverriegelung der Toilette raschelt, gleite leise hinaus und verschwinde wie Dampf überm Kessel.

 

***

Frohes Fest, allerseits, passt mir gut auf die Kiddies auf, verabschiedet sich Mirek fröhlich von allen Eltern. Er läutet die große Theaterglocke, die gelegentlich den Vorstellungsbeginn ankündigt, auf den Kopf hat er sich eine staubige Santa-Mütze gesetzt. Die Eltern schütteln seine Hand und umarmen ihn, dann schreit Mirek: WIR STEHEN UNTER DEN MISTELN, schnappt sich das ehemalige Mitglied Beáta, fasst ihr um die Taille, gibt ihr einen Riesenschmatzer, dass es nur so schnalzt und alle Eltern lachen. Ich sehe mir Myškas Papa an, diesen hageren großen Mann, wie er und Mirek sich die Hände schütteln. Zwei Kerle halten sich an den Händen und auf einmal sehen sie wie zwei kleine Jungs aus, die zusammen im Zelt sitzen und ihre Freundschaft gerade mit einer Blutsbrüderschaft besiegelt haben. Ich höre Myškas Vater, wie er zu Mirek sagt: Du musst streng zu dem Mädel sein, sie ist halt so, du weißt schon, so rotzig, sie braucht eine feste Hand, du kannst sowas, hast die Autorität, darum schätzen wir dich alle. Mirek nickt anerkennend mit dem Kopf.

Als sich meine Mama von ihm verabschiedet, höre ich zu, spitze meine Ohren, aber Mirek sagt nichts. Die Mama dreht sich um und geht auf mich zu, aber plötzlich ruft ihr Mirek zu: Wir könnten uns doch eigentlich duzen, Frau Hnídková? Dann fasst er sie am Arm, dreht sie um, blickt ihr durchdringend in die Augen und sagt, er wisse jetzt, woher Františka diesen betörenden Blick hätte. Die Mama schweigt, sagt nichts, macht ein verwundertes Gesicht und Mirek legt nach: Mädels wie sie besitzen eine unauffällige, verborgene Schönheit, und du bist genauso.

Ich lasse sie nicht aus den Augen und stopfe heimlich, so dass mich niemand sieht, Weihnachtsplätzchen für den Weg in meine Jackentasche.

Die Mama schaut Mirek an, blinzelt ein paarmal heftig, wird ganz rot im Gesicht, und als sie sieht, wie ich sie beobachte, reißt sie sich schnell los, winkt mir zu und verschwindet in der Garderobe zwischen den grölenden Oldies.

Ich gehe zu ihr.

 

***

 

Und dann gehen wir gemeinsam nach Hause.

Die Mama wankt ein bisschen, steigt in den Schnee und hinterlässt darin große, tiefe Spuren. Ich ziehe einen gebrochenen Keks nach dem anderen aus der Tasche und stopfe ihn mir in den Mund. Komm, geh schneller, sagt die Mama und kneift mich ein bisschen, um mich anzutreiben, dann fügt sie hinzu: Ich möchte nicht Magdas Mama begegnen, den ganzen Abend musste ich neben ihr sitzen, war das eine Qual, ich rede nicht gern mit der, die Frau hat keinen Plan, liegt wohl daran, dass sie kein Abi hat.

Dann sackt die Mama ein, grapscht rasch nach mir und hält sich an meiner Schulter fest.

 

ICH: Aua, was machst du, das tut weh.

 

Na na na, regt dich nicht so auf, hätte ich lieber hier in den Schnee fallen sollen, wäre dir das lieber, ja?, fährt sich mich an, richtet sich mühsam auf und lässt mich los. Und stopf dich nicht so voll mit dem Zeug, wolltest du nicht eigentlich abnehmen, presst sie genervt zwischen den Zähnen hervor und ich denke, zu Weihnachten gehört Glühwein aus dem Tetrapack verboten.

Eine Weile gehen wir still nebeneinanderher.

 

ICH: Was bedeutet vögeln, Mama?

 

Frage ich und bleibe stehen. Die Mama stapft aber weiter durch den Schnee, als ob nichts gewesen wäre, sie antwortet nicht, wahrscheinlich hat sie mich bei dem Knacken und Knirschen vom Schnee nicht gehört.

Ich blicke ihr hinterher, wie sie geht, langsam, Schritt für Schritt, und wie ein Bulldozer Spuren im Schnee hinterlässt, in die sich auch der kleine Péťa verstecken könnte, damit er der türkischen Prinzessin nicht als Sklave dienen muss.

Ein paar Meter weiter bleibt sie stehen und dreht sich nach mir um. Im Licht der Straßenlaterne sehe ich, dass es zu schneien begonnen hat, die Schneeflocken landen leise auf ihrer schwarzen Fellmütze, als ob sie sich ins Moos legen würden. Sie umkreisen die Mütze, als ob sie wüssten, dass aus Eis Gemachtes zerbrechlich ist.

Bewegst du dich mal?, blafft mich Mama an und ihre Stimme hallt durch die leere Straße.

 

ICH: Mhm.

 

Antworte ich und beeile mich lieber.

 

 

Aus dem Tschechischen von Hana Hadas