Ich kam nach Hause ins Leere. Ich zählte die Schritte, aber schließlich verlor ich den Überblick, es waren mehr als viertausend. Egal, ich bin zu Hause. Zu Hause? Schon seit einem Jahr ist es nicht mehr mein früheres Heim – diese Zweihäusigkeit mit zwei Gärten. Großmutter und Großvater sind zu unerwünschten Elementen geworden, man hat sie im öffentlichen Interesse hinter die Bezirksgrenze von Gottwaldov ausgesiedelt. Zum Glück schoben die Genossen sie nicht gleich ins Grenzgebiet ab, ins Sudetenland; sie wiesen ihnen ein Altenteil in Kněžpole zu. Ein Häuschen aus Lehm und Ziegeln, das an die Ställe von irgendwelchen Dostáleks grenzte. Ein Stück vom Bajaja’schen Anwesen. Sie hatten dort eine kleine Küche und ein Zimmer, in das nicht einmal das Ehebett hineinpasste, der Großvater zersägte es. Er hat noch viel mehr zersägt, den ganzen Winter hatten sie zu heizen, wenigstens konnten sie Kohle sparen. Auch die geschiedene Tante Ola siedelten die Genossen aus, ebenfalls im öffentlichen Interesse, und auch sie hatte Glück. Sie konnte bei uns in der Gesindekammer wohnen, zudem bekam sie im Bezirksamt für Volksgesundheit Arbeit als Putzfrau; später stieg sie dank der Mitgliedschaft in der Revolutionären Gewerkschaftsbewegung zur Briefträgerin auf; ihr Haus beschlagnahmte das KGB, dort nistete sich ein sowjetischer Berater mit seiner baryschnja ein. Und ihr Chauffeur nebst Familie. Es fällt mir schwer, davon zu schreiben, es liegt im Nebel. Aus dem manchmal Alpträume aufblitzen. Hab keine Angst, ich lasse sie dort. Mir kommt es nur seltsam vor, dass das uns – mich und dich, liebe Jeanne, – damals irgendwie nicht berührte; wir hatten unsere Dřevnice, unsere Probleme und Späßchen, unsere Freunde, Geheimnisse und Verschwörungen, unsere Zirkel:

Munter lässt sichs pubertieren

bei den jungen Pionieren

… unser Schuljahr, unsere Ferien…, manches blieb beim Alten, und manches veränderte sich wieder, plötzlich fuhren wir öfter nach Kněžpole als sonst.

Ich gehe die Treppe hoch, aus der Küche höre ich Stimmen, die lauteste hat Tante Ola. Ich lausche ein Weilchen. Schon wieder hinter der Tür – was ist das nur mit mir? Ist das abnorm, oder bin ich einfach nur besorgt? Ich gehe hinein, grüße und sehe: am Tisch sitzt Opa Knapek. Er ist wohl auf einen Sprung hergekommen wegen der Medikamente, hauptsächlich wegen Omas Insulin, ihr Zucker hat sich arg verschlimmert. Er fragt mich: „Wie war die Beerdigung?“ und es klingt nach einer Provokation. „Das war keine Beerdigung,“ konstatiere ich, achtsam wie ein Falke, „nur eine Trauerfeier. Und zum Gedenken hat dort ein ewiges Feuer gebrannt.“ „Aha,“ nickt er, er führt etwas im Schild, aber Tantchen kommt ihm zuvor – sie grinst, der Goldzahn in ihrem Mund blitzt: „Das ewige Feuer hat bestimmt etwas angefackelt, nicht wahr?“

„Angefackelt hat es nichts.“

„Nichts? Und warum hat dann die Sirene geheult? Wir dachten, es brennt!“ sagt sie mit Nachdruck.

Ich spüre, wie sich in mir eine Feder anspannt: Ergib dich nicht, ergib dich nicht, du bist Oleg Koschewoi, du bist Julius Fučík, du bist die Rosenbergs, ein Bergmann aus Ostrava oder dem Donbass, so ein stolzer Stoßarbeiter… mich schwindelt ein wenig. Ich sage: „In der ganzen Welt … der Welt des Fortschritts und des Friedens, erklangen die Sirenen, um allen Werktätigen zu verkünden: Josef Wissarionowitsch Stalin, der große Sohn des Sowjetlands, unser Beschützer und Befreier vom faschistischen Joch ist gestorben.“

Triumphierende Stille. Tantchen unterbricht sie mit einem Aufschrei: „Ha ha ha! Der – und Beschützer?“

„Beruhige dich, Olina,“ mischt sich Mama in die Debatte ein. Mir kommt es vor, als hätte sie Tränen in den Augen (vor Trauer?), und das bestärkt mich in meinem heiligen Eifer: „Na klar, unser Beschützer! Jeder einfache Mensch stellt sich die Frage, was nun werden soll, wo er gestorben ist. Ob die amerikanischen Imperialisten nicht einen Krieg entfesseln, haben sie denn nicht genug an Hiroschima und Nagasaki, dem Kartoffelkäfer und den Spionageballons, mit denen sie uns provozieren. Sie wollen die blutige Apokalüste.“

„Ha ha! Die Apokalypse also,“ korrigiert mich die Tante mit Gusto.

„Ja, das Ende der Welt, Sie bourgeoises Element!“ Ich spüre, wie ich rot werde, und sie merkt es. Sie macht ein herablassendes Gesicht: „Was bringen die euch in der Schule bei?“

„Lauter richtige Sachen.“

„Wie weise Stalin ist, wie gütig und mutig…“ „Na klar,“ falle ich ihr ins Wort, „aber jetzt nicht mehr, er ist ja schon gestorben.“ „Ein verlogener Mörder war das und ein Verbrecher wie alle Bolschewiken!“ „Olina!“ fährt Mama sie wieder an.

„Lass sie, ein bisschen Wahrheit kann ihm nicht schaden,“ sagt Opa schließlich, er kneift die Augen zu, erinnert an den Wolf, der ehe du dich’s versiehst, mit Meckerstimme anhebt: Macht auf ihr lieben Kinder, euer Mütterchen ist heim gekommen… Die Tante freut sich darüber, sie stellt eine rhetorische Frage, die sie umgehend beantwortet: „Wer hat heute die Hauptrede gehalten? Zápotocký.“

„Genosse Zápotocký,“ betone ich.

„Gewiss. Der Genosse Premierminister,“ sagt sie grinsend.

„Du warst nicht dort, Tante, wie kannst du das wissen?“

„Es tönte aus allen Lautsprechern. Vor allem aus dem, den die Genossen vor unserem Haus aufgehängt haben. Merkwürdig und verdächtig. Hab ich recht?“

„Warum?“

„Eigentlich sollte Präsident Gottwald sprechen, das Staatsoberhaupt. Was mag ihm nur passiert sein, dass er nicht gesprochen hat?“

„Er ist in Moskau beim Genossen Stalin.“

„Dort hat er auch nicht gesprochen, dabei hätte er es gekonnt, im Rundfunk, damit ihn das ganze Volk hören kann. Warum hat er das nicht gemacht?“

„Ich weiß nicht.“

„Er stirbt.“

Allgemeines Erstaunen. Der Kanarienvogel Pepík, der aus seinem Käfig auf dem Küchenschrank bislang nur zugesehen hat, hüpft von Stange zu Stange. „Es ist höchste Zeit, damit aufzuhören,“ sagt Mama. Und fügt in meine Richtung hinzu: „Geh runter und hole den Vater. Und wenn er keine Patienten hat, soll er das Wartezimmer zumachen, Opa ist da. Er muss auf den Bus, und wir essen gleich.“ Ihre Augen sind noch immer voller Tränen, die Stimme ebenfalls, aber ich gehe nicht, ich stehe immer so da; diese Minuten vergisst man nicht; ich kann mich sehen und hören, wie ich sage: „Genosse Gottwald stirbt nicht.“

„Er stirbt und ist vielleicht schon tot, vielleicht vertuschen die Genossen es, wie sie es bei Stalin vertuscht haben,“ dröhnt es aus Tantes Mund.

„Das ist nicht wahr, du lügst!“

„Sie haben es im Freien Europa gebracht.“

„Raus, Olina! Augenblicklich raus!“ schreit Mutter, dass Pepík ins Singen gerät; sein gedehntes Vibrato erfüllt das ganze Haus.

„Und wohin? Ins Exil?“

„Papa,“ wendet sich Mama an den Großvater, „sag was zu ihr, dauernd führt sie ihr Mundwerk spazieren und macht sich überhaupt nicht klar, vor wem.“

Aber Großvater ist ruhig; ständig kneift er die Augen zu, nickt und sieht zum Käfig hinauf: „Nächstes Mal bringe ich diesem Artisten was mit,“ sagt er und fährt fort mit der Bemerkung, dass es keinen Wert hat, der Tante etwas zu verbieten, weil die Kommunisten uns sowieso allen die Luft abstellen; mit uns rechnen die sowieso ab, und es ist ihnen schnurz, was wir denken und sagen. Dann wendet er seinen Wolfsblick von Pepík auf mich und sagt: „Ich würde nur zu gern hören, was dieses berühmte Frijurop über unseren Klemi gebracht hat. Du nicht?“

„Nein!“ „Ich schon.“ „Ich nicht!“ „Yes, but I do!” „Nein!“

Und die Tante legt los: „Als er auf dem Moskauer Flughafen ankam, soll er nicht gut ausgesehen haben, seine Stunden waren gezählt. Man hat ihn gleich in den Kreml gebracht. Die werden ihn mit irgendwas bestrahlt oder vergiftet haben, Genaues weiß man nicht, sie haben schon in Prag heimlich daran gearbeitet. Beim Begräbnis hat er sich gerade noch auf den Beinen halten können, er hatte Fieber oder so, wäre fast umgefallen…“ „In Moskau ist jetzt Abend, kaum einen halben Tag her, und sie bringen das schon?“ unterbricht sie der Großvater. „Die arbeiten schnell,“ sagt sie, aber Großvater erwidert: „Er wäre fast umgefallen, sagst du. Das heißt nicht, dass er stirbt. Wir wissen alle, dass er säuft.“ „Vergiftet haben sie ihn.“ „Warum? Der gehört doch zu ihnen, die brauchen ihn.“ „Nicht mehr. Er hat erledigt, was sie wollten, hat alle Welt hinrichten lassen, zu guter Letzt seinen Kumpel Slánský, diesen Oberkommunisten. Das ist doch alles das gleiche Gesindel.“

Das Wort Slánský erinnerte mich an ein Liedchen. So ein Gassenhauer, das Freie Europa hatte es neulich gesendet. Die Tante sang es immerzu, und sie war damit nicht allein, fast jeder sang es: Hört ihr Leut und lasst euch sagen, was die Stunde hat geschlagen, Rudolf Slánský sitzt im Bau, mit dem Weihnachtsgeld wirds mau. Und an diesen Gassenhauer schloss sich automatisch ein weiteres Liedchen an: Alle meine Entlein, unter Gottwald sind wir glücklich, unter Gottwald sind wir froh, weil wir Prag als Hauptstadt haben, und in Prag wohnt unsre Marta mit dem dicken Po…, und ich höre, wie der Großvater sagt: „Ja, alles das gleiche Gesindel. Aber uns nützt das einen Dreck,“ und die Tante höre ich sagen: „Doch.Vielleicht schlagen sie sich ja gegenseitig tot.“ Dann höre ich Mama: „Hört auf mit dem Unsinn.“ Und wieder die Tante: „Dich stört es nicht, dass die Kommunisten alle Welt bestehlen und einsperren? Dass sie unsere Eltern irgendwo in eine Schäferhütte verjagt haben? Dass sie die Kinder zu Pionieren gemacht haben und mich zur Putzfrau?“ Und mich selbst höre ich. Höre, wie ich zur Tante sage: „Ich werde melden, dass du Freies Europa hörst!“

Pepík hört auf zu singen. Der Wecker tickt. Großvater sagt in das Ticken: „Das darfst du nicht machen.“ Darauf ich: „Doch.“ Großvater: „Sie werden sie ins Gefängnis werfen.“ Ich: „Bitte schön. Das Gehetze der amerikanischen Imperialisten soll man sich nicht anhören.“ Großvater: „Du hast Verwandte in Amerika, dich sperren sie auch ein.“ Ich: „Die kenne ich nicht, von denen sage ich mich los.“ Großvater: „Wer wird dir dann Kaugummis schicken?“ Ich schweige, und Großvater fährt fort: „Sagst du dich auch von mir und Oma los?“ „Von euch nicht, ihr seid ja keine Amerikaner.“ „Das nicht. But… aber wenn wir welche wären, würden wir Eisenhower wählen.“ „Diesen Antikommunisten?“ „Yes! Ich habe nämlich immer die Republikaner gewählt. Oma wählte die Demokraten, aber der Dwight gefällt auch ihr.“ Die Tür öffnet sich.

[…]

Vater kommt herein. Begrüßt den Großvater, erwähnt automatisch, dass die Medikamente bereitliegen. Er wirkt betreten. Misst uns einen nach dem anderen mit dem Blick, ist sich nicht sicher mit der Diagnose, bei Mama macht er halt, Mamas Hilflosigkeit. „Mir ist da irgendetwas Politisches zu Ohren gekommen,“ sagt er. Sie nickt unmerklich, Pepík hüpft von Stange zu Stange, der Wecker tickt, Vater schreitet zur Anamnese: „Etwas über amerikanische Imperialisten, Eisenhower, Gefängnis, Antikommunismus…,“ – mit einem Blick auf mich. Ich weiche ihm aus, blicke zum Ofen, aber die Frage ist unüberhörbar: „Was haben Opa und Oma damit zu tun?“ „Nichts.“ „Und die Kaugummis?“ „Weiß ich nicht.“ „Wer weiß es?“

„Er will mich anzeigen, weil ich Freies Europa höre,“ verkündet die Tante; das Spiel macht ihr keinen Spaß mehr.

„Ist das wahr?“ fragt Vater.

Ich schweige.

„Sieh mich an und antworte.“

„Ja.“

„Du willst die Tante anzeigen?“ „Ja.“ „Dann musst du auch mich, die Mama und den Opa anzeigen, uns alle.“

Ich schweige.

„Zeigst du uns an?“ „Ja.“ „Raus mit dir, und komm nicht wieder,“ höre ich. Ich gehe.

Es war der Beginn der Finsternis oder

eclissi.

Eine Finsternis, in der alles und jeder versank. Eine von vielen, rasch breitet sie sich aus, ich gehe. Noch weiß ich nicht, wohin, Silhouetten von Menschen, Dingen, Sätzen begleiten mich. Vielleicht schicken sie dich zur Belohnung in die Sowjetunion, ruft Tante Ola höhnisch, ihre Stimme ist schneidend, ich wehre sie ab mit einer Vision von Artek, dem legendären Paradies am Ufer der Krim, wo die Sonne scheint und das Meer rauscht, wo Delphine springen, Dampfer tuten, Wale schnauben, wo das Lachen der Möwen und der Gesang der Pioniere erklingt; Pioniere voran, mit Matrosenmützen auf dem Kopf und ausgebreiteten Armen, der Wind streicht zwischen ihren Fingern hindurch, sie setzen sich ins Bötchen und fliegen pfeilgeschwind… ich fliege.

 

Die Übersetzung von Bettina Kaibach ist für das Projekt “So nah, so fremd” von Šárka Krtková, Stipendiatin der Robert Bosch Stiftung im Programm Kulturmanager aus Mittel und Osteuropa entstanden. Das Projekt wurde durch die Robert Bosch Stiftung, den Deutsch-Tschechischen Zukunftsond und das Literaturhaus München gefördert.