Mein Gott, schon wieder diese unglückliche Gegend, seufzte ich nur so für mich. Und die Sonne brannte sich durch die feinen grünen Blätter, die Krone der Linde über unseren Köpfen rauschte vom Sommer. Über die Wege im Park schlichen von der Hitze erschlagene Touristen in Richtung Schlosstor.

Šrámek saß neben mir auf der Bank und redete die ganze Zeit irgendetwas. Und ich freute mich auf den Schatten im Innern jenes Steingemäuers gleich da in der Nähe, auf das eigenartige gelbliche Licht des Forschungsraums, auf das gedämpfte Rascheln der Archivalien, auf den leicht modrigen Hauch, den alte Bücher ausatmen.

„Also Ihnen muss man auch jedes Wort aus der Nase ziehen“, sagte er.

„Sie hätten nicht noch mal herkommen sollen“, erwiderte ich.

„Aber Sie kennen die Dörfer da, die Leute, für Sie ist das eine Frage von ein paar Tagen. Das haben Sie selbst gesagt. Also warum haben Sie nun auf einmal keine Lust mehr darauf? Ich begreif das nicht …“

Ich kramte in dem Ordner herum, den er mir gegeben hatte, nur um diesen heißen unangenehmen Moment ja bald hinter mir zu haben. Aus irgendeiner vergilbten Broschüre herausgerissene Seiten, Kopien von amtlichen Dokumenten, ein paar Zeitungsausschnitte. In Gedanken sagte ich den Namen des Dorfes und dann jene drei Familiennamen einen nach dem anderen vor mich hin: Jircha, Kubach, Mařánek … Ja, na klar, der Mařánek.

„Das ist die Konskriptionsnummer 11, das Gehöft mit dem Doppelgiebel am Dorfplatz, gut erhalten. Und auf der gegenüberliegenden Seite die Ruine, das war mal ein Bauernhaus mit einem Torbogen, dazu gehörte ein mehrgeschossiger Speicher. Ein Stück davon ist weggerissen worden, die Genossenschaft hat da jetzt irgendwelche Maschinen. Auch die Scheune ist am Zusammenbrechen. Die nennen das den Jircha-Hof. Und das Kubach-Gut? Daran kann ich mich jetzt nicht genau erinnern.“

„Man sieht, dass Sie alles da drin haben“, tippte Šrámek sich mit dem Finger gegen die Stirn und sein kugelrundes Gesicht begann zu strahlen.

„Vor allem da“, klopfte ich mit dem Zeigefingergelenk auf das Notebook in der schwarzen Hülle.

„Herr Straňanský, in den Häusern dort ist es. Wir wissen nicht, wo, aber Sie werden es finden. Vielleicht hat es jemand auf den Einzelgehöften in der Umgebung, in Černá Hůrka, ich weiß nicht … Die Leute haben solche Sachen immer aufgehoben. Die Alten sitzen dort nach wie vor auf den Dorfplätzen rum …“

„Tomašice, Černá Hůrka, Smrčí“, sprach ich laut die Namen der Gemeinden aus. Das wirbelte dort wie in einem Kessel herum, Häuser, Familiennamen, Paten, Taufen … „Ich hatte dort mal ein paar Aufträge, ich glaube sogar, dass ich über die Häuser auch was geschrieben hab … Aber das ist schon Jahre her! Das sind Dörfer kurz vorm Aussterben, Herr Šrámek …“

Er kam mit seinem glattrasierten rosigen Gesicht ganz nah an mich heran: um die fünfzig, die Haare schon angegraut, breite Hosenträger über einem hellen, kurzärmligen Sommerhemd, dickliche Unterarme.

„Wie gesagt, es ist ein Brief. Irgendwo dort ist er, das wissen wir. Vielleicht gibt es auch noch mehr Unterlagen. Bei der Gemeinde? Im Pfarramt? Ich weiß es nicht, Sie sind der Fachmann. Vielleicht entdecken Sie dort gleich einen ganzen Haufen von Papieren. In irgendeinem Büffet oder auf einem Dachboden …“

Er senkte seine Stimme noch ein bisschen mehr.

„Dann würde es direkt von einer Hand in die andere gehen, Herr Straňanský, wie gesagt. Ich die Dokumente, Sie das Geld.“

Die Sonne stand schräg über dem Třeboňer Schloss, ich trat mit den Absätzen meiner Schuhe gegen die Bank und der Durst zog mich von hier weg. Ich musste schlucken und erinnerte mich an die Weite über dem Feld dort bei uns, an Wasser und Schatten. Doch der Augenblick glühte jetzt vor Hitze, ein brennender Moment, in dem ich neben ihm saß und er mich mit seinem heißen unangenehmen Schatten in eine Richtung drängte, die ich um nichts in der Welt einschlagen wollte.

„Wissen Sie was? Suchen Sie sich jemand anderes.“

„Herr Straňanský! Die Ereignisse sind längst verjährt. Wer weiß, wie lange die Frau schon tot ist. Ihnen kann gar nichts passieren.“

Ich stand auf und streckte meinen Rücken. Er erhob sich ebenfalls, die Stirn verschwitzt, feuchte Flecken auf dem Hemd. Ich reichte ihm die Sachen.

„Behalten Sie das, Herr Straňanský. Am Freitag fahr ich wieder über Jindřichův Hradec zurück, dann komm ich noch mal vorbei.“

Und dann fügte er hinzu, als hätte ich nichts gesagt: „Um eins hier?“

Ich blickte hinunter auf das halb vertrocknete Gras.

„Also abgemacht“, sagte er nach einer Weile selbst. „Falls Sie nicht hier sein sollten, ruf ich Sie im Archiv an.“

Er saß wieder auf derselben Bank, er wartete auf mich. Im Park fing eine Kapelle an zu spielen. Das Sommerfestival. Ein Stück von uns entfernt brach es los, ein Haufen Leute um uns herum. Ich wollte nicht schreien, damit wir uns hören können. Die Schatten wurden dunkler und legten sich neben den Bäumen auf die Erde. Wir gingen an der Brauerei vorbei Richtung Staudamm.

„Ich bin froh, dass Sie sich schon dort umgucken waren. Je eher, desto besser, Herr Straňanský“, wiederholte Šrámek aufmunternd.

„Umgucken … Ich kenn mich dort ziemlich gut aus. Und ich mag es nicht.“

„Darauf kommt’s ja wohl nicht an“, wunderte er sich.

„Das ist so eine finstere Ecke …“

„Ich weiß, die Fünfzigerjahre …“

„Gar nichts wissen Sie. In den Häusern dort haben sie früher ungewollte Kinder umgebracht. Das hab ich in alten Aufzeichnungen gefunden. Und auch die höchste Statistik an Erhängten weit und breit. Dann die Tragödie im Steinbruch vor dem Krieg …“

„Werden Sie nicht hysterisch. Sind Sie nun Profi? Ich will von Ihnen professionelle Arbeit.“

„Herr Šrámek, ich hab Ihnen gesagt, dass ich so was nicht mache. Meine Arbeit fängt so ungefähr mit der Jahrhundertwende an. Jeder erinnert sich noch an seinen Großvater und manchmal auch noch an den Urgroßvater. Weiter dann meist nicht mehr. Und dort in diesen Jahren fange dann ich an zu suchen.“

„Herr Straňanský, das haben Sie mir schon mal erzählt.“

Im Schlenderschritt gingen wir zur Staumauer.

„Nein, wirklich, das mach ich nicht. Bringen Sie mir die Todesanzeige von Ihrem Großvater und ich such Ihnen den kompletten Stammbaum bis zum 16. Jahrhundert raus, inklusive Kopien aus Kirchenbüchern und Grundbüchern, ich mach Fotos vom Geburtshaus Ihrer Vorfahren, erstelle ein Diagramm und dann lass ich Ihnen das alles binden.“

„Und genau so sollen Sie’s machen, Herr Straňanský“, fiel er mir ins Wort. „Tragen Sie die Materialien zusammen, Sie können das ja aufschreiben, die Geschichte, die Story. Und finden Sie den Brief dazu. Den Beweis. Und 50 000 auf die Hand. Worum geht’s Ihnen eigentlich? Das schaffen Sie in der Hälfte der Zeit, als wenn Sie irgendeine Ahnentafel aus Kirchenbüchern rausklamüsern müssten.“

Wir standen unter mächtigen Eichen, die Sonne färbte die Wasserfläche des Svět-Stausees langsam orange, Daniela fiel mir ein. Sie wollte wissen, was ich Vermischung der Elemente nenne. Hier war es: Wasser und Feuer. Ich stieß meine Fußspitze in das verdorrte Gestrüpp neben einer Bank.

„Und dann zaubern Sie das gegen ihn aus dem Hut, ja?“, fragte ich leise.

„Wie bitte?“

„Das könnte ziemliches Aufsehen geben, in einer Kleinstadt, allerdings. Der Bürgermeisterkandidat, so beliebt …“

Er sah mich an, eine Grimasse zur Verteidigung, oder gar ein Lächeln. Langsam schüttelte er den Kopf. Ich ging weiter, in der Ferne versank die Sonne im Wasser.

„Bis dieser Stänkerer, der verkündet, dass er die Vergabe von öffentlichen Aufträgen im Rathaus und die gesamte Buchhaltung im Ortsamt über drei Jahre untersuchen lässt …“

„Na hören Sie mal, das …“ Er setzte sich auf eine Bank. Ich setzte mich dazu.

„Ich meine: Wenn die privaten Landwirte und die Kleinbauern und die redlichen Bürger erst erfahren, dass seine Mutter in den Fünfzigerjahren Großbauern denunziert hat, die dann im Knast gelandet sind und alles verloren haben … Was? Wenn man das nur richtig auswalzt, auf Gefühl spielt, eine Story, wie Sie es nennen, dann wird ihn nicht mal mehr die eigene Familie wählen.“

„Herr Straňanský, danach sollen Sie aber nicht forschen“, meldete sich Šrámek nervös zu Wort, stand von der Bank auf und blickte jetzt von oben auf mich herab. „Sie sollen nach dem Brief und anderen Schriftstücken suchen! So lautet die Abmachung!“

„Nicht nur, dass der alte Zandl nicht Bürgermeister wird, sondern er wird nicht mal mehr in die Stadtvertretung kommen, stimmt’s?“

Er sah aus, als wolle er gehen. Ich umfing meine Knie mit den Armen und schaute auf die untergehende Sonne.

„Für eine Weile machen Sie einen auf Trottel, und dann wieder ist Ihnen auf einmal alles sonnenklar“, sagte er verstimmt. „Ich biete Ihnen die Hälfte als Vorschuss.“

Er griff in seine Aktentasche. In weißen Sommerhosen und Schuhen aus perforiertem Leder, er blinzelte, seine Stimme krächzte. Auf Stirn und Glatze schwitzte er.

„Ich will keinen Vorschuss.“

„Kommt Ihnen der Auftrag vielleicht irgendwie schleierhaft vor? Die Aufgabenstellung ist doch sonnenklar.“

„Wissen Sie, alles kann auch ein kleines bisschen anders sein, als es Ihnen erscheinen mag …“

„Versteh ich nicht.“

„Bei solchen Nachforschungen stößt man so oft auf die verschiedensten Sachen.“

„Drücken Sie sich deutlich aus.“

„Was haben denn Sie mit dem Dorf Tomašice zu tun?“, fragte ich direkt.

„Nichts. Und das geht Sie auch nichts an.“

„Šrámeks wohnen da keine, das nicht. Aber ein Haus dort wird der Šrámek-Hof genannt.“

„Na und?“

„In dem Rechner hier, den ich ständig mit mir rumschleppe, habe ich eine Datenbank von Leuten, an die Sie nicht mal im Traum denken. Die meisten von ihnen sind tot, das stimmt. Aber von den Toten aus laufen die Fäden bis zu den Lebenden …“

„Ja und?“

„Und die Nachnamen reichen wir halt weiter, ob wir das wollen oder nicht. Der Name Šrámek kommt in meinen Stammbäumen ziemlich häufig vor. Und den Rest fragt man sich so zusammen. Ihr Großvater stammte aus Tomašice.“

„Kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit meinem Großvater!“

„Warum nicht? Ihr Großvater hat seit den Fünfzigerjahren in der LPG gearbeitet und war Funktionär bei der Gemeinde. Sie selbst waren in einer Genossenschaft, zu der seit den Siebzigerjahren auch Tomašice gehörte, sie haben bis 1992 dort gearbeitet. Die letzten fünf Jahre sogar im Vorstand.“

„Das hätt ich Ihnen auch gleich sagen können und Sie hätten sich Zeit gespart. Und was sagt uns das nun?“

Ich ließ die Frage in der Luft hängen. Wir gingen hinunter in Richtung Stadt, ein Gefühl von Widerwillen packte mich, Šrámek setzte mir zu, er brachte mich noch bis vor meinen Wohnblock ins Neubaugebiet. Letztendlich versprach ich ihm, mich auf die Suche zu machen.

Zum Glück musste ich nicht lange vor dem Geschäft warten. Ich sah die gebückte Gestalt schon von weitem, sie kam die Straße aus Richtung Wirtshaus entlang. Ich ging hinter den Laden und lehnte mich eine Weile gegen das Mäuerchen. Es war im Schatten, und so war es nicht heiß, aber kühl auch nicht gerade. In ihm war die Sommersonne, die angesammelte Wärme in den Ziegeln unter dem Putz.

Ich vernahm Schritte und ging ins Helle hinaus. Ich grüßte. Sie erschrak nicht. Ein Einkaufsnetz mit Brot in der Hand. Sie schaute mich nur schweigend an.

„Ich dachte mir, dass ich Sie früh am Morgen hier treffe“, sagte ich, bemüht um einen freundlichen Tonfall, auch wenn in meiner Stimme Nervosität lag.

„Es ist gerade sieben durch, was machen Sie denn so zeitig hier?“, fragte sie ohne Umschweife.

„Ich weiß, dass donnerstags Brot geliefert wird.“

„Ja und?“

Sie schwieg, wir entfernten uns vom Laden, zu unserer rechten Seite passierten wir das Friedhofstor.

„Ich habe Sie letztens nach Rozálie Zandlová gefragt.“

„Und warum?“

„Ich hab Ihnen gesagt, dass es mein Beruf ist, Stammbäume zu erstellen.“

„Stammbäume?“, klang ihre verärgerte Stimme zum ersten Mal amüsiert. „War das etwa irgend ’ne Gräfin, dass die ’n Stammbaum hat?“

„Einen Stammbaum mache ich jedem, da muss man nicht unbedingt blaues Blut haben. Jeder hatte schließlich irgendwann mal einen Vater und eine Mutter, eine Großmutter, eine Urgroßmutter …“

„Sie wollte immer auf ein Gut mit viel Land“, sagte Frau Petrásková plötzlich und blieb einen Moment stehen. „Ja, das war ihrs: in ’nen reichen Grundbesitz einheiraten.“

Wir standen an der Straße, ich wich einem vorbeifahrenden Auto aus, wartete ab, was als nächstes passieren würde. Noch war es schattig, aber von überallher spürte man den Hauch der Hitze.

„Die Eltern von der hatten nischt als ihren nackten Arsch, wissen Se? Meine Mutter hat die ziemlich gut gekannt. Fünf Gänse, ’ne Ziege und paar Morgen Ackerland. Der Zandl war Zimmermann und die Běta, also die Zandlová, die hat immer gesagt: Meine Rózička, die wird mal Bäuerin Jedem hat die das vorgebetet.“

„Und ihre Geschwister?“

„Beide Mädels sind ganz jung gestorben, vor der Róza.“

„Auf dem Grab sind keine Jahreszahlen“, sagte ich.

„Ich hab die mein Lebtag nich gesehn. Die warn noch klein, wie gesagt, als sie gestorben sind. Die Běta hat dann ihrer Rózina ’ne Stellung bei ’nem Bauern hier in Tomašice verschafft. In der Fünf, auf dem Sládek-Hof.“

„Ich hab gehört, dass sie ein wunderschönes Mädchen war …“

„Ach i wo, die Rózina“, krächzte die alte Frau, unter dem Kopftuch blickten die dunklen Augen starr geradeaus, „die hat die Nase immer ziemlich hoch getragen, aber die hatte nischt als den Rock am Leibe. Und die Běta, die hat andauernd gesagt: Unsere Róza ist das hübscheste Mädel im Dorf, unsere Rózina … Und wie das dann mit ihr ausgegangen ist …“

„Wie denn?“, fragte ich sofort, denn Frau Petrásková lenkte ihre Schritte schon heimwärts.

„Einmal hat meine Mutter zur Běta gesagt, genau hier vor der Kirche: Dass du dir mit deiner Róza mal bloß nicht ins Hemd machst!

„Und wie war das nun?“

„… Die Sládeks, das waren Kuh- und Ochsenbauern, die hatten ziemlich große Felder, ungefähr fünfzehn Hektar. Die hat mit denen ihrem Jungen angebändelt. Die hatten zwei, der jüngere hat nischt getaugt, aber der Honza war ganz verrückt nach der.“

„Was ist dann daraus geworden?“

„Was schon! Sie sind vielleicht neugierig …“

Es sah schon so aus, als würde ich kein Wort mehr aus ihr herauskriegen. Ich trat neben ihr von einem Bein aufs andere.

„Der alte Sládek“, stieß sie auf einmal hervor, „der Bauer, der hat Nein gesagt: So ein Trampel, und dann noch ohne eine Krone? Das wär ja noch schöner! Ja ja, der hatte für seinen Honza ’ne andere Braut ausgeguckt. Da musste sie eben weg, das wär nicht gut gegangen.“

„Also ist sie nach Hůrka zurück?“

„Quatsch! Die hat sich den Francek Kubach geangelt, angeblich soll er ihr schon hinterhergestiegen sein, als sie noch als Magd bei den Sládeks geschlafen hat. Da hat’s die Běta eingefädelt, dass sie zu den Kubachs geht. Das war natürlich was! Pferde, nach dem Jircha der größte Bauer im Dorf. Und der alte Kubach wollte nicht! Der wusste, was der Franc für’n Hecht is …“ Röchelnd lachte sie auf.

„Na und weiter?“

„Was wollen Sie denn noch?“, fuhr sie mich scharf an.

„Na ja. Wo Sie nun schon mal angefangen haben …“

„Die hat’s bei denen da ungefähr zwei Jahre ausgehalten und danach isse mit Schande zurück zu ihrer Mutter ins Haus. Der Francek soll angeblich dann zu ihr gesagt haben: Was bringst du mir da angeschleppt? Meins is das nich! Du hast’s ja mit jedem getrieben. Die Rózina hat den Kleinen František taufen lassen, wegen ihm. Das ist dann schon im Krieg gewesen …“

„Hat er sie nicht geheiratet?“

„Ach wo! Der Francek, der hatte’s faustdick hinter’n Ohren, bei jedem Tanzvergnügen mit ’ner Andren tanzen, das war seins. Der und heiraten …!“ Sie verstummte und schaute mich an, wahrscheinlich, ob sie weiterreden soll.

„Und der junge Sládek?“

„Der is weiter hinter der hergerannt, sogar zu den Kubachs. Einmal hat er ordentlich eins aufs Maul gekriegt, das haben sie sich dann überall im Dorf erzählt.“

„Von Francek?“

„Ach wo! Der hat über das alles nur gelacht. Franc war ’n Schürzenjäger und hat gerne einen getrunken, aber geprügelt hat der sich nich … Der alte Kubach soll angeblich den Honza Sládek mit dem Stock verwimst haben. Direkt unterm Fenster, er soll ihm wegen der Mädels gefälligst nicht ins Haus steigen … Dann haben der Sládek und der Kubach ein Jahr nicht zusammen geredet.“

Ich wartete auf die Fortsetzung. Aber sie hatte keine Lust mehr. Sie funkelte mich mit ihren scharfen dunklen Augen an.

„Das weiß heut keiner mehr. Und das interessiert auch keinen mehr, wissen Sie?“, sagte sie streng. „Ich muss nach Hause.“

Sie marschierte los und ich blieb am Wirtshaus stehen, bis sie hinter der Kurve verschwunden war.

Aus der Plastiktüte roch es modrig. Ich zog die Bücher an Gottes Licht hervor. Sie waren gut erhalten, nur dieser leicht muffige Hauch. Der eine Buchrücken abgeschabt und verblasst, ursprünglich einmal dunkelrot mit Goldschnitt. Der zweite Band hatte ein etwas kleineres Format, graublaue Buchdeckel mit der Aufschrift GEDENKBUCH. Ich legte es ins Gras, es begann mit dem Jahr 1958 und die letzte Eintragung war 1973 vorgenommen worden.

Mit nervösen Fingern öffnete ich die Buchdeckel des ersten, des roten Bandes. Dickes, mit vergilbten Flecken übersätes Papier, an den unteren Rändern abgegriffen.

[…]

Zwischen den Seiten der Chronik lagen ein paar Ausschnitte aus der Regionalzeitung „Jihočeská pravda“, kurze Artikel aus viel späterer Zeit, vermutlich aus den Siebzigern. Einer über den 25. Jahrestag der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in der Gemeinde Tomašice. Unter den Artikeln der Name des Autors: V. Markyta. Außerdem lag ein vergilbtes Blatt Papier bei, mit dem verwaschenen runden Gemeindestempel und mehreren Unterschriften: Jahrbuchkommission der Gemeinde Tomašice. Drei Namen und der Chronist. Dann noch ein paar weitere Dokumente mit Stempeln, ich überflog sie nur eilig. Und endlich ein Briefumschlag, zwischen den Buchdeckeln der Chronik gepresst wie das vergilbte Blatt von einem Baum. Vorsichtig hielt ich mir den Umschlag vor die Augen, damit er mir nicht etwa zwischen den Fingern zerbröselte. Die Adresse, mit Tinte geschrieben: Gemeindeausschuss Tomašice. Eine zur Seite geneigte Handschrift, sie kam mir bekannt vor, die Buchstaben gerundet. Die Spannung in meinem Innern stieg. Ich wischte mir die schweißnassen Finger an der Hose ab, wartete einen Moment, doch die Ungeduld saß mir im Nacken, meine Bewegungen waren abgehackt. Ich entnahm dem aufgerissenen Briefumschlag ein zusammengelegtes Blatt Papier. Ich faltete es auf. Mein Blick fiel sofort auf die untere Hälfte der beschriebenen Seite. Dort war sie. Ihre Unterschrift. ROZÁLIE ZANDLOVÁ. Mein Herz klopfte, ich überflog den Inhalt. Die Überschrift in Großbuchstaben: ANZEIGE. Wie in einem Schulaufsatz, fiel mir ein. Dann sechs mit der Hand geschriebene Zeilen. Das Papier war von grober Struktur, kein Briefpapier. Am linken Rand waren leichte Unebenheiten zu erkennen. Offenbar irgendwann einmal an einer scharfen Kante entlang abgerissen. Ein sprachlich und stilistisch schlicht verfasster Hinweis auf regelmäßige Zusammentreffen einiger Bürger der Gemeinde zum Zweck des Spielens von Glücksspielen. Keine Namen. Nur eine Ortsbezeichnung: Šilhavý-Säge, Ortsteil Smrčí. In der rechten oberen Ecke des Briefes in der gleichen Handschrift das Datum: 10. 1. 1953.

Ich klappte mein Notebook auf, suchte nach dem eingescannten Brief, der mir vor kurzem geschickt worden war. Ich legte das geöffnete Schreiben auf die Tastatur und sah auf den Bildschirm. Ich hielt die Luft an und konzentrierte mich. Die Unterschriften waren fast identisch, beide Briefe in ähnlicher Handschrift verfasst. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie von ein und derselben Person geschrieben worden waren.

Zwei Kaffee und ein Wasser, einen Saft und wieder Wasser, wir saßen bereits die dritte Stunde an dem kleinen Tisch des Kaffeehauses in Budweis. Sie blätterte in der Chronik.

„Jetzt nenn ich Ihnen noch einen Namen aus Ihrem Dorf“, sagte ich zu ihr, als sie das Buch zugeklappt und zurück in den Beutel gesteckt hatte. Neugierig beugte sie sich über den Tisch, als würde ich ihn gleich nur flüstern. Ein paar Augenblicke ließ ich sie warten.

„Rozálie Zandlová“, sagte ich ganz langsam.

Aufgerissene Augen, erstaunter Gesichtsausdruck, und dann ein Lächeln.

„Du lieber Gott. Wie kommen Sie denn jetzt darauf?“

Ich antwortete nicht, mein Herz fing an zu klopfen, vielleicht stärker als das von Frau Hermová. Sie nahm einen Schluck Wasser und spielte mit den Fingern an dem schmalen Armreifen an ihrem Handgelenk herum.

„Nie im Leben hätte ich erwartet, dass nach all der Zeit noch einmal jemand diesen Namen in meiner Gegenwart ausspricht …“, sagte sie mit fast schon zärtlicher Stimme.

„Wie meinen Sie das?“

„Rózina Zandlová“, deklamierte sie voller Gefühl, „das werden Sie vermutlich nicht verstehen. Rózina war für uns kleinen Mädchen so was wie eine Erscheinung, ein Heiligenbild. Wir haben immer am Bach auf sie gewartet, wenn wir dort Elfen und Nymphen gespielt haben. Sie war unser Idol, wie man heute sagen würde“, lachte sie.

„Ein Idol …?“

„Sie hat uns schrecklich gut gefallen! Wissen Sie, noch in dem Alter, bevor uns die Jungs angefangen haben zu gefallen“, erläuterte sie freundlich. „Jedes kleine Mädchen aus dem Dorf wollte so sein wie sie. Wunderschön, schlank, und dieser Gang! Wenn sie einen Eimer mit Wasser getragen hat. Ich seh’s noch wie heute, die langen schwarzen Haare, um die haben wir sie als Kinder beneidet. Wir haben immer auf sie gewartet, und manchmal, wenn sie einen Moment Zeit hatte, hat sie uns erlaubt die Haare zu Zöpfen zu flechten. Und sie stand in Diensten beim reichsten Bauern im Dorf …“

„Also hatte ich Recht mit dem Markyta?“

„Dass sie ihm das Herz gebrochen hat? Kein Wunder …“

„Das hab ich mir gedacht. Und ich weiß auch, wie es danach weiterging. Also, ich weiß es nicht, ich ahne es.“

„Meinen Sie mit ihrem Kind?“

„Das auch, aber dann mit der Denunziation, mit ihrem Weggang aus dem Dorf. Markyta hat sie geliebt, aber er hatte keine Chance, er war eifersüchtig und schrieb ihr Liebesbriefe. Dann haben sie die Bauern verhaftet und das mit ihr ist rausgekommen. Markyta wollte ihr helfen, sie schützen. Er hatte beim Gemeindeausschuss einen Freund … So ist der Brief bei ihm gelandet und er hat ihn versteckt. Schwer zu sagen, wie er ihn verwenden wollte. Als Beweis für seine Liebe? Oder vielleicht zum Erpressen, um sie endlich rumzukriegen …?“

Sie beobachtete mich mit einem ungläubigen Lächeln, ich bekam einen trockenen Hals und nahm einen Schluck Wasser, um mein Solo zu vollenden.

„Jedenfalls ist Rózina aus dem Dorf weggegangen, von einem Tag auf den anderen, für immer. Und Markyta, auch für immer, hob den Brief auf, und der hat ihn schließlich überlebt. Er lag zusammen mit anderen Dokumenten in der Chronik, in der offiziellen, da hab ich ihn gefunden. Irgendwie ist die wieder zu ihm zurückgelangt, nach der Wende ’89, damals haben keinen die beiden alten Bücher interessiert, die Leute hatten genug eigene Sorgen, mit der neuen Zeit, mit sich selbst. Auch Rózina Zandlová hat keinen mehr interessiert, nichts von dem, was damals in Tomašice passiert ist, hat noch wen interessiert! Und Markyta ist ’91 gestorben, enttäuscht, gebrochen, vergessen …“

„Jetzt fällt mir ein, wann Markyta geheiratet hat“, sagte sie nach einer Weile in Gedanken.

„Darf ich raten? ’53? ’54?“

Bei der zweiten Jahreszahl nickte sie.

„Klar“, gab ich mir selber Recht. „Kaum dass Rózina weg war. Das würde passen, Josef Markyta, der Sohn, könnte jetzt um die fünfzig sein …“

„Er ist nach kurzer Zeit verwitwet, er und sein Pepík lebten allein in dem Haus.“

„Das passt alles. Er hat spät geheiratet, mit fast vierzig. Wegen Rózina, er hat die ganze Zeit auf sie gewartet, hat gehofft, seit er ungefähr zwanzig war, den ganzen Krieg über, und dann, als er eine Chance gehabt hätte, verschwand sie auf einmal …“

Es war zu sehen, dass sie erregt war, ich hörte auf zu reden, damit sich all das, was ich aufgewirbelt hatte, setzen konnte. Aber sie fing von selbst an.

„Ich bin von dem allen wie vor den Kopf geschlagen, Herr Straňanský … Rózina war so eine Art Madonna meiner Kindheit! Wenn sie mit uns kleinen Mädchen ein paar Worte sprach, konnte ich in der Nacht deswegen nicht schlafen! Das werden Sie nicht verstehen … Und jetzt, nach einem halben Jahrhundert. Das ist unglaublich. Ich hätte nicht erwartet, dass ich nach all den Jahren noch einmal von jemandem ihren Namen hören würde. Geschweige denn, dass mir ein junger Mann wie Sie mit so viel Detailkenntnis von ihr erzählen würde …“

Sie griff nach ihrer Handtasche und versuchte sie mit zittrigen Händen zu öffnen. Sie suchte ein Taschentuch, knüllte es fest in ihrer Faust zusammen.

„Rózina Zandlová …“, fing Frau Hermová wieder an. Sie sagte das eigentlich nicht zu mir. Sie erzählte es für sich selbst, erweckte eine längst verschwundene Welt wieder zum Leben. Ich blieb still sitzen, um den Fluss ihrer Erinnerungen nicht zu stören.

„… ich bin aufgewachsen, bin groß geworden mit der Geschichte von ihr. Ein uneheliches Kind, sie hatte im Dorf keinen besonders guten Ruf. Dazu dann die schrecklichen Sachen ’53, sie haben Šilhavý und Jircha verhaftet …“

„Kubach auch“, ergänzte ich.

„… genau, den alten Kubach auch. Mein Vater ist zu der Zeit schon nicht mehr zum Kartenspielen da hingegangen, die Bauern haben ihn nicht mehr in ihre Runde aufgenommen, weil er in die Genossenschaft eingetreten war. Da bin ich schon fast erwachsen gewesen. Sie war schon über dreißig und immer noch hübsch, trotz der ganzen Plackerei. Sie war aus armen Verhältnissen, sie musste sich ganz schön abstrampeln, alleine mit dem Kind. Im Dorf war keiner gut auf sie zu sprechen, aber unser Papa hat immer gesagt, dass er für sie betet …“

„Und warum war keiner gut auf sie zu sprechen?“

„Zuerst wegen ihren ganzen Burschen da, dann wegen der Denunziation … Aber um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Ich hab das nie geglaubt, dass Rózina jemanden denunziert hat.“

„Glauben Sie, dass im Dorf nicht denunziert worden ist?“

„Doch, doch … Unser Papa hat mal gesagt, dass wir auf den alten Šrámek aufpassen sollen. Der hatte irgendwelche Funktionen im Gemeindeausschuss, und als sie bei uns 1950 die Hausdurchsuchung gemacht haben, auf eine Denunziation hin, dass wir von den Lieferungen was abzweigen und Getreide verstecken, da haben meine Eltern Šrámek verdächtigt. Aber Rózina?“

Sie blickte mich an. Schließlich stellte sie die Frage, die ich erwartet, nur indirekt.

„Wer weiß, wo sie heute steckt … Auch ich hab in der Kirche für sie gebetet, wissen Sie?“, wischte sie sich die Tränen mit dem Taschentuch ab.

Sie fragte nicht nach ihr. Unser Nachmittagskaffee war zu Ende.

„Ich danke Ihnen sehr“, sagte sie leise.

„Die Šrámeks sind nicht mehr im Dorf, stimmt’s?“, fragte ich, als wir schon auf dem Weg nach draußen waren.

„Ich glaube, dass sie irgendwann Anfang der Siebzigerjahre weggezogen sind. Da war Petr Šrámek schon tot, der, der beim Gemeindeausschuss war.“

„Was hat ihr Vater sonst noch über ihn gesagt?“

„Ich möchte da nicht so gerne drüber sprechen“, zögerte Frau Hermová. „Ich will nach fünfzig Jahren keinen Klatsch und Tratsch verbreiten.“

„Zur Zeit des Protektorats soll es angeblich im Dorf einige Denunziationen gegeben haben. Weil sie Schweine geschlachtet haben, schwarz …“

„Die Šrámeks … Das war so eine unglückliche Familie. Petr hatte einen Bruder, der ist bei der Arbeit im Steinbruch umgekommen, noch vor dem Krieg. Die haben ewig Streit gehabt, als er noch am Leben war, man sagte, es ging um die Felder, um den Familienbesitz. Auch mit der Schwägerin, der Witwe vom Šrámek hat er dann im Streit gelegen. Was für ein Ende die genommen hat, das haben Sie ja in der Chronik gelesen, nicht?“

„Ja, aber da steht nicht, warum sie sie …“

„Und hat Markyta dort notiert, dass die Deutschen im Krieg den Förster Bouza verhaftet haben?“

„Das steht drin“, fiel mir ein. „Die Gestapo ist ihn holen gekommen, weil er im Forsthaus Feinde des Reichs versteckt hatte. Er ist nicht aus dem KZ zurückgekommen … Deswegen also?“

„Sie soll angeblich noch mehr auf dem Gewissen gehabt haben. Und Petr Šrámek war ’45 auch mit bei dem Prozess. Als Zeuge, hat er allen erzählt. Diejenigen, die dort gewesen sind, haben aber gesagt, dass er nur deshalb zurück nach Hause gekommen ist, weil sie ihm schlicht nichts beweisen konnten.“

„Und dann ist er in den Gemeindeausschuss …“

„Er hat zusammen mit Šoucha in Tomašice die Genossenschaft gegründet.“

Weiter quälte ich Frau Hermová nicht. Sie ging davon, die Plastiktüte mit den beiden schweren Büchern in der Hand. Ich schaute ihr nach, bis ich sie zwischen den Leuten auf der belebten Straße aus den Augen verloren hatte.

Also wird auch jetzt niemand diese Chronik im Archiv finden, fiel mir ein. Kann gut sein, dass sie auch niemand mehr suchen wird.

„Ich bin Rozálie Zandlová“

Innerhalb eines Moments wurden meine auch so schon kalten Hände zu Eis. Ich blickte die alte Frau in ihrem braunen, verzweifelt unmodernen Polyesterkostüm an. Die weißen Haare nach hinten aus der faltigen Stirn gekämmt, auf jeder Seite ein braunes Kämmchen.

„Ich hab Ihnen geschrieben, ich weiß nicht, ob es angekommen ist … Kann ich mit Ihnen reden?“

„Ja“, kam ich wieder ein bisschen zu mir. „Gehen wir nach oben in den Forschungsraum, damit wir nicht hier auf dem Gang herumstehen …“

„Nein“, sagte sie, nachdem sie die Treppe hinaufgeblickt hatte. „Könnten wir hier …? Die Treppe da hoch schaff ich’s nicht“, fügte sie entschuldigend hinzu.

Verwirrt schaute ich mich im Vestibül um, es gab keinen Ort, wo man sich hätte hinsetzen können. Ich versuchte mich zu beruhigen. Ich wusste auf einmal nicht, was ich tun sollte. Der Pförtner hatte uns zugehört, er bot uns einen Stuhl am Schreibtisch der Pförtnerloge an, vom anderen Stuhl nahm er seinen Mantel weg, er wollte sowieso gerade zum Rauchen hinausgehen. Sie setzte sich mir gegenüber, die Handtasche auf dem Schoß. Ich bemerkte, wie durchnässt ihre Schuhe waren.

„Ich komm wegen meinem Sohn. Bitte, bitte, tun Sie ihm nichts. Er kann nichts für das alles. Ich weiß, was die gegen ihn rauskramen wollen … Er is ein guter Mensch, bitte …“

Ich sagte nichts, sah in ihre eingefallenen braunen Augen, sie waren sehr, sehr dunkel. Ihren Krückstock hatte sie gegen die Tischplatte gelehnt. Sie sprach langsam, in ihrer Stimme schwangen Befürchtungen mit.

„… die kommen schon seit dem Frühjahr zu ihm, die erpressen ihn, dass ich eine Denunziantin war und Leute in den Knast gebracht hab. Dass sie das veröffentlichen und ihn fertigmachen, politisch.“

Sie saß mir tatsächlich gegenüber, unsere Knie berührten sich fast. Ihre Strümpfe waren auch nicht die neuesten. Unwillkürlich musste ich an den Tierfilm denken, den ich mir mit dem kleinen Hynek am Wochenende angeschaut hatte. Eine alte Elefantenkuh verteidigt verzweifelt ihr Junges, obwohl sie umringt sind von Jägern in Autos mit Fangschlingen an langen Stangen …

„Aber das war alles ganz anders. Ich bin damals lieber aus Tomašice weg. Ich war mit meinem Frantík alleine, wir haben uns zu zweit durchgeschlagen. Ich kam dann auf ein Staatsgut. Die haben mir zwei Räume zugeteilt, einen kleinen Ofen hab ich von den Nachbarn gekriegt, im Winter haben wir mit Holz aus dem Wald geheizt. Und das Arbeiten auf dem Feld und dem Gut, das konnte ich ja. Also haben wir zusammen alles durchgestanden, und mein Frantík konnte dann auch auf die Wirtschaftsschule … Ich hab immer alles nur für ihn gewollt …“

„Also, ich muss jetzt“, sagte ich entschuldigend. „Meine Sachen holen und so, die machen hier gleich zu.“ Ich erhob mich vom Stuhl, sie wollte mich nicht weglassen, es war in ihrem Blick, sie hatte noch nicht alles gesagt.

[…]

„Den Brief“, schaute sie mich fragend an, ich setzte mich wieder hin und sie sprach mit wachsender Verzweiflung in der Stimme weiter, „den Brief hab ich damals geschrieben, weil der junge Herr, der Kubach, immer nach Smrčí gegangen ist. In die Säge, zum Šilhavý, Karten spielen. Die haben dort auch getrunken, und er ist der jungen Šilhavá nachgestiegen, der Lída. Und dabei hat er mir doch versprochen, dass er mich heiratet, das hat er immer wieder versprochen, aber er ist wegen der da hin, die war blutjung … Im Dorf ist er mir aus dem Weg gegangen, und mein Frantík war ja schon groß, er hat versprochen, dass wir zu ihm aufs Gut gehen, dass wir Hochzeit machen, dass er sich nach all den Jahren zum Frantík bekennt … Er hat mir’s versprochen!“

Völlig aufgewühlt umklammerte sie ihren Krückstock. Ich schob ihr eine Tasse Tee hin, die der Pförtner gerade frisch gekocht hatte. Sie nahm einen Schluck, ihre Hand zitterte genauso stark wie ihre Stimme. Ihr Geruch drang zu mir wie der Atem eines alten Schranks, eine Mischung aus alter Seife und ausgetrocknetem Holz.

„… und da hab ich in den Brief reingeschrieben, dass die sich dort in Smrčí treffen und Glücksspiele spielen, das stimmte ja! Ich hab das zum Gemeindeausschuss geschickt. Ich wusste doch nicht mehr, was ich machen soll, ich wollte nur, dass er nicht mehr da hingeht! Glauben Sie mir?“

Ich rieb mir die Augen und massierte meine Stirn mit den Handflächen. Also ist das für mich nicht mehr bloß ein Stück Papier, ein alter Zettel mit verschwommener Tinte …

„Glauben Sie mir, ich wollte doch bloß, dass er der Liduša Šilhavá nicht nachstellt, dass die vom Gemeindeausschuss denen allen das Zocken verbieten. Der Šoucha saß im Gemeindeausschuss und der hat verboten und erlaubt, was man im Ort durfte und was nicht! Ich wollte doch nicht, dass sie jemand einsperren …“

Ich schwieg, es war unmöglich ihrem verzweifelten Blick lange auszuweichen. Wir saßen viel zu dicht beieinander.

„An dem Abend war der junge Herr, also der Francek, ausgerechnet nicht dort. Der alte Herr Kubach saß da, zusammen mit dem Jircha. Angeblich sind die mit Leuten von der Staatssicherheit da rein, weil sich in der Säge Kulaken zusammengerottet und sich gegen die Genossenschaft und gegen die volksdemokratische Ordnung verbündet haben …“

Während sie sprach, war ihr Blick starr auf etwas neben mir gerichtet, aber dann schaute sie mir in die Augen. Und sie wiederholte es noch einmal, immer wieder von vorn.

„Ich wollte das nicht, verstehen Sie …? Ich wollte, dass der junge Kubach nicht mehr zu den Šilhavýs in die Säge geht. Ich bin keine Denunziantin, wie das dann im Dorf erzählt worden ist. Dafür waren dort andere zuständig … Jeder in Tomašice hat gewusst, dass in der Säge gezockt wird. Der Šilhavý war besessen davon. Da sind mehrere Leute spielen gegangen. Die Säge haben sie ihm nach dem Putsch ’48 weggenommen, aber meine Mutter hat immer gesagt, dass er die sowieso mit seinen Karten verspielt hätte …“

„Jetzt muss ich aber wirklich, das Archiv macht zu …“

„Jeder hat das gewusst, dass dort gespielt wird. Bloß ich hab eben den Brief geschrieben … Das ist rausgekommen und meine Mutter hat damals gesagt: Pack deine Sachen, nimm den Frantík und fahr auf die Vysočina, wir haben dort Bekannte, die auf einem Gut arbeiten, die brauchen Leute zum Arbeiten …“

Wir gingen wieder ins Vestibül.

Der Pförtner kam von draußen zurück und ich ließ sie dort auf den steinernen Fliesen stehen.

[…]
© Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch, 2008, E info@worte-und-orte.de