Alena Mornštajnová

Stille Jahre

2019 | Host

Prolog

An Großmutter habe ich zwei Erinnerungen. Die erste ist verwischt und unklar. Ich bin noch ganz klein. Ich stehe in unserem Haus unter der Treppe, die Fliesen unter meinen nackten Füßen sind kalt und von oben flattern bunte Kleidungsstücke auf mich herab. Sie schweben durch die Luft, bleiben am Geländer hängen und fallen mir vor die Füße. Großmutter läuft herum, sammelt Pullover, Strumpfhosen, Röcke, Unterröcke und riesige Schlüpfer mit Bein auf und stopft sie wahllos in die Tasche. Ich laufe hin und fange auch an aufzusammeln. Als ich der Großmutter ein weißes Unterkleid reiche, sehe ich, dass ihr Tränen die Wange herunterfließen.

Seit dieser Zeit weiß ich, dass auch Erwachsene weinen.

Die zweite Erinnerung ist ganz klar und liegt vor einer der wichtigsten Entscheidungen, die ich je im Leben getroffen habe.

Im Krankenhausbett liegt eine Frau. Dass es Großmutter ist, weiß ich nur, weil der Vater es mir gesagt hat. Ihre Augen sind fast geschlossen, aber sie schläft nicht. Ihr Brustkorb hebt sich in einem pfeifenden Atemgeräusch und die Papierhaut ihrer Hand ist mit rot-violetten Flecken übersät. Ich bemühe mich, nicht zu tief einzuatmen, weil die Luft in dem Zimmer schwer nach Urin, Schweiß und Desinfektion riecht. Ich betrachte das blasse Gesicht, ob ich die Frau aus meinen Kindheitserinnerungen erkenne. Großmutter öffnet die Augen und schaut mich an.

„Blanka, Blanička.“ Sie lächelt.

Ich heiße Bohdana. Verwirrt wende ich mich zum Vater um.

„Blanička“, wiederholt Großmutter, aber als ich den Kopf schüttle, packt mich der Vater fest am Arm.

Ich schaue ihn an.

Er weicht mit den Augen aus.

„Blanka war ihre Schwester“, sagt er ungeduldig. „Sie ist schon tot.“

Ich weiß, dass er lügt. Das haben mir der ausweichende Blick und das Aufblitzen einer früheren Erinnerung verraten.

Weil damals, als Großmutter die letzten Wäschestücke aufhob, sie sich aufrichtete, sich die Tränen abwischte und nach oben die Treppe hinauf schrie: „Du jagst mich fort. Alle jagst du von dir fort. Blanka ist auch deinetwegen nicht hier. Am Ende wirst du ganz allein sein.“

Großmutter lebte danach noch zwei Monate, aber Vater nahm mich nicht mehr zu Besuch in das Heim mit.

Ich war dreizehn, als ich in dem stinkenden Zimmer in dem Pflegeheim für Langzeitkranke, in dem auf vier Betten von Medikamenten betäubte Patienten lagen, auch mein Ende erblickte und begriff, dass die Menschen um mich herum Tage verlebt haben, die beeinflussen, wie sie leben und was für Menschen sie geworden sind. Dass auch meine Familie ihre Geschichte hat. Und dass ich nichts darüber weiß.

Und damals begann ich, in die Vergangenheit zurückzuschauen und mir die Gegenwart ins Gedächtnis zu graben.

Ich wurde eine Erinnerungssammlerin. In ein großes rotes Heft mit blauen Linien begann ich meine Gedanken und alle Ereignisse aufzuschreiben, die uns begegneten, auch wenn sie in dem Moment ganz unbedeutend erschienen. Erst in der Abfolge der vergehenden Jahre zeigte sich, dass alles, was passierte, wichtig war, weil genauso wie der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Taifun am anderen Ende der Welt hervorrufen kann, auch ein einfaches Wort oftmals verletzen und die Beziehung zwischen zwei Menschen für immer zeichnen kann.

Manchmal beschrieb ich an einem Tag mehrere Seiten, ein anderes Mal schrieb ich nach langem Schweigen nur ein paar Zeilen, aber immer dachte ich daran, für wen meine Aufzeichnungen bestimmt waren. Für einen Menschen, der in jener mir unbekannten Vergangenheit verloren ging, aber den ich sehr, sehr brauchte.

 

1 / Tochter

 

Unser Haus steht am Stadtrand am Ende einer Sackgasse. Hinter dem Garten, der mit alten Bäumen, ungeschnittenen Sträuchern und selten einmal gemähtem Gras zugewachsen ist, liegen nur noch ein staubiger Feldweg, eine Wiese und endloser Wald. Der Zaun und die Hauswände sind mit Efeu bewachsen, und wenn man es vom anderen Ende der Straße anschaut, verschwimmt das Haus mit seiner Umgebung und ist schwer auszumachen. Aber wenn man näher kommt, sieht man es.

Es ist groß und fest gebaut und die dunklen Fenster schauen den Ankommenden aus dem grünen Laub an, als beobachteten und prüften sie, ob die es wert sind, durch das eiserne Tor zu gehen, in den Vorgarten einzutreten und über den gepflasterten Weg, in dessen Ritzen Moos und Gras wuchsen, bis zu den drei Steinstufen zu gehen, die zur Eingangstür führten.

Von außen ähnelt das Haus meinem Vater. Auch er verschwimmt scheinbar mit der Umgebung, aber kaum kommt man ihm näher, sieht man seine Größe, fühlt seine Kraft und den durchdringenden Blick.

In einer Sache unterscheidet sich der Vater allerdings von unserem Haus. Wenn das Haus die Tür öffnet, überrascht es uns mit seiner Helligkeit, seiner Behaglichkeit. Es ist einladend und vermittelt das beruhigende Gefühl von Heimat. Vater öffnet nie seine Türen. Ich habe überhaupt keine Ahnung, was sich dahinter verbirgt.

Unser Haus ist ein magisches Haus. Ich weiß das, weil am 14. September 1980, als ich geboren wurde, genau ein Jahr und ein Tag vergangen waren, seit die Eltern dort eingezogen waren. Vater war weit über 40 und Mama nur ein paar Jahre jünger. Ich wurde nach 25 Ehejahren geboren und wuchs als Einzelkind auf. Auf die Rückseite eines meiner ersten Fotos hatte Mama geschrieben, ich sei ein Wunder und ein Geschenk des Himmels.

Für den Vater war ich eine Last.

Als Běla mit uns lebte, roch das Haus nach Lavendel, Kleber und angebranntem Essen. Diese drei Düfte gehörten zu Běla genauso wie die Augen in der Farbe frischgemahlenen Kaffees und die Haare wie dunkle Schokolade, die zu einer Frisur geschnitten waren, die sie Bubikopf nannte, die aber in Wirklichkeit aussah, als hätte sie sich die Haare mit einem Topf selbst geschnitten. Běla hielt diese Frisur für sehr französisch. Obwohl sie kein Wort Französisch konnte, hatte sie eine Schwäche für alles, was mit Frankreich zusammenhing. Daher rührte offensichtlich auch ihre Vorliebe für Lavendel.

Violettblauer Lavendel blühte in Beeten, die den Weg zum Haus einfassten, in Töpfen bei der Treppe und in Kästen auf den Fensterbrettern. Bělas Glaube an die Kraft des Lavendels war unerschütterlich. Sie behauptete, Lavendel würde lästige Insekten fernhalten und die Kleidung vor Motten schützen. Die Kleiderschränke legte sie mit Säckchen voll getrockneten Blüten aus und tat so, als hörte sie nicht das Geschimpfe des Vaters, seine Hemden, Pullover und Hosen röchen wie so ein leichtes Frauenzimmer. Mit Lavendelöl behandelte sie Vaters Trauer, ihre Schlaflosigkeit und meine aufgeschlagenen Knie. Sie behauptete, Lavendel verbessere die Verdauung und helfe gegen Blähungen. Sie mischte ihn in Marmeladen, legte ihn in Zuckerdosen, gab ihn zum Essen dazu und machte daraus Essig und Speiseeis.

Das Haus war zu groß für uns. Einige Zimmer benutzten wir überhaupt nicht, nur manchmal wischten Běla und ich Staub, schüttelten die Vorhänge aus und saugten die Teppiche ab, damit nicht Spinnen und andere ungebetene Gäste die Zimmer belegten, aber Běla hatte trotzdem die Küche zu ihrem Reich erkoren. Nicht dass sie gern gekocht hätte – trotz aller Mühen und anspruchsvollen Zutaten im Stil der französischen Küche schmeckte jedes Essen von Běla gleich, nämlich angebrannt. Sie hatte die Küche ausgesucht, weil in die Küche im Erdgeschoss durch breite Fenster das meiste Licht drang und hier der größte Tisch im Hause stand.

Běla brauchte einen großen Tisch. Sie verbrachte viele Stunden dort mit Ausschneiden, Malen, Kleben, Zusammenlegen. Sie machte Collagen aus unterschiedlichsten Farben und Mustern von Traumlandschaften und Porträts, die aus der Nähe in Hunderte bunter Bildchen zersplitterten.

[…]

Obwohl ich Běla mit dem Vornamen ansprach und nie Mama zu ihr sagte, war sie die beste Mutter, die ich haben konnte. Sie gab mir Liebe und ein Gefühl von Sicherheit, war mein Schutzschild gegen Vaters schlechte Launen und gegen die Umwelt. Jetzt begann sich mein Sicherheitsgefühl zu verlieren. Was, wenn der Vater Běla mit seiner Kälte verjagt? Was, wenn Běla genug hat von den unbarmherzigen Bemerkungen und dem Leben neben einem Mann, der seine Mutter rausgeworfen hat und nicht in der Lage war, seine eigene Tochter zu lieben?

Aus Vaters Zimmer drang Musik. Dvořák, den machte er immer an, wenn er übel gelaunt war. Er schloss sich in seinem Zimmer ein, legte die Platte auf und setzte sich in den Sessel mit der hohen Lehne.

Einmal, ich war wohl acht Jahre alt, schlüpfte ich hinter Vater ins Zimmer und setzte mich neben dem Sessel auf den Teppich. Die Musik erfüllte den Raum und die Töne flogen durch die Luft wie Bělas Papiervögel. Ich schloss die Augen und schwebte ihnen hinterher. Auf einmal verstummte die Musik. Der Vater hatte mich bemerkt und ohne ein Wort das Grammophon ausgeschaltet, nahm mich bei der Hand und brachte mich in die Küche.

„Kann ich nicht einen Moment meine Ruhe haben?“, schnauzte er Běla an und schubste mich zu ihr. Überrascht schaute sie erst mich an und dann den gehenden Vater.

„Aber sie wollte doch nur zuhören“, sagte sie zu dem sich entfernenden Rücken.

Ja, ich wollte zuhören und ich hatte auch das Gefühl, dass die Musik etwas war, das ich mit dem Vater gemeinsam hatte, und ich wollte doch zu seiner Welt gehören… Nur konnte ich diesen Gedanken nicht ausdrücken, und so stand ich nur da, kam mir schuldig vor, und wusste nicht warum. Běla riss den Blick von der verschlossenen Tür los, streichelte mir übers Haar und schaltete das Radio an.

[…]

Großmutters Versprecher, Vaters kaltes Benehmen und Bělas Unlust, über manche Dinge aus der Vergangenheit zu reden, fügten sich auf einmal zusammen und ich hatte schreckliche Ideen. Was, wenn mich Mama adoptiert hatte, und als sie dann nicht mehr da war, ich dem Vater als ungewolltes Anhängsel zurückblieb…?

Aber Leuten im Alter meiner Eltern würde man wohl eher kein Baby zur Adoption geben. Oder hatten sie mich entführt? Ist es möglich, dass irgendwo meine echten Eltern leben und mich suchen?

Vor Angst zog sich mir der Magen zusammen, aber dann wurde mir bewusst, dass ich dem Vater ähnlich sehe. Und mit den Jahren immer ähnlicher. Oder redete ich mir das nur ein?

Von der oberen Etage drangen Klavier- und Geigentöne zu uns herunter und mir fielen weitere Fragen ein. Warum waren die Eltern nach mehr als zwanzigjähriger Ehe Hunderte Kilometer von Prag fortgezogen? Wie war es möglich, dass bald darauf ich geboren wurde?

[…]

8 / Vater

 

Alles ging gut aus, Evas Mühen und Blankas Gehorsamkeit zahlten sich aus und Blanka wurde am Konservatorium zum Studium angenommen. Trotzdem hatte Svatopluk das Gefühl, die bekannte Welt würde ihm unter den Händen auseinanderfallen.

Svatopluks Vater war ein echter Kommunist und reichte dem Sohn seine Weltsicht, seine Grundsätze weiter. Jetzt war er nicht mehr und Svatopluk fühlte sich allein. Er fühlte, dass er sich auf seine Genossen nicht verlassen konnte. Statt dass die Situation sich nach dem sowjetischen Eingreifen im Jahr 1968 verbesserte und das Land sich bewusst machte, dass es damals dem Verderben entgegeneilte, wurde es noch schlimmer. Offener Widerstand, gegen den man noch angehen könnte, war selten, die meisten Leute wurden hart, verschlossen sich in ihren Familien wie in einem sicheren Panzer, in dem sie die schweren Zeiten überdauern wollten.

Ans Licht heraus krochen die Karrieristen, die sich schnell orientierten und ausrechneten, was für sie persönlich am vorteilhaftesten war. Sie verseuchten die Partei mit ihrer Heuchelei und ihrem Streben nach Eigennutz und Svatopluk konnte nichts dagegen tun. Es gab keine echte Überzeugung mehr, überall nur Lügen und Vortäuschung. Wo sollte das hinführen? Und zu Hause war in der Zwischenzeit aus dem süßen und neugierigen Mädelchen Blanka ein ziemlich wildes Fräulein geworden. Die Veränderung kam mit dem Alter, das war Svatopluk klar, aber einen Anteil an ihrer Naseweisheit hatte sicher auch die zu tolerante Erziehung. Sie liebten sie einfach zu sehr, und das war das Resultat.

Musik war Svatopluks Leidenschaft, trotzdem wäre ihm lieber, sie würde sich ein praktischeres Studium aussuchen und nur zur Freude Klavier spielen. Er verurteilte die freie Atmosphäre, die am Konservatorium herrschte, ihm gefiel nicht, dass sich die jungen Leute nach dem Unterricht in Parks trafen, auf Bänken herumsaßen und auf der Gitarre klimperten. Die Schande, wenn die Polizei ihre Ausweise kontrollierte und seine Tochter dabei wäre!

[…]

Die Kapelle, in der Blanka spielte, traf sich in einem kleinen Haus in einer Gartenkolonie zwischen zwei Stadtvierteln. Der Unterschlupf gehörte den Eltern eines der Bandmitglieder, Josef Prach, genannt José, der sich aufgrund des Postens als Besitzer des Probenraums Chef der Gruppe nannte. Über den Namen der Gruppe verhandelten sie noch. Ungelöst waren auch eine Menge anderer Sachen, viel wurde über das Repertoire diskutiert, aber eins war klar. Zuerst würden sie Lieder spielen, die gerade der Hit waren, um das Vorspiel zu bestehen und auf Unterhaltungsabenden ein bisschen Geld zu machen. Allmählich würden sie eigene Lieder ins Programm aufnehmen. Sie machen sich einen Namen, einen eigenen Stil und mit der Zeit schaffen sie es ins Radio und dann auch ins Fernsehen. Und sie werden reich und berühmt. Also im Rahmen der Möglichkeiten.

Blanka schien der Plan gar nicht so unverwirklichbar, denn Elvis Vater war Kameramann und arbeitete beim Fernsehen. Elvis hieß natürlich in Wahrheit nicht Elvis, sondern Evžen Zajíc, aber er musste sich einfach umbenennen, denn mit dem Namen Evžen kommt man im Showbusiness nicht weit. Auch der Gitarrist Charlie heiß eigentlich Karel, aber hinsichtlich der Tatsache, dass schon ein Karel – nämlich Karel Gott – im Fernsehen auftrat, musste er sich einen anderen Namen aussuchen, damit die Leute sie nicht verwechselten, weil sie sich außerdem auch ziemlich ähnelten.

[…]

Zu Hause mochte Svatopluk seine Ruhe, erst recht, weil er davon in dem Betrieb, den er leitete, immer weniger hatte.

Wenn er seine Untergebenen zu Diskussionen über seine Vorschläge aufforderte, sagte niemand jemals etwas Grundlegendes. Alle nickten nur, egal was er sagte, und hinter seinem Rücken zweifelten sie seine Beschlüsse an. Es fanden sich auch ein paar, die heimlich zu ihm kamen und hinterlistig meldeten, wer der Auffassung war, die Probleme besser als der Genosse Direktor lösen zu können. Die Raffinierten verquatschten sich scheinbar beim Mittagessen, bei einem zufälligen Treffen im Flur, im Auto…

Früher erstickte Svatopluk alle Denunziationen im Keim, ließ den Betreffenden nicht ausreden, oder tat so, als verstünde er nicht das Wesen des Gesagten, aber mit der Zeit wurde ihm bewusst, dass so, wie die Genossen es ihm zutrugen, sie auch höheren Stellen Dinge über ihn zutrugen. Vielleicht beschwerten sie sich, dass er nicht eingriff, keine Maßnahmen gegen Leute ergriff, die den guten Namen des Betriebs beschädigten und damit die Grundlagen des sozialistischen Systems untergruben. Angst begann sich in seine Gedanken zu schleichen. Er fürchtete nicht um sich, sondern um die Zukunft seiner Familie. Er wollte keine überflüssigen Fehler machen und damit Evas Arbeit oder Blankas Zukunft bedrohen.

Er konnte das Gerede nicht aus dem Kopf bekommen, das in verschiedenen Anzeichen in den letzten Tagen zu ihm drang. Andeutungen darüber, dass der Sohn von Jirka Hedra nicht aus dem Urlaub in Jugoslawien zurückgekommen sei. Er soll mit seiner Frau nach Österreich abgehauen sein. Svatopluk hoffte, es mögen nur Vermutungen sein. Jirka war nicht nur sein ökonomischer Stellvertreter sondern auch ein Freund. Sie kannten sich schon lange. Jirka war sogar sein Trauzeuge. Jirka gehörte zur alten Garde, er war einer der wenigen Menschen, denen Svatopluk grenzenlos vertraute. Und jetzt das!

Wenn es sich herausstellt, dass die Gerüchte stimmen, wird Jirka die Stellvertreterfunktion aufgeben müssen. So sind die Regeln. Nicht, dass die Partei sich an der Familie des Schuldigen rächen würde, das auf keinen Fall. Wenn aber jemand abhaute, hieß das, dass in der Familie etwas nicht in Ordnung war. Die betreffende Person war ein fauler Apfel, an dem sich immer auch alle anderen Früchte ansteckten, die das Pech hatten, in seiner Nähe zu sein.

Aber er kannte Jirka Hedra, er wusste, dass das ein zuverlässiger Genosse war. Wie konnte ihm so etwas passieren?

[…]

Nach Jirka Hedras Tod setzten Svatopluk Müdigkeit und ein Gefühl von Sinnlosigkeit zu. Zum ersten Mal im Leben rechnete er aus, wie viele Jahre noch blieben, bevor er in Rente gehen konnte. Die Funktion des Direktors eines volkseigenen Betriebs belastete ihn durch ihre Ausweglosigkeit. Er sah keine konkreten Ergebnisse, sondern nur Tabellen und Diagramme zur Planerfüllung. Die Arbeit, die für ihn immer wichtig war und bedeutete, dass er nützlich war, verlor jeglichen Reiz.

Noch mehr als zehn Jahre. Würde er so lange durchhalten? Abends vor dem Schlafen begann er davon zu träumen, dass er kündigt, sich eine weniger verantwortungsvolle und belastende Stelle sucht und irgendwohin aufs Land zieht. Wenn sie die Wohnung in Prag verkaufen, könnten sie sich auf dem Land, irgendwo am Wald, ein Haus anschaffen…

[…]

 

9 / Tochter

Ich war glücklich – fast glücklich. Ich hatte das Gefühl, dass alle Zahnräder in der Maschine des Lebens ineinandergriffen und mich in regelmäßiger Bewegung voranschoben. Und gerade wegen dieser Bewegung war mein Glück nicht grenzenlos. Viel zu bewusst war mir, dass die Zeit verging, und ich trübte mir die Gegenwart mit Befürchtungen, was kommen würde. Irgendwo aus den Tiefen des Gedächtnisses – ich konnte nicht erkennen, ob meines eigenen oder dem meiner Vorfahren – tauchte eine Warnung auf, ich solle mich nicht der Sorglosigkeit hingeben und mich an sie gewöhnen. So schön wie jetzt war das Leben noch nie und bald passiert sicher etwas, das mich auf die Erde zurückholt.

Es war Vater, der vorschlug, dass Martin und ich in der kleinen Villa wohnen bleiben könnten. Ich war nicht so eingebildet, mir einzureden, er wolle mich in der Nähe haben. Wenn er nicht musste, sprach er mich nicht einmal an, und wenn es zufällig passierte, dass wir allein in der Küche oder dem Wohnzimmer zurückblieben, wurde er sichtlich nervös, steckte die Nase tief in die Zeitung oder ging einfach fort. Mein kalter Vater fand erstaunlicherweise Gefallen an Martin. Vielleicht wollte er einen Sohn haben, und deswegen bin ich so eine Enttäuschung für ihn, überlegte ich. In Martin hatte er ihn gefunden.

[…]

10 / Vater

[…]

Mit dem heutigen Auftritt war Blanka zufrieden. In den zwei Jahren, die sie zusammen in der Kapelle spielten, hatten sie sich ganz gut zusammen eingespielt, im Saal der Kneipe war die Akustik erträglich, und nicht einmal Igor hatte bis jetzt etwas verdorben. Wenn es drinnen nur nicht so verqualmt wäre. Sie konnte kaum erwarten, dass die Abende wärmer würden und man draußen spielen konnte, unter freiem Himmel. Nicht nur, dass der Zigarettenrauch in die Haare, die Kleider, die Haut einzieht, sodass er noch am nächsten Tag zu riechen ist, er ist auch noch schädlich für die Stimmbänder. Sie ging hinaus und atmete tief die kalte Nachtluft ein. Noch zwei Serien, dann vielleicht eine kurze Zugabe, die Sachen in den Lieferwagen und ab nach Hause.

Aus der Tür trat José mit dem Typen im Sakko und dem offenen Hemdkragen.

„Blanka, hier will dich jemand sprechen.“

Sie sah den Mann im dunklen Sakko an. Er gehörte ganz sicher nicht zu den üblichen Besuchern von Tanzabenden, auf denen ihre Kapelle spielte. Vom Alter her war er Vaters Generation näher als ihrer und er trug Markenjeans, was davon zeugte, dass er ins Ausland reiste oder Zugang zu Boni für Westwaren hatte.

„Worum geht’s?“, fragte sie etwas misstrauisch.

„Um die Zukunft“, antwortete anstelle Josés der Typ.

„Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Jan Robák.“

„Žáková.“ Blanka schüttelte ihm die Hand.

„Kann ich Sie zu einem Gläschen an die Bar einladen?“

Robák? Robák? Blanka überlegte, wo sie diesen Namen gehört hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, aber nach Josés zu angenehmem Gesichtsausdruck zu urteilen, war er jemand, der für die Zukunft ihrer Gruppe wichtig war.

„Ich müsste schon singen gehen“, unsicher sah sie José an. „Und ich kann nichts trinken, ich fahre.“

„Geh nur“, mischte sich José ins Gespräch. „Wir spielen ein paar Lieder ohne dich. Und trink ruhig ein Gläschen. Ich übernehme das Fahren heute für dich.“

Er sah sie so an, dass sie begriff, dass sie keine Einwände erheben und einfach gehen sollte. In Gedanken bereitete sie sich vor, ihm das heimzuzahlen, wenn Robák aufdringlich würde, aber sie lächelte und sagte: „Schön, dann nehme ich einen Saft mit Wodka.“

José ging zufrieden zurück aufs Podium und Blanka setzte sich mit Robák an die Bar. Er bestellte für sie einen Wodka und Saft, aber er selbst nahm nur Limonade.

„Für mich übernimmt niemand das Fahren“, sagte er und deutete mit dem Glas einen Toast an. Blanka lächelte, sie hoffte, verständnisvoll, und trank vorsichtig.

„Ich beobachte Ihre Kapelle schon einige Zeit“, begann Jan Robák. „Ich habe mir die Demobänder angehört und muss sagen, dass die gar nicht schlecht sind.“

Was will der, dachte Blanka und wurde hellhörig.

Robák schaute ins Leere und fügte hinzu: „Die andere Sängerin ist nicht so besonders, aber Sie sind ausgezeichnet. Soweit ich weiß, haben Sie eine musikalische Ausbildung, ja?“

Blanka begann es ein bisschen unangenehm zu werden.

„Ja, ich beende bald das Konservatorium.“

„Die meisten Ihrer Sachen schreibt José, oder?“

Blankas Blick flog zur improvisierten Bühne. Über die Köpfe der Tänzer hinweg sah sie, dass José zu ihnen herschaute.

„Im Grunde geht es mir darum“, sagte Robák, bevor sie antworten konnte. „Sie und José sind um eine Klasse besser als der Rest der Kapelle. Ich suche im Moment neue Leute für meine Kapelle und würde Sie zwei nehmen. Nur Sie zwei.“

Sie schaute ihn an. Sie erinnerte sich jetzt, woher sie ihn kannte. Jan Robák war Chef der Musikgruppe, die in der letzten Zeit ziemlich viel im Radio gespielt wurde und sogar ein paar Mal in Unterhaltungssendungen im Fernsehen auftauchte. Sie spielten beliebte Popmusik, und es schien, dass das Interesse an ihnen stieg und sie auf einem guten Weg waren.

Robák hielt ihr Schweigen offensichtlich für Interesse.

„Ich verlange von meinen Musikern vollen Einsatz, wofür ich anständig zahle.“ Er schwieg eine Weile. „Das hieße natürlich, dass Sie hier aufhören müssten.“

Blanka schaute wieder zum Podium.

„Was sagt José dazu?“

„Er ist einverstanden. Er wäre dumm, wenn er eine solche Chance ausschlagen würde.“

Blanka hatte Lust ihn anzuschreien, er möge zum Teufel gehen, aber ihr wurde klar, dass das Einzige, was sie jetzt tun konnte, war, Zeit zu gewinnen. Sie würde mit José reden und bestimmt würden sie eine vernünftige Lösung finden.

„Ich werde darüber nachdenken“, sagte sie.

„Denken Sie schnell nach. Ich hätte Sie zwar gern in meiner Gruppe, aber Sie sind nicht die einzige gute Sängerin.“ Jan Robák schob ihr eine Karte mit einer Telefonnummer zu, erhob sich und ging.

Eingebildeter Idiot, dachte Blanka. Sie blieb an der Bar sitzen, bestellte sich noch einen Saft mit Wodka und trank langsam davon. Die Gruppe spielte zwei weitere Titel und José schob sich auf den Stuhl neben ihr.

„Und?“

„Was und? Das kannst du doch nicht ernst meinen. Wir proben jetzt mehr als zwei Jahre, stellen unser eigenes Repertoire zusammen, suchen Kontakte, und wenn es endlich anfängt zu laufen, schmeißen wir alles hin, um für so einen Blödmann den Hampelmann zu machen?“

„Du willst doch vom Gesang leben, oder?“

[…]

An diesem Abend spielten sie keine Zugabe. Charlie übermannte gerechter Zorn, er streckte José mit einem rechten Haken nieder, der fiel vom Barhocker, weil er den Angriff nicht erwartet hatte, und schlug sich am harten Fußboden den Kopf auf. Igor brachte ihn zum Lieferwagen, legte ihn auf eine alte Decke, damit er nichts vollblutete. Der Rest der Truppe spielte die letzten Stücke ohne José. Qualität wurde durch Lautstärke ersetzt, und weil die meisten Besucher der Tanzveranstaltung sowieso schon ziemlich angeschlagen waren, bemerkte niemand, dass etwas nicht stimmte.

[…]

„Fahren wir los“, sagte Charlie und zwängte sich auf den Beifahrersitz.

„Ich kann nicht fahren, ich habe getrunken“, sagte Blanka.

„Was soll der Scheiß“, schrie Charlie. „Wir haben alle getrunken. Wie du siehst, kann José nicht fahren. Also setz dich freundlicherweise ans Steuer, damit wir endlich in dieses blöde Krankenhaus kommen. Sollte uns die Polizei anhalten, sagen wir, dass wir José in die Notaufnahme bringen.“

Blanka stieg ins Auto, schlug erbost die Tür zu und drehte den Schlüssel im Zündschloss um. Eine Weile fuhren sie schweigend, nur José stöhnte manchmal, wenn sie auf einen Stein fuhren oder in ein Schlagloch, von denen es auf der Kreisstraße genug gab.

Die Frontscheinwerfer beleuchteten die Straße, die zwischen Feldern und Wiesen entlangführte. Dahinter konnte man in der Ferne die Dörfer nur erahnen, Dörfer, die dem ähnelten, aus dem sie gerade losgefahren waren. Nach zwei Kilometern begann die Straße anzusteigen und war jetzt zu beiden Seiten von Mischwald umgeben, der von der Straße durch einen flachen, mit Gebüsch bewachsenen Graben getrennt war. Die Baumstämme traten aus der Dunkelheit heraus und verloren sich wieder in ihr. Alles lag regungslos und seltsam erstarrt da, abwartend.

Blanka hatte das Bedürfnis, die lastende Stille, die aus dem Wald ins Auto drang, zu unterbrechen.

„Wenn du ein bisschen nachgedacht und nicht gleich zugeschlagen hättest, hätte das überhaupt nicht passieren müssen“, schickte sie verdrossen in Charlies Richtung.

Gereizt drehte er sich ihr zu.

„Wie bitte? Also bin ich auch noch Schuld. Und du hast zufällig nicht vergessen, dass uns unser Freund José gerade heute verraten hat, in großem Stile. Einfach auf uns geschissen.“

„Vor allem hat er uns so weit gebracht. Wo wären wir ohne ihn?“ Blanka wusste selbst nicht, warum sie sich für José einsetzte. „Er hat den Probenraum aufgetrieben, eine Menge Auftritte klargemacht, schreibt die Lieder…“

„Und beklaut uns.“ Charlie griff in die Tasche, zog Geldscheine aus dem Umschlag, den er von den Veranstaltern bekommen hatte, und hielt sie Blanka vor die Augen. „Zähl das mal. Er selbst hat jedes Mal die Hälfte eingesteckt und den Rest unter uns aufgeteilt. Und der arme Igor ist fast für umsonst mit uns gefahren.“

„Mach keinen Quatsch, ich muss fahren“, stieß Blanka die Hand weg, aber Charlie war in Rage.

„Los zähl schon, zähl schon, wenn du so für ihn ein…“

Auf der rechten Seite der unbeleuchteten Kreisstraße tauchte eine Gestalt auf einem Fahrrad auf.

[…]

 

Aus dem Tschechischen von Raija Hauck