Petr Borkovec

Bei Tony

2017 | Fra

Die Viale Catone ist die Hauptstraße des Städtchens Lido di Dante. Man erkennt es sofort, weil hier die Trafik und die Bäckerei sind. Die Bäckerei zeichnet sich dadurch aus, dass sie nie offen hat, die Trafik wiederum, dass sie nie schließt. Außerdem stößt ihr hier auf etliche Dienstleistungsbetriebe, die sich die Trafik oder die Bäckerei nachzuahmen bemühen, aber es gelingt ihnen nicht. Zu den Bäckerei-Epigonen gehören zum Beispiel ein Friseur und eine Ferien-Agentur namens Dante Alighieri, zu den anderen bekennen sich stolz die Kapelle und die beliebte Bar Bei Tony.

„Ah, unser scrittore traduttore ist da“, begrüßt mich Tony. „Ein weiterer Dieb im Saal.“

Natürlich gibt er damit zu verstehen, dass das Übersetzungswesen etwas ist, was bei ihm in der Bar jeden Tag erörtert wird. Was möglich ist. Ich höre ihm aber lieber bei seinen Vorträgen über zehntausend Euro teure Trüffeln, romagnolische Wasserhunde, die diese in den Hügeln aufzuspüren vermögen, und über Damenschuhabsätze zu. Tony, der (nachgefragt habe ich nicht) ungefähr siebzig ist und in etwa aussieht wie ein slowakischer Ingenieur, der den Großteil seines Lebens im Sozialismus verbrachte, hat die Karriere eines Designers modischer Pumps hinter sich. Sein größter Erfolg sind zwei Jahre Arbeit für Calvin Klein gewesen. Ich verstand, dass das, worin er echt gut gewesen war, extrem hohe Stöckel waren.

„Die Kunst dieser Arbeit“, hatte er mir einmal gesagt, „besteht darin, wirklich hohe Bleistiftabsätze so zu entwerfen, dass sie nicht urordinär aussehen.“ Dabei hatte er in einem dicken Heft voller Ausschnitte aus alten Modeheften geblättert. Die Prozessionen schöner Fußsohlen und Knöchel trugen den Stempel ihrer Zeit, von damaligen Fotoapparaten und polygrafischen Techniken, sie waren bleich und statuenhaft – ein bisschen den Falten auf dem Bild der Rosenkranzmadonna gleichend, die hinter dem Bartresen hängt. Ich weiß nicht, warum Tony keine Damenschuhabsätze mehr entwirft, warum er aus Mailand weggezogen ist und sich eine Bar am Meer zugelegt hat.

Das Lokal ist ganz unspektakulär. Plastiksessel, die sich vor zehn Jahren unter die hölzernen gemischt hatten. Die Hündin Meme, die es versteht, sich auf die heiß gewordenen piastrelle plumpsen zu lassen wie kein anderer Hund auf der Welt. Ein abgestoßenes Tischfußball, bei dem statt mit Bällchen mit kleinen Achatkugeln gespielt wird, die es massenweise gibt in der Umgebung und die perfekt rund sind. Das von den Spielern, darunter mir, hallende Gerassel erinnert an die schweren Münzen in einem blechernen Automaten. Auf den Tischen im Freien stehen Aschenbecher und silberne Ständer für die dünnen Papierservietten, ohne die die heiklen Italiener nicht auskommen. Für die Krapfen eine aufklappbare Kühltheke, deren überzuckerte Dämmerung nie ruht, und in der Tür eine Vorhang aus kakaofarbenen Plastikteilchen. Tony bietet das übliche Repertoire italienischer Bars an, die einzige Ausnahme sind kleine piadine mit Rucola, Ziegenkäse und Feigen.

Ihr wisst nie, wer euch hier bedient: Mir scheint, es könne ein jeder der häufigeren Gäste sein. Vor kurzem habe ich von der Serviererin des Restaurants Costaverde erfahren, dass über der Bar Fremdenzimmer sind, die Tony aber schon lange nicht mehr vermietet.

„Wer würde dort hinwollen“, sagte sie und ging nicht näher darauf ein.

Womit ich sagen will, dass in der Bar ein wenig Chaos und Unordnung herrschen, wie ich sie mag. Der Besitzer, obwohl er keine Angestellten hat, sieht die meiste Zeit wie ein gewöhnlicher Gast aus. Ich weiß nicht, vielleicht kommt es daher, dass Tony keine Familie hat. Nie eine gehabt hat.

„Gio mio ist vor zwei Jahren gestorben, er liegt in Forlì begraben“, sagt er, und hinter dem Bartresen, unter der Rosenkranzmadonna, prunkt auf einem Glasbord eine Sammlung von Hello-Kitty-Kätzchen, das größte hält ein Regenbogenfähnchen im Pfötchen. In der Ecke steht ein Automat, und in ihm, um fünfzig Cent – Rosenkränze mit Kreuzchen dran und Puderquasten. In der Toilette ein riesiges Plakat von Freddie Mercury im ärmellosen weißen Unterhemd. Und seht ihr, gerade jetzt hat Tony ein blitzsauberes helllila Poloshirt mit aufgestelltem Kragen an und lacht und umarmt alle und legt den Leuten den Arm über die Schulter und im anderen hält er dabei die benommene Meme, die komplett unberührt davon ist, was geschieht. Nach sechs Uhr nachmittags wird die Bar lebendig. Vom Meer kommen Touristen und bestellen sich Aperitifs. Und Frida und Anja haben sich nach der Siesta aus ihren Wohnungen heraus gewurstelt und fallen todhungrig in Tonys Sesselchen. Die zwei wirken schon lange auf dem Lido. Obwohl sie in dieser Gegend nicht allein sind mit ihrer Profession und dem unbestimmten Geschlecht, stechen sie am meisten ins Auge. Anja ist kleiner und sommersprossig, sie hat hübsche Beine und trägt ein fuchsiafarbenes Kleid. Frida wirkt unordentlich und ähnelt Steven Tyler, wie er gerade ein Erdbeereis gegessen hat. Eine bessere Beschreibung spare ich mir für ein anderes Mal auf.

Ich sitze schon mehr als zwei Stunden lang bei Tony. Die Sonne sticht herunter wie bei meiner Ankunft, vom Strand ist das gleiche Geschrei zu hören. Vor mir ist ein Freiraum und am Ende davon ein Gemüsestand. Rechts eine Rasenfläche mit Platanen und Kinderspielplatz, die bis zum Strand reicht. Vom Campingplatz klingt Musik, ab und zu von Lachen und Anweisungen unterbrochen. Ich sollte gehen. Und ich gehe – in Gedanken, und geradewegs in Tonys Fremdenzimmer oben.

Die hässlichen Treppen, wie aus weißem Material gegossen, haben jetzt in der Nacht die Farbe gekochten Fischfleischs. Die Wände des Treppenaufgangs sind mit grünem Stoff überzogen, der ein paar Zentimeter vor der tatsächlichen Mauer liegt, sodass die herumtappende Hand leicht einsinkt. Die Bilder, und es gibt hier viele, hängen an in der Decke verankerten Stahlfäden. Ein Fußboden aus braunem Leder im Flur des ersten Zimmers, das ich betrete. Geschlossene Fensterläden, Staub, der Geschmack von Schimmel, Hitze und so. Ich bin gekommen, um zu stehlen. Ich tue das nicht zum ersten Mal und ich habe gute Lehrer gehabt, und so suche ich bei der Tür blind nach Schuhen, um sie zu verstecken und einem etwaigen Verfolger die Chance zum Hineinschlüpfen zu nehmen. Ich ertaste im Dunkeln nur ein Paar – leichte Lederpantöffelchen mit Stöckel, vorne mit irgendeiner Stoffverzierung. Aus dem Raum daneben fällt ein grauer Streifen. Ich öffne die Tür: Hier ist der Fensterladen halb offen und dahinter sieht man den Schnabel einer Straßenleuchte auf dem Damm und schwarzes Wasser, in das die Scheinwerfer der Erdölbohrung schlagen. Die um eine Nuance hellere Dunkelheit, in der ich mich eine Weile nicht zurechtfinden kann, zeigt ein zerknautschtes Bettlaken in der Mitte des Raums, aus dem ein nacktes Bein ragt. Und darum herum Ständer mit dunklen Scheinwerfern und Stangen.

Ich sollte gehen. Ich zahle und verabschiede mich. Tony winkt mir und lacht und sagt:

„Morgen musst du unbedingt kommen. Marco macht einen Zucchiniflan.“

Ich habe keine Ahnung, wer Marco ist. Aber ich erkundige mich nicht danach und verspreche zu kommen. Die Viale Catone ist voller Eidechsen. Am Campingrestaurant Ramazzotti vorbei, wo man längst zu Abend isst, kehre ich heim und nehme den Weg am Rand der Pineta, die gleich heißt wie der Campingplatz. Dieser Wald besteht nur aus zwei Kiefernarten – der Seekiefer, pino marittimo, mit dunkler Borke und der Schirmkiefer, pino domestico, mit noch dunklerer Borke –, da und dort von kleinen Eichen durchbrochen. Das Po-Delta verläuft hier, und es ist eine Domäne von Zikaden und Mücken und kaum jemand kommt her. Aber nicht nur wegen der Insekten – Wald und Restaurant draußen tragen den Namen des Forstverwalters Quilinto, den hier im Jahre 1931 Wilddiebe getötet haben; mitten in der Pineta, an der Gabelung mehrerer Sandwege, hat er einen Gedenkstein mit einem Adler und zwei gekreuzten Äxten. Wenn ihr hier, in diesem schwarzen Wald, in dem ein Mord geschah, so herumspaziert, vergesst ihr völlig, dass sich ein Stück hinter ihm das Meer und ein Strand voller Menschen befinden. Dann schießt euch erschrocken durch den Kopf, dass ihr schon eine geschlagene Stunde lang niemandem begegnet seid. Unmittelbar darauf, und da würde ich nur mehr ungern in eurer Haut stecken, stellt ihr fest, dass ihr nicht mehr schreien könnt: Die Zikaden machen einen solchen Krawall, dass ihr nicht mal euch selber hört. Es ist unerwartet und unbegreiflich. Und so versucht ihr es mehrere Male hintereinander aus Leibeskräften, und sicher hättet ihr es nicht gern, in diesem Moment von jemandem beobachtet zu werden. Und dann passiert etwas Schreckliches. Ein ghiro landet auf eurem Rücken. Ihr wisst allerdings nicht, dass es ein ghiro ist, und sofern ihr nicht wisst, was ein ghiro ist, wird es ganz schön lange dauern, ehe ihr herausfindet, was euch da eigentlich auf den Buckel gesprungen ist. Kurzum, etwas sitzt dort, aus eurem Gesicht ist alles Blut gewichen, und wenn ihr euch umdreht, wie es nur geht, – und vermutlich werdet ihr dabei auch hin und her laufen, und sicher auch schreien – spürt ihr, wie dieses Etwas aufpasst, damit ihr bloß nichts zu sehen bekommt. Es läuft euch über den Rücken wie ein gewaltiger Schauer, um sich dann eine Stelle in der Mitte, knapp unter den Schulterblättern, zu suchen, wohin ihr einfach nicht schauen könnt. Und erstarrt dann. Wie jeder habe ich ein paar Dinge, die ich gerne wieder zum ersten Mal erleben würde: Die Lektüre von Tom Jones zählt dazu und ein ghiro auf dem Rücken. Den ghiro habe ich kürzlich, nach meinem Vierziger, der Sammlung hinzugefügt. Bücher hatten die Erlebnisse abgelöst, das ist kein gutes Zeichen. Wie ihr so nach vorne gebeugt im Kreis rennt und schreit wie am Spieß, gebietet euch was einzuhalten, euch aufzurichten und zu verstummen. Und in dem Moment erblickt ihr auf einer gegenüberliegenden Kiefer zehn ghiros, die ganze weitere Verwandtschaft jenes Siebenschläfers, der bereits abermals auf eurem Rücken herum marschiert. Noch bevor ihr allen in die großen schwarzen Augen geblickt habt, klettert dieser Held ihr haltet ja so herrlich still und diese grässlichen Laute haben aufgehört langsam herunter und schließt sich den Tanten auf dem Ast an.

Unsere Putzfrau, Frau Marinella, die im nahen Dorf Porto Fuori geboren ist und schon jahrelang in Lido di Dante wohnt, behauptet, in der Pineta würden ganze Rudel von Stachelschweinen leben. „Stachelschweinrudel“, genau das sagt sie. Ich habe nie eines gesehen. Frau Marinella sagt auch, dass sie, als sie ein Kind war, fast jeden Samstag Siebenschläfer zum Mittagessen hatten.

„Jetzt könnte ich das höchstwahrscheinlich nicht mehr, aber es ist immer hervorragend gewesen, sie haben wie Ziegenkitz geschmeckt.“

Schade, dass ich nicht wie Frau Marinella hier geboren wurde. Wenn ich so am Meer vorbei, über dem es dunkel wird, heimkehre, zwischen Nachlese haltenden Vögeln, über knirschende Muscheln, kommt mir vor, dass ich an das alles Erinnerungen habe, die ich nicht habe:

Wir Jungs liegen auf dem Steindamm und halten Ausschau. „Siehst du ihn“, zischt Erik, rutscht von einem Stein und tastet mit dem nackten Fuß nach den Flipflops. „Nein“, sagt Bejan. „Links, hinter diesem Holz. Er ist pünktlich.“ Aus dem trockenen hohen Gras, hinter dem das Delta mit den Reihernestern fault, taucht eine dunkle Gestalt auf. Sie bleibt stehen, steht da, groß, ohne Beine, ohne Kopf, mit Armen bis zum Boden. „Was ist das? Edward mit den Scherenhänden?“, sagt Bejan. „He, Bejan, mir ist klar, dass du exakt wie letztes Mal vor Angst die Hosen gestrichen voll hast. Aber ich mach dich drauf aufmerksam, dass du, wenn du uns auch wieder verrätst wie letztes Mal, aus unserer Gang ausgeschlossen bist. Kapiert?“ „Klar, kapiert“, flüstert Bejan. „Heute läuft nichts, wir sehen ihn uns heute nur kurz an und werden über ihn nachdenken. Drum weiß ich echt nicht, warum du Gänsehaut hast und eine Stimme wie ein fünfjähriges Kind“, sagt Erik abschließend.

Mit angehaltenem Atem beobachten wir den alten Mann in der knielangen Fischerpelerine, der sich auf der Stelle im Kreis dreht und mit einem Detektor über dem Sand den Boden absucht. Der Apparat pfeift leise. Dann wird das Geräusch unvermutet stärker, schießt hinauf und wird zum Fistelton. Der Mann stößt die siebartige Schaufel an dem langen Griff in den Sand. Der Sand fällt durch. Er nimmt noch einmal eine Ladung. Dann noch einmal. Er bückt sich und zieht etwas heraus, das golden glänzt, bläst den Sand weg und öffnet mit einer raschen Bewegung den Gummimantel. Ein Gürtel mit großen schwarzen Taschen darauf kommt zum Vorschein. In eine davon wirft er das Ding hinein.

„Sie nennen ihn Nanu, Meister Nanu“, haucht Erik. „Er ist schrecklich reich.“ Müde schiebt das Meer die Wassertassen auf dem Strand hin und her. Die Flut steht bevor.

 

Aus dem Tschechischen von Christa Rothmeier