Altgewordene Löwen
Hinter dem Vorhang klaubt Nataša Linsen. Handschaufelweise füllt sie die flachen Perlen in immer neue Papiertüten ab; das Bonus-Päckchen kommt gut an. Hanka Malá fertigt endlich den letzten nach frischen Hörnchen gierenden Wochenendhäusler ab. Nur noch die alte Klatschbase Drbavá steht vor der Ladentheke. Nataša schiebt ihr eine Gratis-Linsentüte zu.
„Ein schönes Wochenende noch, Frau Drbavá!“
„Zwei Tüten krieg ich, Nataša! Hab an der Kasse fast zweihundert bezahlt, die Hanka hier kann es bezeugen.“
Nataša stellt der aufgebrachten Frau im Kopftuch noch eine Tüte hin.
„Na dann herzlichen Glückwunsch, Frau Drbavá. Wiedersehen.“
„Sagen Sie mal: Bei dieser Versammlung im Rathaus, ist da was Neues rausgekommen?“
„Nee. Die hocken noch da. Wir wollen gleich hin, die Gnädigste kucken.“
„Ich komm mit.“
„Brauchen Sie nicht.“
Genauso wie der Briefträgerin liegt auch Frau Drbavá ihr Versagen von Anfang der Woche schwer im Magen. Ihre ausgestreckte Schön-Willkommen-Hand. Die Briefträgerin fährt ihre Wut mit dem Fahrrad aus, mit übler Nachrede würzt sie die knappen Renten. Die Drbavá wiederum lässt im Kuhstall in langen Schimpftiraden die Luft raus.
„Doch, meine Liebe, ich komm schon mit.“
Die Ladenklingel bimmelt, Meister Oujezdský betritt den Laden. Die drei Frauen öffnen den Mund, vergessen die Welt um sich herum und seufzen ergriffen.

*
Ich gebe nicht auf. Das Recht ist auf meiner Seite.
„Ja, ich war in Behandlung. Wundert Sie das etwa? Nach all dem, was Ihr Vater mir angetan hat, dieser Ladislav Stolař, der Lakai und Knecht meines Vaters?“
Der Rechtsanwalt will mich unterbrechen, mich am Ellbogen aus dem Saal hinaus führen.
„Ich wiederhole noch einmal. Frau Dr. Lauschmannová hat Ihnen ein ungewöhnlich großzügiges Angebot unterbreitet. Wenn Sie es nicht diskutieren wollen, haben wir hier nichts mehr zu suchen. Ihre vorherige Bemerkung, Herr Bürgermeister, stellt nicht nur eine unpassende Einmischung in die Privatsphäre meiner Mandantin dar, sie ist gleichzeitig eine strafbare Beleidigung, wir behalten uns eine Klage vor. Mit unserem Fall steht dies definitiv in keinem Zusammenhang.“
Er rüttelt an meinem Arm.
„Frau Doktor, glauben Sie mir, wir vergeuden hier nur unsere Zeit. Und unsere Nerven.“
Stolař wippt noch einmal hin und her. Die Stuhlbeine klackern laut gegen den Fußboden. Finale. Zur Bestätigung stampft Stolař mit seinen verstaubten Adidas-Schuhen auf das Parkett. Der Feingerippte und das Flanellhemd rücken einen Schritt näher auf ihn zu. Als ob sie einem verabredeten Zeichen gefolgt wären. Wachsame Bodyguards.
„Und was hat das nun mit uns zu tun, hä? Wenn die Alte hier uns das Dach überm Kopf wegnehmen will? Sie spielt das unschuldige Lämmchen, spaziert wie ein Engelchen durch das Dorf, kauft im Laden die ganzen Kakao-Vorräte auf, am liebsten würde sie alle nur ausnehmen, jeden von uns, die wir seit eh und je mit ehrlicher Arbeit unseren Lebensunterhalt bestreiten. Nur dazu müsste die Gnädigste zurechnungsfähig sein. Und das ist sie leider nicht, keine Chance! Ich hab hier nämlich was gefunden!“
Stolař schlägt eine schwarze Mappe auf. Versucht den silbernen Ringen einen Stoß Kopien zu entreißen. Der bislang schweigsame Denis legt seine Hand auf die Papiere und hält sie fest. Er und Stolař ziehen die Mappe hin und her. Denis zischt: „Das tut hier nichts zur Sache, das ist doch alles ganz anders, die wollen sich einigen, mach kein Theater.“
Stolař läuft rot an. Ein unkontrollierter Wutanfall. Er reißt die Mappe an sich.
„Ich schlag ‘ne kurze Pause vor.“

Die beiden ziehen sich zurück und schließen die Tür hinter sich. Das Kaffeeschlürfen wird nur vom Staccato ihrer Stimmen unterbrochen.
Alle schweigen. Spitzen die Ohren. Um Stolařs verborgenen Monolog besser zu verstehen. Die Sonne räkelt sich und leitet ihre überflüssige Energie in Schweißtropfen auf den Körpern der Anwesenden. Der Friseur bittet das Fräulein Assistentin um etwas Mineralwasser. Sie darf aber nicht, Stolař hat es der jungen Frau verboten. Es ist ihr peinlich. Sie kreuzt die Arme vor der Brust, knabbert am Ringfinger der linken Hand, scheucht eine imaginäre Fliege weg. Und erschrocken fährt sie zusammen, als ich meinen Stuhl zur Seite rücke.
Nur ich schwitze nicht.
„Halt die Klappe, Mann, du bist nur als Zeuge hier, als Vertreter der Schlossinsassen, sollst deine alte Mutter und deine Schwester verteidigen, wo man sie g‘rad wie Dreckwasser auf die Straße kippen will… und plötzlich wechselt der Herr die Seiten… Das hätte ich besser wissen müssen, war doch klar, du lebst nicht hier, hast keine Beziehung zu… Ich wollte mich mit einem studierten Kopf absichern. Hätt ich bloß einen von uns genommen.“

Im letzten Moment noch springe ich zur Seite. So schnell stürmt der verehrte Herr Bürgermeister in den Raum zurück.
Mit dem Auseinanderziehen der Silberringe hält er sich nun nicht mehr auf. Er reißt die Blätter einfach heraus. Wiegt das Papierbündel in der Hand. Gönnerhaft klopft er Denis aufs Handgelenk, sieht ihn dabei aber nicht an.
„Danke für die Hilfe, Denis. Ab jetzt betrifft die Sache nur noch die Unsrigen, alle, die hier leben und dieses herrliche Fleckchen Erde auch wirklich lieben.“
Denis will sich den Rausschmiss nicht gefallen lassen.
„Mit Verlaub, die Sache betrifft mich immer noch. Bloß die Situation ist anders. Ich habe nicht geahnt, dass Frau Dr. Lauschmannová Einigung sucht. In diesem Zusammenhang ihre gesundheitlichen Probleme öffentlich zu erörtern finde ich… äußerst geschmacklos.“
„Geschmacklos? Eine Schweinerei ist das. Komm doch, bitte, worauf wartest du, lass uns gehen!“
Stolař beachtet meine aus der Fasson geratene Enkelin nicht. Die Spaltung im eigenen Lager wurmt ihn. Die entgegenkommende Höflichkeit von Denis.
„Auf einmal. Plötzlich willst du alles zurücknehmen. Bist ein feiner Herr geworden, was? Die Unzurechnungsfähigkeit war doch deine Idee. Und keine so schlechte.“
Denis meidet meine Augen. Er studiert den ovalen Rand seines Kaffeebechers; die Einfassung eines Brunnens, in den er sich vor Scham hinein versenkt. Es ist so erfrischend. Dieses Gefühl, dass in diesem Raum noch jemand anderes Scham empfindet. Noch jemand außer mir.
„Mir waren nicht alle Fakten bekannt, mir standen nur bruchstückhafte und verzerrte Informationen von meiner Mutter zur Verfügung, von dir und von Nataša.“
„Na dann fassen wir jetzt die Fakten hübsch zusammen.“
Denis legt seine schöne Hand mit den langen Fingern über die schwarze Mappe. Über die inzwischen leere Mappe.
„Ladislav, lass das. – Es wäre besser, alles auf dem Gerichtsweg zu klären. Frau Lauschmannová, ich möchte mich für uns alle entschuldigen, vor allem für mich selbst. Das Ganze ist so unappetitlich, ich weiß, und mein Verhalten lässt sich kaum erklären, weil…“

Stolař schenkt Denis keine Beachtung mehr. Definitiv keine.
Selbstgefällig fächert er die Papiere auf dem Tisch aus. Wie ein professioneller Patiencespieler. Einzelne Trümpfe schiebt er in die Richtung meines Anwalts. Und seine Worte, diese durch harten Drill unbarmherzig gewordenen Boten, die schickt er auf mich los.
„Ich habe nämlich einen ziemlich guten Bekannten, der wiederum gute Bekannte in der Psychiatrie hat, und Sie werden nicht glauben, was man dort für mich ausgegraben hat.“
Der Anwalt gibt das Signal zum Aufbruch. Geräuschvoll ordnet er seine Dokumente. Dann verstaut er sie in seiner Aktentasche. Und kommt zu mir, tippt mir wieder auf die Schulter, ich solle aufstehen. Diesmal ist seine Berührung aber sanfter. Auch er ist neugierig geworden. Wittert etwas Skandalöses. Eine Enthüllung.

Ich wittere die guten alten Kopfschmerzen. Sie schleichen sich unauffällig an. Früher ging es Schlag auf Schlag. Mein Kopf blähte sich auf, schwoll an. Inzwischen sublimieren sich die Qualen in mehrere raffinierte Phasen. Am Anfang steht ein zuckender Schmerz. Als ob jemand meine Stirn und meine Haare mit dicken, weich gekauten Kaugummiklumpen beklebt. Sie auseinanderzieht und als rosane Tupfer in meinen Kopf einmassiert. Um sie dann mit einer raschen Bewegung ruckartig abzureißen. Das ist die erste Phase.
In der nächsten legt mir eine unbekannte Hand einen Verband aus breiten, grauen Streifen Teppichklebeband an. Um den ganzen Kopf herum. Um ihn dann auf einmal zu entfernen. Reißt büschelweise die angeklebten Haare aus. Fetzen von Fleisch hängen an ihnen. Nur der blutige, harte Schädel bleibt.
Ich gebe nicht auf. Ich bin im Recht. Gut, dass ich mich immer wieder in mein Loch verkriechen kann. In das Loch, wo alte Löwen büschelweise ihr Fell verlieren und wo sie die stark gelichteten Reihen ihrer gelben Zähne blecken.
Ich werde mich nicht vom Fleck rühren.

Der Anwalt schnappt sich die Tasche, wirft sein Jackett leger über die Schulter.
„Lieber Herr Bürgermeister, das erkennt kein Gericht auf der ganzen Welt an. Andersherum wird ein Schuh daraus: Wir erstatten Anzeige gegen Unbekannt. Wegen Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht. Falls das Ganze keine Fälschung und kein billiger Trick ist. Frau Lauschmannová, kommen Sie.“
„Aber lieber Herr Doktor, bleiben Sie doch. Es dauert nicht lange. Sie werden sehen, es lohnt sich. – Lassen Sie uns nun anfangen. Sie haben Ihren Nachnamen nie geändert, nicht wahr? Das stimmt doch, oder? Frau Gita Lauschmann?“
Er spricht im Stehen. Ich sitze. Vor einem selbsternannten Gerichtstribunal. Die abschließende Urteilsverkündung. Verbrechen unbekannt.
Meine Glieder werden steif, ich starre auf die behaarten Arme von Stolař und den verwachsenen Nagel an seinem Daumen, seinen vom Nikotin gelben Zeigefinger. Ein Zittern überkommt mich. Ich weiß genau, worauf er hinaus will.
Sich dagegen zu wehren ist unmöglich.

Bonus
Meister Oujezdský tritt ein, hinter dem Vorhang kommt ein von weiblichen Händen in Bewegung gesetzter Sessel auf Rollen hervorgefahren, der Meister wird hinein gesetzt und geherzt, längs um die Ladentheke herum geschoben, auf dass er bloß nicht müde werde. Wohlwollend nimmt er die dargebotenen Gaben an. Der Reihe nach verschwinden in den Tiefen seiner Einkaufstasche und seines Rucksacks ein frischer Brotlaib, unzählige Hörnchen, eine Stange Jägersalami, Putenschinken, ein Würstchenkranz, ungarische Paprikawurst, süßer Senf, eine Flasche tschechischer Rum, eine Pulle Cognac, Cashew-Nüsse, Mandeln, zwanzig Flaschen Bier. Emsig wie Bienen tragen die zwei Damen die Leckereien herbei. Atemlos sieht Oujezdský zu, wie jedes Mal, wenn seine Rechnung um hundert Kronen steigt, die dritte aus dem entzückten Bunde, die gute Drbavá, eine geheimnisvoll raschelnde Tüte zur Seite legt.
„Bonus für treue Kundschaft, wissen Sie. Ich passe auf, dass man Sie hier nicht über’s Ohr haut, Meister.“
Ein plötzlicher Einfall bringt Natašas Wangen zum Glühen. Die bauchige Portweinflasche, die ihr Hanka Malá gerade von oben reicht, stellt sie auf der Theke ab.
„Würden Sie auf jede von diesen Tüten Ihr Autogramm setzen, Meister, was meinen Sie, was das für einen Kaufrausch hervorrufen wird.“
Der weiße Kittel auf der Leiter ist gleich Feuer und Flamme.
„Ja! Bloß lieber hinterm Vorhang, Nataša, damit nicht noch ein Gaffer unseren Meister stört.“
Schweißtropfen perlen von Meister Oujezdskýs Stirn, gehorsam dackelt er hinter den Vorhang und nimmt am Tisch mit der Resopalplatte Platz. Quer über die unebenen Bäuche der Linsentüten kritzelt er mit schwarzem Filzstift Zur Erinnerung, herzlich Ihr Jiří Oujezdský … Zur Erinnerung, herzlich Ihr…. Zur Erinnerung, herzlich Ihr Jiří Oujezdský… Zur Erinnerung, herzlich Ihr … Hanka Malá setzt noch Ort und Datum darunter. Und hinter des Meisters Rücken füllen Nataša und die Drbavá hastig immer neue Geschenkrationen ab.

*
„Und warum haben Sie Ihren Namen behalten? Um Ihre Verbrechen zu decken. Ihre wahre… Dingsbums, Identität. Es ist nicht so, dass Sie nur einmal verheiratet gewesen wären, wie Sie überall angeben, nein, Sie waren schon vorher verheiratet, in dieser Ehe hat es sogar ein Kind gegeben, einen nirgendwo erwähnten Sohn, der wäre heute schon über Fünfzig. Das kann uns gerne die Mutter von Denis bezeugen und Frau Drbavá, die war ja damals im Nationalausschuss. Und vor allem Herr Malý hier weiß Bescheid. Er hat Sie in den Fünfzigern gesehen, als Sie Ihren Ausflug hierher gemacht haben, hier herumspaziert sind.“
Erfreut zappelt Malý, bis zum Kriegsende Klein, auf seinem Stuhl. Er nickt mehrfach und hebt zur Bestätigung seine Rechte.
„Noch heute können sich alle gut an Sie erinnern, Ihren Damaligen haben alle mit eigenen Augen gesehen und den Riesenbauch, den Sie vor sich hergeschoben haben, auch. Wetten, dass der Herr Anwalt gar nicht weiß, wovon die Rede geht?“
Kaum jemand weiß was darüber, du Sack.
Stolař kostet die plötzliche Stille aus. Ein Schmied, der eine kurze Pause einlegt, bevor er wieder auf seinen Amboss haut.
„Das Kind wurde umgebracht, Ihr Mann hat sich 1954 erhängt, und Sie ziehen wegen jeder Kleinigkeit einen
beleidigten Flunsch, philosophieren ständig herum und denken nur daran, wie Sie sich bereichern könnten. – Man muss Sie endlich einmal im richtigen Licht zeigen. In Ihrem Kopf ist doch alles durcheinander. Das wird auch Ihnen gut tun, wenn wir hier ein paar Sachen richtig stellen.“

Stolař junior leckt seinen Zeigefinger ab. Er sortiert seinen Schatz, betreibt Auslese, legt bedächtig Blätter zur Seite, schichtet seinen Misthaufen um. Hebt ein Blatt über den Kopf. Zeigt es in alle Himmelsrichtungen. Wedelt mit ihm herum. Unter Einsatz des ganzen Körpers. Das angekündigte Ass, das zur Versteigerung feilgebotene Kunstwerk.
„Hier haben wir es. – Ihr Sohn Rudolf, der wurde umgebracht. Ihr Mann, der Adolf… Sráz, der hat sich selbst umgebracht.“
Barbora, meine Enkelin, springt zu mir, versucht mich mit Gewalt auf die Füße zu stellen. Aus diesem Raum hinaus zu zerren. Sie hakt sich von hinten bei mir ein. Ruckartig reiße ich mich los. Rüste mich zum Kampf, prüfe, ob Mundschutz und Schienbeinschoner richtig sitzen.
Dieser unfassbare Hinweis auf etwas, das längst vergessen zu sein schien, fasziniert mich. Ich mache mich frei. Barbora flüchtet beleidigt zur Tür. Ich rücke meinen Stuhl näher an den Tisch heran. Damit man mich nicht wegzerren kann. Meine Augen bleiben an Stolař hängen.
„Was wollen Sie nun wissen?“
„Wenn das wirklich stimmt, dass Sie aus dem KZ heil zurück gekommen sind, während Ihre ganze Familie durch den Kamin geflogen ist; wenn auch das stimmt, dass Ihre neue Familie komplett vor die Hunde ging, nur Sie wieder nicht… Ja, dann möchte ich schon gerne wissen, wie das kommt, dass immer nur Sie überleben. Ausgerechnet Sie. Warum sind Sie nicht völlig verrückt geworden? Wieso denken Sie pausenlos an Nichts anderes, als daran, wie Sie unschuldigen, ehrlichen und tüchtigen Menschen ihren Besitz wegnehmen könnten. Sie vernichten. Nicht mal die armen Schlucker von damals, die nach dem Krieg Ihre deutschen Felder zugeteilt bekommen hatten, später wurden sie ja von den Kommunisten verstaatlicht, nicht mal die wollen was zurück. Nur Sie.“
„Sie wollen also wissen, wieso ich noch am Leben bin?“

Die Päckchen mit den braunen Pailletten türmen sich um Meister Oujezdský herum, es gibt keinen freien Platz mehr, man kann sich kaum noch bewegen. Nataša stellt den Kocher an, setzt gefiltertes Wasser auf, schüttet Kaffeepulver in eine Tasse.
„Danke, meine Damen, es war mir eine unbeschreibliche Ehre, aber jetzt muss ich los.“
Hastig schieben die Damen das sperrige Bonusgut aus dem Weg, stapeln die Tüten an die Wand, stützen sie mit dem eigenen Körper ab. Oujezdskýs in Sandalen steckende bloße Füße mit den ungeschnittenen Zehennägeln schlurfen durch die frei geräumte Passage. Unmittelbar danach wird der Durchgang von einer Linsenlawine zugeschüttet.
Nataša steckt noch zwei Portweinflaschen in die pralle Einkaufstasche, Hanka Malá klopft dem Meister den Staub vom Rücken; in dem Verschlag hinter dem Vorhang ist er zu nah an die gekalkte Wand heran gekommen. Die Drbavá wirft die genau abgezählten Linsentüten in seinen Rucksack.
„Die sind ohne Autogramm, Meister. Da können Sie selbst zu Hause was draufkritzeln.“
Nataša gießt eine durchsichtige Flüssigkeit in vier Schnapsgläser.
„Zur Stärkung. Hausgebrannter Sliwowitz. Meister, der Bürgermeister möchte Sie gerne sprechen. Wir haben jetzt ein großes Problem hier, ein ganz großes, Sie würden bestimmt helfen können.“
Meister Oujezdský küsst den Damen die Hand. Nataša und Hanka setzen ihm den Rucksack auf, unter die tief einschneidenden Schulterriemen schieben sie Päckchen mit weicher Watte.
Mit einem Knicks hält die Drbavá ihm die Tür auf.

Der erste Schock und die Überraschung bleiben in der Luft hängen und lassen nicht nach. Die Spannung klebt. Barbora ist mit der Tür verwachsen. Die Hand an der Klinke starrt sie mich fassungslos an. Nicht weil mein Leben schon wieder eine neue Schreckenskammer ausspuckt; sie sieht mich eher wütend an. Dass ich mich auf ein solches intimes Gespräch überhaupt eingelassen habe. Noch dazu mit diesen Leuten. Mein Anwalt versucht mit gespielter Entrüstung die Unterredung wieder in sachliche Bahnen zu lenken. Mich zum sofortigen Aufbruch zu überreden. Er ist verärgert, dass ich nicht gehorche. Aus allen Augen starrt mir unverschämte Gier entgegen. Nur Denis lehnt sich über den Tisch zu Stolař, flüstert ihm etwas zu. In der bitter schmeckenden Stille ist jede Silbe zu verstehen.
„Sie ist zu Verhandlungen bereit! Patientenakten an die Öffentlichkeit zu tragen ist strafbar. Damit bringst du mich in Gefahr.“
„Es war deine Idee.“
„Das war nur für den äußersten Notfall gedacht. Wenn es keine andere Möglichkeit gegeben hätte. Ich habe nicht ahnen können, dass du damit gleich am Anfang kommst.“
Die Meinungen anderer interessieren mich nicht. Aber ich erfahre sie immer.

Lachendes Gesicht
Ich spreche jeden und keinen an.
Meine Wimpern beginnen zu zittern. Das mikroskopische Zittern kündigt einen nahenden Sturzregen an, einen Wildbach und reißenden Strom, ein Gewitter. Jetzt aber ist alles nur dunkel geworden. Die Hitze staut sich auf. Der Sturm selbst ist noch weit entfernt. Aus der lähmenden Hilflosigkeit, die mich überfällt, muss ich rasch einen Obelisken der Wut meißeln. Jedes Gedankenspiel ist willkommen, alles, was mich frei macht.
Stolař junior.
Ich male mir aus, wie ich ihm die Zunge ausreiße. Bei vollem Bewusstsein. Wie ich nach dem rosa Lachs in seiner Mundhöhle fische. Dann lege ich meinen Fang auf eine mit Butter geschmierte Stulle. Drapier dieses längliche Stück Lachs auf einer Scheibe Brot. Wie ich hinein beiße. In dieses in Salz eingelegte Heringsfilet, in die im Speichel marinierte ölige Zunge. Ich beiße hinein, noch ein paar Mal zappelt sie in meinem Mund, dann ist sie still. Er gibt keinen Mucks von sich. Höchstens stöhnt er. Ich kann doch hassen, ich kann es doch. Aber jetzt kommt es nur darauf an, dass ich mich zusammen reiße, dass ich keinen Kollaps erleide und auf keinen Fall gellend aufschreie.
In meiner Brust pochen dröhnend die Sekunden. Als ob von ihnen mein Leben abhinge. Draußen stockt die Zeit, nur mühsam bahnt sie sich den Weg zwischen den neugierigen Blicken. Der Damm bricht. Aus mir quillt ein Strom von Wörtern heraus.
„Ich will reden. Darüber. Es gibt nichts, wofür ich mich schämen muss. Besser jetzt. Jetzt gleich. Bevor das ganze Dorf mit verschwörerischer Miene alles besser weiß. Bevor mein Leben weitere Wahnvorstellungen gebiert. In den Köpfen der hiesigen… Bürgermeister.“
Stolařs Lippen öffnen sich. Vorsichtshalber sagt er nichts. Damit ich mir mein „Schuldgeständnis“ nicht etwa anders überlege.
Mein Hals wird eng und trocken, ich kann kaum noch schlucken.
Bedächtig, langsam, ganz langsam ihm mit einer Rasierklinge die Oberlippe abschneiden. Dann die Unterlippe. Die beiden rosigen Regenwürmer mit den feinen Hautfalten durch den Fleischwolf drehen. Hackfleisch für Bouletten. Übrig bleibt nur ein gummiartiges Gesicht mit einem roten runden Loch. Eine Kirmesattraktion. Noch nie gesehen, noch nie dagewesen, treten Sie näher, meine Damen und Herren, nur fünf Kronen und Sie sind dabei, werfen Sie einen bunten Ball hinein. Als Gewinn der freie Blick auf ein langsam blau anlaufendes Gesicht! Ich muss mich zusammenreißen, darf keinen Kollaps erleiden, auf keinen Fall darf ich schreien.
„Meinen ersten Mann, Adolf Sráz, der Ihnen keine Ruhe lässt, lieber Herr Bürgermeister, ihn habe ich während meiner Studienzeit kennengelernt. Nach der Geburt unseres Sohnes sind wir in der Zweizimmerwohnung von Tante Ottla geblieben, die nach dem Krieg bei den Behörden mein Recht auf ein anständiges Leben erbettelt hatte. Es war ein Donnerstag. Kurz nach Mittag. Ein heißer Juli-Donnerstag, ähnlich wie heute. Sie haben geklingelt und freundlich gegrüßt. Drei unschuldige Jungen. Zwei von ihnen stützten den zwanzigjährigen Sohn einer Nachbarin. Sie schleiften ihn herein. Seine Stirn glänzte fiebrig, er schwitzte. Sie sagten, er hätte furchtbare Schmerzen im Unterleib. Und da ich Ärztin sei, könne ich ihm vielleicht helfen, das Haus wäre sonst leer, alle bis auf mich waren zur Arbeit…“
Ich bitte die Assistentin mit den künstlichen Krallen um einen Schluck Wasser. Flink gießt sie das glucksende Mineralwasser ins Glas. Schiebt es mir zu, schnell, mach weiter, halt uns nicht hin. Sie kann ihre Neugierde kaum bremsen. Ich benetze meine Lippen. Tupfe langsam meinen Mund mit einer Serviette ab. Damit erst ist die Handlung besiegelt.

„Sie haben ihn auf das Kanapee in der Küche gelegt. Ich konzentrierte mich auf die Symptome seines Unwohlseins. Legte ihm die Hand auf die Stirn, um herauszubekommen, wie hoch sein Fieber wirklich war, tastete die noch kindliche Haut auf seinem Bauch ab, um eine akute Blinddarmentzündung auszuschließen. Und erst viel zu spät fiel mir auf, wie merkwürdig sich alle drei verhielten. Da war es aber schon zu spät, um die Tür vor ihnen zuzuknallen. Oder durch einen Schrei in den Flur Hilfe herbeizurufen.
Später wurde genau das zu ihren Gunsten ausgelegt: Sie hätten wie in Trance gehandelt, seien unter starkem Einfluss von Alkohol und Tabletten gewesen, mit denen sie experimentiert hatten. Das Verlangen nach einer Frau hätte sie im Zustand verminderter Selbstbeherrschung überkommen, bei fast völliger Unzurechnungsfähigkeit. Die sind halt für ein paar Stunden ganz aus dem Häuschen gewesen, da fällt eine solche Kleinigkeit nicht weiter ins Gewicht, so etwas zählt doch nicht… Sie merken, Herr Bürgermeister, in manchen Fällen gesteht man mildernde Umstände zu. Und in anderen Fällen legt man die Unzurechnungsfähigkeit wiederum… als eine erschwerende Tatsache aus, nicht wahr?“
Gar nichts muss ich erzählen. Auf dem Absatz sollte ich mich umdrehen und gehen, in die warme, unbewegliche Luft hinaus. Es ist schon spät.
Barbora ist blass geworden, sie hat Angst. Die Männer halten den Atem an, ihre Pupillen weiten sich.
„Der Überfall kam wie aus heiterem Himmel.“

Im Schutz des Kirchenturms lehnt sich Oujezdský mit seinem Rucksack gegen die abbröckelnde Mauer und trinkt einen tiefen Schluck von dem Portwein. Die warm gewordene Flüssigkeit bleibt am Gaumen kleben. Mit den schwer beladenen, wunden Schultern stößt er sich von der Mauer ab und betritt den kühlen Raum, der eine Linderung außerhalb der Zeit zu verheißen scheint. Eine trügerische Verlockung. Der Zugwind kühlt Oujezdskýs Schläfen. Er würde gerne das schwere Gewicht von seinem Rücken streifen, alle seine Lasten abwerfen und im schräg einfallenden Sonnenlicht nackt vor den Altar treten, vom Boden abheben, in die Turmkuppel hinaufschweben, die Arme ausgebreitet und die Handflächen nach oben gedreht. Gerne würde er ein warmes Bad in den Sonnenstrahlen nehmen, sich genüsslich über den leeren, still gewordenen Kirchenbänken dahinschwebend räkeln.
Ohne nachzudenken stellt er seine Tasche ab. Polternd kippt sie um. Aus der Sakristei eilt der Herr Pfarrer herbei.
„Ich muss mit Ihnen sprechen.“
„Mit mir?“
„Ja. Aber nicht hier. Lassen Sie uns hinausgehen.“
In der Sonne fischt der Pfarrer ein Heiligenbild aus seinem Gewand hervor.
„Habe leider nichts anderes dabei. Ich brauche ein Autogramm, Meister. Meine Haushälterin, eine Seele von Mensch, bittet schon seit langem darum. Sie selbst findet nicht den Mut dazu. – Geben Sie mal her, ich halte die Tasche solange.“
„Wie wär’s mit einem Linsenpräsent, Hochwürden?“
„Bitte?“
„Nichts.“
Oujezdský tastet vergeblich seine Taschen ab.
„Hätten Sie vielleicht…?“
Der Pfarrer reicht ihm einen schwarzen Filzstift.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Meinen Füller lasse ich lieber zu Hause. Habe schon zwei verloren.“
Mit zitternder Hand schreibt Oujezdský Zur Erinnerung, herzlich Ihr Jiří Oujezdský.
„So in Ordnung?“
„Danke, Meister. Gott vergelt’s.“
Oujezdský bringt seinen Einkauf nach Hause. Raucht noch eine Zigarette. Dann schließt er das gerade frisch gelüftete Wochenendhaus ab, schmeißt den ganzen Kram unausgepackt ins Auto, stellt die Klimaanlage an und macht sich aus dem Staub.

Aus dem Tschechischen von Eva Profousová