1

 

Liliana Liebeskindová bekommt einfach kein Kind.

Das behält sie nicht für sich, und so werden ihr eine Menge Ratschläge von ihren erfahrenen Freundinnen zuteil. Einige befinden sie für zu mager, andere empfehlen ihr, ein Stück rohe Leber zu essen. Liliana schlendert wie zufällig durch die Küche, und als die Köchin nicht hinschaut, zwackt sie sich ein kleines Stück von dem blutigen Batzen ab, dann – Jüdin hin oder her – kaut sie und schluckt.

Jeden Monat stellt sich bei Liliana mit eiserner Regelmäßigkeit die Menstruation ein. Diese Angelegenheit, unter allen Umständen zu bluten, wird sie an ihre Tochter vererben.

1899, als Liliana den Zuckerfabrikanten Abrahám Liebeskind heiratet, liegen ihr Gedanken an eine Tochter noch fern. So in ihr Korsett eingeschnürt und mit dem Arm voll langstieliger Lilien. Die Hochzeit findet im Februar statt und die Gewächshausblumen sind steifgefroren, der Pollen rieselt aus den Blüten und Lilianas Handschuhe werden davon ganz gelb.

Die Trauung ist jüdisch, obwohl weder die Familie Heckel noch die Familie Liebeskind, von der lediglich der Bräutigam und sein Vater samt einer Reihe von Tanten anwesend sind, besonders oft in die Synagoge gehen. Die Brautleute, die sich unter den Baldachin gestellt haben und die Segenssprüche vernehmen, sind nicht bei der Sache. Abrahám denkt an den Jahresabschluss seiner Buchhaltung und Liliana an den Krug, der am Morgen gesprungen ist, nachdem ihr Dienstmädchen Herta heißes Wasser hineingegossen hatte.

Die Begebenheiten jenes Tages laufen wie folgt ab: Liliana erwacht, Herta bringt Wasser, der Porzellankrug springt. Um Hertas Füße in den festen, praktischen Schuhen herum ergießt sich ein Meer aus Wasser. Liliana hilft dem Dienstmädchen beim Aufwischen. Mit Morgenmantel und Samtpantoffeln bekleidet isst die Braut danach zum Frühstück Ei und Weißbrot. Anschließend wird das Korsett an ihrem Körper verankert, unter ihre Achseln werden Schweißpolster geschoben, über den Kopf legt die Mutter ihr den Schleier. Liliana schluckt ein paarmal, um sich zu überzeugen, dass sie nicht weinen muss. In Wirklichkeit ist sie neugierig darauf, was kommt. Sie nimmt die Lilien in den Arm und wundert sich, wie kalt sie sind.

Nun ist die Synagoge an der Reihe.

Der lispelnde Rabbiner und die schluchzenden Tanten.

Das von der Schuhsohle zermalmte Weinglas – als hätte es an jenem Tag nicht genug Scherben gegeben –, die Glückwünsche und der nervenaufreibende Abstecher ins Fotoatelier.

Der Hochzeitsschmaus.

Auf den Tischen aus Holland importierte Blumen, Maiglöckchen, Rosen, Freesien. Hohe Schlagsahneberge, Eiscreme.

Liliana spricht mit ihrem neuen Mann über den geplatzten Krug. Abrahám, fünf Jahre älter als sie, vermutet, dass das Porzellan einen Materialfehler gehabt haben muss.

Über Porzellan sprechen sie auch am Abend, im Schlafzimmer.

Thun, Rosenthal, Sèvres.

Abraháms Hand auf Lilianas Brust.

Die Brustwarze im Mund.

Das Gespräch über Glasuren hilft ihnen, ihre Verlegenheit zu überwinden. Abrahám ist rücksichtsvoll und Liliana entgegenkommend, etwas außer Atem sagt sie etwas über Biskuitporzellan und Rokokofigürchen und dabei lässt sie ihn in sich eindringen.

Schon bald werden sie zu leidenschaftlichen Liebenden, und dennoch wird Liliana einfach nicht schwanger.

Sie beklagt sich bei Bekannten.

Sie schluckt ein blutiges Stück Leber, leert eine Flasche Wein, bleibt nach dem Liebesakt mit hochgelegten Beinen liegen. Sie hört auf zu reiten, konsultiert einen Arzt und eine Kartenlegerin, die ihr prophezeit, sie werde mit fünfunddreißig vier Söhnen das Leben geschenkt haben.

Bloß ist Liliana dreiundzwanzig, und das Kind will sie jetzt.

Die Mutter sagt ihr, das Problem sei das Wasser, das sie trinkt, und Abrahám lässt einen neuen Brunnen graben.

Nichts hilft. […]

 

2

 

Die Liebe, die Liliana für ihre Tochter empfindet, ist so stark, dass sie manchmal Panik bekommt.

Als ob die ganze Welt zu diesem kleinen Gesicht kondensiert wäre, geht Lilianas Sonne auf, wenn das Kind die Augen öffnet. Sie springt nachts aus dem Bett und geht zum Baby, in ihrem Seidenmorgenrock setzt sie sich in den Sessel, am Fenster leuchtet schwach eine Lampe. Zuzana trinkt mit nicht versiegender Lust, die kleine Faust auf Lilianas Brust abgelegt, sie saugt, bis sie Liliana komplett leergetrunken hat. Über ihrer Wiege hängt ein flauschiges Wollkaninchen; wenn man an einer Schnur zieht, fängt es an zu spielen. Liliana legt ihr Kind schlafen und denkt sich zu der Melodie Worte aus, sie wischt Zuzana den Mund ab, in dessen Winkeln die Milch eintrocknet, und streicht über den Kopf mit dem weichen Scheitel.

Das Kind ist von allen Seiten mit Liebe umgeben wie mit einem Reifen, außer Mutter und Vater lieben sie Lilianas Eltern und Leopold, Abraháms Vater.

Abrahám Liebeskind eilt jeden Tag aus dem Büro nach Hause, um mit seiner Tochter zusammen sein zu können, die Schwiegereltern kommen jeden zweiten Tag aus Prag.

Gleich einem zauberkräftigen Talisman geht Zuzana von Hand zu Hand, das gefällt ihr nicht, sie verzieht das Gesicht und schreit. Liliana legt sie in den Kinderwagen und fährt mit ihr zur Baustelle, wo ein Stück hinter der Zuckerfabrik ein neues Haus emporwächst. Liliana schützt ihr Gesicht mit einem Sonnenschirm und geht zwischen den Bauarbeitern hindurch. Abrahám sitzt in Arbeitskleidung auf einem niedrigen Mäuerchen und schaut mit dem Meister die Pläne durch.

Die Villa wird zwei Stockwerke haben und einen Balkon, Böden aus amerikanischer Eiche und in den Bädern eine Wandverkleidung aus italienischem Marmor. Der Bereich um das Haus herum wird hergerichtet und mit dem bestehenden Park und dem Obstgarten zusammengelegt.

Liliana wünscht sich sehnlichst einen Seerosenteich und bekommt ihn auch tatsächlich, Abrahám lässt an ihm eine Weide pflanzen.

 

3

 

In den ersten sechs Jahre von Zuzanas Leben ist alles rund und sanft.

Alles ist weich, die Brust und der Bauch ihrer Mutter, der Bart ihres Vaters. Ihr Umfeld ist klar umrissen und sicher, nirgends tritt daraus irgendetwas hervor, was Zuzana ein Leid zufügen könnte, und sie selbst hat einen energischen, furchtlosen Zugriff auf die Welt. Die Milch, die die Mutter ihr gibt, ist süß und lauwarm, der Vater bringt ihr von der Arbeit Bonbons mit.

Zuzana wird kräftiger und nimmt zu. Mit sieben Monaten hat sie einen für den kleinen Körper viel zu schweren Kopf, mit eineinhalb Jahren kommen die Proportionen ins Gleichgewicht. Sie lernt laufen, aus Mutters Umarmung direkt in Vaters Hände. Sie greift kraftvoll zu, packt Abrahám am Bart und zieht. Dreht sich um und marschiert schwankend zurück zu Liliana. Der presst sie die Nase in die Achselhöhle, und Liliana hebt sie hoch und trägt sie ans Fenster, im Hof ist gerade der Wagen mit den Möbeln vorgefahren, die die Liebenskinds ins neue Haus mitnehmen.

Zuzana spricht lange nicht. Sie verständigt sich mit einfachen Geräuschen. Zeigt. Sie hat lebendige und ausdrucksvolle Augen, fast schwarz, und einen großen Mund, in dem im Verlauf von zwei Jahren scharfe weiße Zähnchen erscheinen.

Erst als die fest in Zuzanas Zahnfleisch sitzen, beginnt sie zu sprechen, und ihre Mutter ist erleichtert; die ersten Sätze, die Zuzana konstruiert, sind ungelenk, als würde sie sie aus einer anderen Sprache übersetzen; etwas später dann ergreift sie jedoch die Worte gründlich und mit Verve, sie spricht und singt, spielt mit ihrer Stimme, rezitiert.

Zu Weihnachten 1925 lässt Abrahám Liebeskind im Salon eine große Fichte aufstellen. Es ist das letzte Weihnachtsfest in der alten Wohnung, das nächste würden sie bereits in der Villa verleben.

Obwohl der Zuckerfabrikant der Herkunft nach Jude ist, tut er sich nicht schwer damit, die Geburt des Erlösers zu begehen, viele christliche Feiertage sind ihm näher als die jüdischen. Weihnachten ist in diesem Jahr festlicher als früher, seit Kriegsende sind sieben Jahre vergangen und die Zuckerfabrik floriert, Abrahám Liebeskind hat hervorragende Ingenieure unter Vertrag und die bauen ihm noch bessere Maschinen, Liebeskinds Zucker ist ein Begriff, er wird ins Ausland exportiert, alle Sorten: Würfel-, Kristall- und Puderzucker; die Herstellung von Zuckerhüten hat er vor einem Jahr eingestellt.

Das Jahrhundert geht ins zweite Viertel über und Abrahám hofft, dass es genauso erfolgreich wird wie das erste. Seine Frau sitzt am Klavier und blättert in den Noten, sie will etwas spielen, er selbst gönnt sich eine Zigarre und wartete auf Lilianas Eltern und das gemeinsame Abendessen. Zuzana, knapp eineinhalb Jahre alt, staunt den Baum an. Sie trägt ein weißes Kleidchen und im Haar eine Schleife. Während sie um die Fichter herumgeht und etwas vor sich hin flüstert, schießt plötzlich ihre Hand hervor und reißt eine Weihnachtskugel ab. Sie steckt sie sich in den Mund und beißt zu, das hauchdünne Glas splittert und übers Kinn rinnt Blut. Abrahám rennt zu ihr, aber Liliana kniet schon neben ihrer Tochter, hält ihr den Mund auf, sammelt die Scherben heraus und legt sie in ein Taschentuch. Abrahám ist überrascht, dass Zuzana nicht weint, den Blick auf einen Punkt oberhalb ihrer Mutter gerichtet, lässt sie sich geduldig verarzten, spuckt gehorsam blutigen Speichel aus und streckt die Zunge heraus, damit die Mutter sie untersuchen kann.

Aus dem Ganzen wird eine Anekdote zur Belustigung von Gesellschaften, das Kind und die Scherben, nichts Ernstes, nur ein paar Tropfen Blut, aber Abrahám kann Zuzanas Augen nie wieder vergessen, hart und schimmernd, ohne Reue.

In Zuzanas Zahnfleisch bleibt eine Scherbe stecken, mit der Zeit kapselt sie sich ab und wächst ein; hin und wieder stößt Zuzana mit der Zunge dagegen, der Schmerz fährt ihr durch den ganzen Körper und sie spürt, dass sie am Leben ist; immer wird sie diese Erinnerung an ihre Kindheit gleichzeitig lieben und hassen. […]

 

9

 

[…] Am Abend blättert Zuzana in einem Bilderbuch, sie legt sich nicht hin, bis sie nicht gefunden hat, was sie sucht.

Die Haare von Prinzessin Goldhaar haben dieselbe Farbe wie die von Hanuš.

Unbegreiflich.

Zuzana vertieft sich in das Bild. Streicht mit der Fingerkuppe darüber hinweg.

Hanuš hat Licht in seinen Haaren.

Geht das, dass ein Junge Haare hat wie eine Prinzessin?

Sie fragt Liliana danach. Die nimmt eine Bürste in die Hand und fängt an, Zuzanas Haar zu bürsten. Einmal, das ist schon lange her, war sie Hanuš’ Mutter begegnet. Sie hatte genauso goldenes Haar wie ihr Sohn. Zuzana lauscht gebannt, als Liliana erläutert, dass Hanuš sein Haar offensichtlich geerbt hat.

Und ich?

Die Mutter hört mit dem Bürsten auf und schaut ihre Tochter fragend an.

Was ich geerbt habe, will Zuzana wissen.

Liliana lächelt. Sie spreizt Daumen und Zeigefinger.

Schau, sagt sie und zeigt auf eine kleine Sommersprosse in der Hautfalte. Zuzana macht ihr die Handbewegung nach und stellt fest, dass sie das Muttermal an der gleichen Stelle hat.

Hat Papa das auch?

Liliana schüttelt den Kopf.

Das ist jetzt unser Geheimnis, entscheidet Zuzana.

Das Buch mit Prinzessin Goldhaar lässt sie offen liegen. Am nächsten Morgen schaut sie es sich gleich nach dem Aufwachen noch einmal an.

Hanuš hebt sich nun für sie von der Welt um sie herum ab und sie kann ihn nicht wieder vergessen.

 

10

 

Zuzana findet bald heraus, dass Hanuš seinen Vater regelmäßig im Buchhaltungsbüro besuchen kommt.

Manchmal spielt er auf dem Hof der Zuckerfabrik, er tritt gegen einen Ball oder versucht, mit einem Stein einen Kreis zu treffen, den er aus Holzklötzchen gelegt hat. Manchmal schließt sich ihm noch ein anderer Junge an, der Sohn des werkseigenen Automechanikers.

Zuzana beobachtet sie aus dem Garten heraus, neugierig und schüchtern; wenn sie im Eifer des Gefechts anfangen zu schreien, durchfährt sie ein Zittern und am liebsten würde sie sich zu ihnen gesellen.

Es hat geregnet.

Der Kies auf dem Boden ist nass. Hanuš und sein Freund haben kurze Hosen an, sie kauern neben einer großen Pfütze und stochern mit einem Stöckchen darin herum. Sie haben einen Frosch gefunden, eine Kröte. Das Tier ist starr vor Entsetzen, bläst die Backen auf. Zuzana stellt sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Das Gesicht presst sie gegen den Zaun. Sie beobachtet die Köpfe der beiden Jungen, Hanuš’ Goldlocken und die kurzen schwarzen Stoppeln seines Freundes.

Hanuš stößt mit dem Stock die Kröte an und die macht einen vorsichtigen Schritt. Hanuš pfeift und Zuzana beißt sich auf die Lippen. Die Neugier hat gewonnen. Sie öffnet das Gartentor und rennt zu den Jungen hin. Hockt sich neben sie. Die Kröte ist inzwischen wieder erstarrt, sie erinnert an einen braun geäderten Stein.

Ich bring sie in den Garten, sagt Zuzana.

Sie ekelt sich, ist jedoch bereit, das zu überwinden. Sie streckt die Hand nach dem Reptil aus, aber Hanuš’ Freund stoppt sie. Er erklärt ihr, dass Krötenhaut von Warzen mit einer brennenden Flüssigkeit bedeckt ist. Zuzana hat in ihrer Schürze ein Taschentuch. Das reicht sie Hanuš und der wickelt das Tier vorsichtig darin ein. Dann nimmt er die Kröte in die Hand und steht auf. Alle drei gehen zum Garten, der die Liebeskind-Villa umgibt. Vorm Gartentor bleiben die beiden Jungen stehen. Sie trauen sich nicht hinein. Die Kröte in dem weißen Taschentuch sträubt sich. Zuzana hängt sich ans Tor und schwingt es auf.

Kommt rein, ruft sie, und die Jungen gehorchen ihr, als Erster kommt Hanuš, der inzwischen spürt, was für ein brennender Schleim vom Rücken der Kröte durch das dünne Leinen hindurchsickert.

Hanuš hinterher kommt vorsichtig sein Freund; Jan, sagt er, als Zuzana ihn nach seinem Namen fragt, und wird dabei rot, denn das Mädchen mustert ihn intensiv, ohne mit der Wimper zu zucken.

Sie lassen die Kröte im Gras frei und warten darauf, dass sie sich bewegt. Nach einiger Zeit langweilt sie das. Den Jungen gefällt es im Garten nicht besonders, hier gibt es gepflegte Beete und mit Sand bestreute Wege, unter einem Baum steht eine weiße Bank und die Beine und Lehnen der Stühle im Pavillon sind zu seltsamen Formen gebogen.

Wir gehen, sagt Hanuš und rennt wieder hinaus.

Seine Handflächen brennen, er spuckt hinein und reibt sie an den Hosenbeinen ab. Jan rennt ihm hinterher und als dritte – Liebeskinds Tochter, die endlich aus der Welt der Erwachsenen in die Welt der Kinder übergewechselt ist, sie hat die Arme ihrer Eltern und der Dienstmädchen in den gebügelten Schürzen verlassen und sich hinausgestürzt, dem Abenteuer entgegen; mit weit aufgerissenen Augen spielt sie mit den Jungen Ball und Fangen, bis Liliana auf den Balkon tritt und einen Schreck bekommt, der Fabrikhof ist voller Gefahren und Zuzana tobt dort herum, dreckverschmiert und glücklich, sie schreit und kreischt.

Liliana spürt, wie zufrieden ihre Tochter ist, als wäre das Gefühl ein warmer Luftstrom, der aus dem Hof aufsteigt und sie ganz umfängt, und sie muss alle Kraft zusammennehmen, um Zuzana zuzurufen: Wenn sie mit den Jungen spielen wolle, dann dürfe sie das lediglich im Garten.

 

11

 

Hanuš und Jan werden zu einem integralen Bestandteil von Zuzanas Leben, trotzdem zeigt sie die Sommersprosse, die sich zwischen den beiden Fingern versteckt, nur einem von beiden.

 

12

 

Es gibt so viel, was man erforschen muss.

Es führt kein Weg daran vorbei, herauszufinden, welcher Baum das süßeste Obst gibt und bei welchem die Äste so angeordnet sind, dass man bis ganz hinauf klettern kann, bis in die Krone.

Unter dunkelgrünen Blättern werden die Erdbeeren reif, die Möhren, die im Küchengarten wachsen, sind klein und knacken zwischen den Zähnen. In einer Gartenecke ist ein Ameisenhügel, Zuzana und die Jungen legen Zucker darauf und beobachten die Ameisen, wie sie darüber hinwegkrabbeln.

Im Gartenpavillon nehmen sie einen Imbiss. Das Dienstmädchen hat kalte Hähnchenstücke gebracht, Kakao und einen Napfkuchen. Sowohl Hanuš als auch Jan nehmen sich mehrmals einen Nachschlag. Der Kakao ist dick, er erinnert an Schokolade.

Nach dem Essen lassen sich die drei ins Gras fallen. Die Jungen erzählen Zuzana von der Schule. Sie ist neidisch. Ihre Eltern hatten ihr erklärt, dass sie nicht in die Schule gehen werde, sie bekäme einen Privatlehrer.

Die Spiele gehen den ganzen Sommer weiter. […]

 

102

 

Alles in Auschwitz ist rechtwinklig.

Es gibt hier nichts Abgerundetes, nichts Erfreuliches, jedes Ding hat seinen Platz, seine Spalte, seine Nummer.

Sie lassen Zuzana ihre Kleidung ablegen und entlausen sie, dann bekommt sie eine Spritze, von der sie behaupten, dass Vitamine darin seien. Sie erhält neue Sachen, einen abgetragenen Rock, ein Herrenhemd und einen löchrigen Mantel. Sie schubsen sie vor einen Haufen Schuhe und weisen sie an, sich welche auszusuchen. Es ist schwierig, ein Paar zu finden, das zueinander passt. Zuzana rührt sich nicht. Eine unbekannte Frau drückt ihr Winterschuhe mit Pelzbesatz in die Hände.

Die zieht Zuzana an, sie sind zu eng, aber sie sagt nichts.

Der Block mit der Bezeichnung 10 a ist ein flaches zweistöckiges Gebäude, bestimmt für Frauen, die sich medizinischen Versuchen unterziehen, und Zuzana wird hier fast ein ganzes Jahr verbringen.

Im Obergeschoss sind zwei große Räume, im Erdgeschoss die ewig verstopften Toiletten, mehrere Behandlungszimmer, ein Operationssaal, Zimmer für die Krankenschwestern und die SS-Wachleute sowie Büros.

Der Raum, in den sie Zuzana bringen, wird von einer Stubenältesten kommandiert. Sie heißt Eliza Babiak und ist Polin. Sie gehört zu den netteren und hat eine niedrige Zahl auf den Unterarm tätowiert, sie überlebt im Lager schon seit über zwei Jahren. Sie war schwanger hergekommen und hatte ihr Kind hier zur Welt gebracht; einer der Ärzte hatte es qualvoll verhungern lassen.

In der Stube, wo Zuzana wohnt, sind etwa hundert weitere Frauen. Im ganzen Block sind es ungefähr zweihundertfünfzig, die Anzahl schwankt.

Die Etagenbetten sind dreistöckig, die Fenster vergittert. Nachts ist es verboten, aufs Klo zu gehen. Die Notdurft erledigt man in einen kleinen Blecheimer. Verpflegung wird dreimal am Tag ausgegeben, die hier Inhaftierten bekommen nahrhafteres Essen als die restlichen Insassen. Sie haben keinerlei Tagesordnung, ihre einzige Pflicht ist es, zur Verfügung zu stehen.

Dafür, dass ihnen die Schikanen der Kapos erspart bleiben, können sie nähere Bekanntschaft mit Bauchtyphus, Phlegmonen und Pocken schließen.

Ärzte, die die Grenzen der Medizin austesten, gibt es hier mehrere, vom ziemlich jungen Schneider bis hin zum siebzigjährigen Voigt. Chefarzt ist Schenke, der mit Vorliebe Experimente zur Veränderung der Augenfarbe macht.

Jungwirth zieht Adern aus dem Bein eines jungen Mädchens und versucht sie, einer Greisin zu implantieren.

Hartmann verödet Eierstöcke.

Es gibt tausend und ein Ding, das die Frauen schlucken oder in ihren Blutkreislauf aufnehmen können.

Es werden Organe herausgenommen und Zähne gezogen.

Der Empfängnismechanismus wird erforscht, zahlreiche Unglückliche werden künstlich befruchtet und zu einer Zeit quillt das Gebäude vor Schwangeren fast über; falls ein Kind zur Welt kommt, wird es der Mutter sofort weggenommen.

In einigen Fällen wird der Frau der Fötus entnommen, wie seltenes Obst in Formaldehyd eingelegt und an eine der deutschen Universitäten verschickt.

Das ganze Lager ist ein riesenhafter Organismus, der genauso perfekt arbeitet wie Zuzanas Körper.

Er schluckt, verbrennt, scheidet aus.

Er hat seine eigenen Legenden und Untergrundbewegungen.

Unter allen Umständen ist es nötig, die Regeln einzuhalten.

Zuzanas Körper weigert sich, sich zu fügen, Haare und Nägel wachsen nach, das Loch im Augapfel, das Jungwirth ihr mit einer langen Nadel dort hineingestochen hatte, hat sich zusammengezogen, der Magen verarbeitet die Nahrung, die Lunge füllt sich mit Luft.

Obwohl die meisten Frauen im Lager ihre Menstruation verloren haben, bekommt Zuzana ihre Tage nach wie vor.

Du bist meine magische Jüdin, sagt Jungwirth und verzeichnet Zuzanas Blutungen sorgfältig im Kalender.

Achtundzwanzig Tage, verkündet er begeistert, nach dir könnte ich meine Uhr stellen. […]

 

115

 

Die Zuckerfabrik sieht ganz genauso aus wie zu der Zeit, als sie und ihr Vater sie verlassen haben.

Die hohe Mauer, das große Tor, die Lager, der Kalkofen und die Villa im Garten.

Zuzana steht an der Einfahrt, haucht in ihre Handflächen, dann geht sie hinein.

Unbekannte Gesichter, Maschinenlärm, mit Holzkisten beladene Lastwagen.

Niemand beachtet sie.

Das Verwaltungsgebäude, das eine neue Fassade braucht.

Von irgendwo ein Knall, die Sirene heult, Mittagszeit.

Die Pförtnerloge im Bürogebäude ist leer.

Der lange Flur, bröckelnder Putz, die Glastür zum Waschraum, durch die ein junger Mann herauskommt, er wischt sich die Hände an der Hose ab, streift sich schwarze Ärmelschoner über.

Zuzana lässt ihre Tasche fallen, sie blickt in das Gesicht, dass sie sich so viele Male im Lager vorgestellt hat, sie will etwas sagen, aber die Stimme gehorcht ihr nicht, nur das Herz schlägt wild, der Puls steigt ihr bis in die Kehle und sie gibt endlich ein leises Geräusch von sich, ein Winseln.

Hanuš blickt auf. Er schaut die alte Frau an, die am Ende des Flurs steht, sie kommt ihm bekannt vor, er macht ein paar Schritte und der Schock eist ihn am Boden fest, sein Magen krampft sich heftig zusammen.

Zuzana, sagt er und rennt zu ihr, schließt sie in die Arme und weint, die Fingernägel, unter die er die Nadeln gestochen hatte, schmerzen, er hat Angst zu bluten.

Er will sie nicht loslassen, umarmt sie und presst sie an sich, Muskel an Muskel, Fleisch an Fleisch, er stößt gegen ihre Knochen, sieht die grauen Strähnen in den dunklen Haaren.

Nimmt ihren Atem in den Mund.

Flüsternd entschuldigt er sich bei ihr und sie weiß nicht, wofür, sie atmet Hanuš’ Duft ein, aber weinen kann sie nicht, sie ist ausgedörrt wie Zunder und stellt voller Erstaunen fest, dass Hanuš einen anderen Körper hat, als an den sie gewöhnt war, er ist kräftig und gelenkig, hat helle Augen, gut genährte Wangen und feste Hände.

Hanuš nimmt sie mit zu sich ins Büro, und sie will auf einmal nichts als schlafen, die Sonne steht hoch am Himmel, sie jedoch fällt fast in Ohnmacht, sie schluckt den dickflüssigen Speichel und auf ihre Augen legt sich ein Schatten.

Hanuš versteht das nicht, aber er zeigt sich entgegenkommend, zieht das Rollo an der Tür herunter und schließt ab, hilft ihr, die Schuhe auszuziehen, und legt sie auf das Kanapee im hinteren Teil des Raums. Er deckt Zuzana mit seinem Staubmantel zu und zieht das Telefonkabel heraus.

Zuzana schläft sofort ein, sie liegt mit offenem Mund auf dem Kanapee, und er blickt in diese zahnlose Höhle hinein, aus seinem Schreibtisch holt er eine Flasche Selbstgebrannten und schenkt sich ein; lange sitzt er so da, mehrere Stunden, und trinkt; er weiß nicht, aus welcher Hölle Liebeskinds Tochter zurückgekommen ist, er ist jedoch entschlossen, sich um sie zu kümmern.

Er hat sie geliebt, als sie wunderschön war, vor Jahren, und er liebt sie jetzt, da sie nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Benommen vom Alkohol kauert er sich neben sie, fährt ihr mit den Fingerkuppen über die Haut, ganz leicht, um sie nicht zu wecken, liebkost er die Lippen, berührt die Schläfen. Dann hebt er ihre Tasche auf und stöbert darin herum, er findet ein paar Lumpen und eine amtlich aussehende Bescheinigung mit einem Stempel vom Roten Kreuz.

Konzentrationslager Auschwitz, liest er und denkt an den kurzen Film, den er im Kino gesehen hat, Massengräber, Krematorien und zentnerweise Löschkalk, dort also hatte sie sich herausgekämpft, sie war aus der Hölle selbst zurückgekehrt.

Jemand drückt die Klinke herunter und er zuckt zusammen, er kommt zu sich und geht ans Fenster, überlegt, ob auch Liebeskind wiederkäme und was er ihm sagen würde, die Zuckerfabrik ist bei zwanzig Prozent ihrer früheren Produktion, und geleitet wird sie von einem neu eingesetzten Verwaltungsrat. In dem sitzt auch Hanuš, und in der Brusttasche hat er einen Mitgliedsausweis der Kommunistischen Partei, auf dem die Tinte noch nicht trocken ist.

Er hat sich arrangiert, er ist clever.

Im Mai musste er ein paarmal zum Verhör, irgendwer hatte Anzeige gegen ihn erstattet, dass er mit den Deutschen kollaboriert hätte, und er zeigte ihnen, was er damals alles aus der Bank rausgeschleppt hatte, er hatte Überweisungen von deutschem Geld blockiert, gefälschte Konten angelegt, Fehler in der Buchhaltung gemacht.

Sein Vater, Jáchym Šmídberger, war nicht so leicht davongekommen, wegen Kollaboration hatte er ein paar Wochen gesessen, und wenn Hanuš sich nicht hinter ihn gestellt hätte, hätte es noch schlimmer ausgehen können. Šmídberger ist kollabiert, er schafft es nicht, eine neue Stelle zu finden, aus Not arbeitet er als Putzkraft auf dem Bahnhof von Holašovice und seinem Sohn erscheint diese Arbeit proletarisch genug.

Von der Zuckerfabrik war Hanuš schließlich zurückgeholt worden, er prüft jetzt die Schäden, die Nagy angerichtet hat, und bringt die Bücher in Ordnung; die Fabrik wird entweder verkauft oder auf die Aktionäre überführt, das wird man mit der Zeit dann sehen.

Damit, dass die Liebeskinds zurückkehren, hatte niemand gerechnet, er am allerwenigsten.

Er hatte Zuzana tief in sich begraben und war nur gelegentlich über sie gestolpert, jedes mit dem Gefühl, als würde ihm eine Klinge in den Körper fahren.

Und nun ist sie von den Toten auferstanden, schläft auf dem Kanapee in seinem Büro und er steht unentschlossen vor ihr, bereit dazu, sich ihrer anzunehmen und sie zu vereinnahmen, einer seiner abgestorbenen Bestandteile ist wieder zu sich gekommen, das Blut jagt wild durch seine Adern, sodass er kaum Luft kriegt und seine Urteilskraft einbüßt, er trinkt Schnaps und weiß, dass er Zuzana nie wieder weglässt. […]

 

117

 

Hanuš sagt, dass Nagy sich am Ende des Krieges in der Villa aufgehängt habe.

Mit dem Strick um den Hals sei er vom Geländer in der Halle gesprungen. Sie haben ihn in einer Ecke des Friedhofs begraben, gleich neben der Leichenhalle, neben den anderen Deutschen.

Zuzana hört ihm bloß mit halbem Ohr zu. […] Sie interessiert nur eins.

Jan?

Pha.

Hanuš’ Blick verlischt, sein Mund zieht sich zusammen.

Jan ist weg.

Zuzana holt tief Luft, begreift nicht. Hanuš schaut sie finster an.

Er ist spurlos verschwunden, im Ausland.

Zuzana schüttelt den Kopf, sie gibt die Hoffnung nicht auf, sie ist fest entschlossen, Jan ausfindig zu machen.

Jans Vater ist kurz nach dem Weggang seines Sohns gestorben, redet Hanuš weiter. Das Haus in Lipová ist leer, es verkommt.

Zuzana sieht nicht ein, sich damit abzufinden.

Sie wird Jan suchen.

Und Hanuš mit ihr, er wird ihr zur Seite stehen, Bekannte und Behörden aufsuchen, endlos immer wieder Jans Namen nennen, bis Zuzanas Blick von Trauer bedeckt ist, bis sich in ihrem Gesicht die Hoffnungslosigkeit ausbreitet, die Leere, die sie aus dem Lager mitgebracht hat wie eine Krankheit.

Hanuš legt ihr den Arm um die Schultern und geht mit ihr in den Wald, auf die Lichtung, wo sie als Kinder gespielt haben.

Sie ist so niedergeschlagen, dass Hanuš sich nicht beherrschen kann und sie küsst, und Zuzana erwidert den Kuss zögerlich; Hanuš weiß, dass sie sich dabei einen anderen vorstellt, aber das ist ihm egal, er saugt sie in sich ein und nimmt nichts anderes wahr, nur ihre Wärme.

 

Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch