(Auszug)
Um acht hätte Patriks Vernehmung stattfinden sollten. Hätte. Ich schreibe es gleich im Konjunktiv, weil sie ohne Patrik nicht stattfinden konnte. Schon wieder waren wir dort, schon wieder alle bis auf ihn. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt und grüße den Anwalt (traue mich nicht, ihn nach der Krätze zu fragen) und die Bewährungshelferin wie alte Bekannte.
Die Untersuchungsbeamtin lädt Patrik vor. Die Bewährungshelferin spricht mit Patrik, der Anwalt und ich telefonieren mit ihm, jeder von uns legt ihm immer wieder ans Herz… Sein Schädel scheint wohl noch hohler zu sein als ich bisher dachte. Dass wir ihn so viele Jahre haben halten können? Noch dazu in (relativer) Ordnung?
Wir sind erfolgreicher, als ich geglaubt hätte.
Das Wichtigste erfahre ich von der Bewährungshelferin: Patrik hat seine Krätze nicht zu Ende behandelt. Im Krankenhaus, wohin er zur Kontrolle kommen und eine Salbe für die Nachbehandlung holen sollte, ist er nicht aufgetaucht. Ich nehme es zur Kenntnis, mehr kann ich ohnehin nicht tun. Wir verabschieden uns.
Will mich auf ein paar Worte mit einem Bekannten treffen, einem ehemaligen Mitschüler aus der Grundschule. Vor einer Woche sind wir uns an einer Straßenbahnhaltestelle über den Weg gelaufen und haben uns verabredet.
Er ist geschieden, hat drei große Kinder, der älteste Sohn ist schwer drogenabhängig. Bis vor kurzem hat er noch bei ihm gewohnt. Hat natürlich nicht gearbeitet, sondern wieder und wieder seinen Vater beklaut. Ausziehen wollte er nicht. Warum denn auch, wenn dort alles mühelos zu kriegen war? Mein Mitschüler konnte lange nicht den Mut finden, das vermutlich einzig Richtige zu tun – ihn rauszuschmeißen.
Am Ende hat er es dann doch getan. Als er zu Hause nichts mehr vorfand, weil alles verscherbelt war. Als er einmal müde von der Arbeit kam und in der Wohnung überall bekiffte Typen herumhingen: eine Fete. Er hat seinen Sohn rausgeschmissen. Es macht ihm zu schaffen. Er kann an nichts anderes mehr denken. Hat Gewissensbisse. Fürchtet, seine Mitmenschen verurteilen ihn. Aber er hat es gemacht, weil er nicht mehr weiter wusste.
Jedes Mal, wenn er am Einkaufszentrum in der Nähe seiner Wohnung vorbeigeht, beobachtet er angespannt die kleinen Grüppchen von besoffenen, bekifften Obdachlosen. Vielleicht ist sein Sohn auch dabei. Was für eine traurige Unterhaltung. Vor allem wegen der Parallelität unserer Geschichten. Wir setzen uns noch einer anderen Verurteilung aus: Den Adoptierten haben sie rausgeschmissen und den Eigenen tragen sie auf Händen.
Kurz vor unserem Treffen meldete das Display meines Handys die so sehnsüchtig erwartete Antwort des Regisseurs, den ich zuletzt angeschrieben hatte. Zu lesen war nur der Anfang. Betreff und ein Teil vom ersten Satz. Schon daraus war klar, dass sie nichts Gutes verhieß. „Ich habe Ihr Drehbuch sorgfältig…“
Natürlich hätte ich am liebsten alles abgesagt und wäre nach Hause gefahren, um die ganze Antwort zu lesen. Aber dann dachte ich beinah gelassen:
Sie kann nur gut oder schlecht sein.
Die Vergeblichkeit meiner Bemühungen demotiviert und zersetzt mich bei lebendigem Leibe.
Matěj konnte sein einziges Paar Schuhe nicht finden. Die einzige Erklärung dafür war, dass Lukáš, der früher aus dem Haus geht, sie mitgenommen hatte. Bei den heutigen Preisen und meiner Erwerbsuntätigkeit sind wir froh, wenn wir für jeden von unseren drei Jungs – mit ihren ständig wachsenden Füßen! – ein Paar normale Schuhe, ein Paar Sportschuhe für die Schule, ein Paar fürs Herumtoben draußen und zusätzlich noch gute Fußballschuhe bezahlen können. Und natürlich noch Hausschuhe und Pantoffeln für die Schule. Und das alles in Sommer- und Winterausführung …
Matěj suchte lange und geduldig, sogar im Garten und in Mareks Hobbykeller, er sah im Flur und unter jedem Bett nach, überall, sogar im Kühlschrank. Ohne zu fluchen. Ich suchte mit. Und schimpfte dabei wütend mit Lukáš, aber nur im Geiste. Vor Matěj habe ich keinen seiner Brüder beschimpft, nie.
So etwas darf man nicht. Das könnte wie ungleiche Behandlung aussehen – du ja, sie aber nicht! Und das ist ein Punkt, der von Adoptiveltern, die ein eigenes Kind bekommen haben, nie überschritten werden darf. Hier passe ich sehr genau auf. (Und deswegen kann ich Matěj auch so selten loben, weil es so wenig Gelegenheit gibt, Patrik und Lukáš zu loben).
Ich tobte innerlich.
Die Schuhe haben wir nicht gefunden.
Wie häufig habe ich schon nach Verschwundenem gesucht, bis ich rausgefunden habe, dass es gestohlen wurde. Wir holten aus dem Hobbykeller Matějs Schuhe vom letzten Jahr (ich schmeiße die alten weg, Marek holt sie aus der Mülltonne und versteckt sie im Hobbykeller); sie drückten ganz fürchterlich. Zum Bus musste ich Matěj mit dem Auto bringen.
Alle Leckereien, die wir kaufen (für alle!), werden noch in der selben Nacht von Lukáš aufgegessen. Wenn ich sie suche, behauptet er, damit hätte er nichts zu tun. Wenn ich will, dass irgendwelche Vorräte wenigstens bis zum Wochenende halten, muss ich sie gleich in unser Zimmer bringen, im Schrank verschließen, unterm Bett verstecken.
Und absperren.
Das Zimmer muss abgesperrt werden, wegen Geld, wegen Essen, wegen der schönen Sachen, die man gut verscherbeln kann, wegen der permanenten Enttäuschung, weil Lukáš bereits bei jeder sich bietenden Gelegenheit klaut. Er will sich kein bißchen einschränken. Frei nach dem Motto: Was mir schmeckt, das esse ich, weil es mir schmeckt. Und was mir gefällt, das nehme ich mir, weil es mir gefällt.
Sollen wir jetzt auch noch unsere Schuhe vor ihm verstecken?

Als nachts Lukáš in Matějs Schuhen auftauchte, die man nur noch wegschmeißen oder zum Schuster hätte bringen können (wie schafft er das, sie an einem einzigen Tag so zu ramponieren), und den Walkmann nicht dabei hatte – auch der war weg – sah er mich wieder ganz unschuldig an. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen und drosch auf ihn ein, und dabei schrie ich, dass es mir reicht, dass es mir wirklicht reicht.
Mir reicht es, verdammte Scheiße!

Meine Hand ist angeschwollen.

Wieder auf die Sekunde genau (diese verfluchte Pünktlichkeit). Ich dachte, Cyril würde schon da sitzen, aber Fehlanzeige. Ich bestellte ein kleines Bier: keine gute Idee, ich musste es austrinken. Las die Zeitung durch, die mir der Kellner geliehen hatte, trank aus, bezahlte und wollte gerade gehen, als Cyril herein stürmte. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, ständig hätte jemand was von ihm gewollt.
Wir erzählten uns etwas, ich kriegte kaum die Zähne auseinander, wir verließen die Kneipe und gingen schweigend zur Moldau hinunter. Vielleicht haben wir auch gar nicht geschwiegen, das weiß ich nicht mehr, aber in meinem Inneren war ich stumm, selbst wenn ich doch etwas erzählt haben sollte. Zum Abschied haben wir uns die Hand gereicht.
Ich lief über die Brücke, nahm das Hradschin-Panorama kaum wahr, ignorierte eine Straßenbahnhaltestelle nach der anderen, das Bier und die Enttäuschung mussten verdaut werden. Schließlich musste ich noch fahren, musste zurück nach Hause. Beim Gedanken an Zuhause spürte ich einen Kloß im Hals.
Ich will da nicht hin.
Lukáš sollte heute zum Fußballtraining. Er sollte auch den Walkmann zurückbringen, obwohl er, wie immer unter Schluchzen, geschworen hatte, ihn nicht mitgenommen zu haben. Beim Training war er nicht – das habe ich direkt beim Trainer überprüft.
Und da ich gerade dabei war, mein Kind so schön zu bespitzeln, rief ich auch den Lehrer von seiner Berufsschule an. Er sagte, dass Lukáš ohne Entschuldigung gefehlt hatte und ein Problem mit einem demolierten Auto hat. Statt während des Praktikums zu mauern (übrigens Lukáš‘ Lieblingsausdruck für Nichtstun), hätte er und noch andere Jungs ein Autowrack, das im Areal der Berufsschule stand, mit Steinen beschmissen, und der Besitzer hätte Schadenansprüche gestellt. Bereits im ersten Quartal eine Drei in Betragen.
Von seinem virtuellen Training kam Lukáš nachts zurück, verdreckt, mit roten Augen, durchgeräuchert. Beim Fußball ist er gewesen, zur Schule geht er jeden Tag, mit dem Auto war nichts. Den Walkmann hatte er mit. Und verschwand im Bett…
So.
So traurig ist das.
So traurig, dass ich es kaum aufschreiben kann.
Und schon gar nicht davon erzählen.
Marek kam noch später. Ich saß in unserem Zimmer und suchte im Internet nach Namen von Regisseuren, die für meinen Film in Frage kämen. Mein Notizzettel war mit dem Satz von Václav Bělohradský voll geschmiert: „Definiere, oder du wirst definiert …“
Ich saß am Notebook und flippte nicht mal aus, dass Marek schon wieder so spät nach Hause (geradelt!) kam, dass er mich mit diesem ganzen Scheiß hier alleine ließ, und dass immer ich den ersten, schlimmsten Schlag abkriegen musste. Als ob ich nur für Schläge geschaffen wäre.
Ich blätterte im Gesamtverzeichnis aller tschechischen und slowakischen Regisseure; es waren wirklich alle drin, auch die längst verstorbenen. Vielleicht sollte bei meinem Film jemand Regie führen, der schon lange tot ist. Nach dem Motto: Der beste Autor ist ein toter Autor. Ich saß alleine in unserem Zimmer und wiederholte wie eine Beschwörungsformel im Geiste:
Denkt jemand an mich? Wo bleibt er? Er soll zu mir kommen.
Mich in den Arm nehmen.

Wäsche gewaschen. Das Essen gekocht. Danach fuhren Marek und ich mit dem Fahrrad zu Matějs Schule, um uns sein Fußball-Turnier anzusehen. Er ist ein guter Spieler, spielt mit Hingabe, fair, keine Fouls. Den ganzen Tag war ich traurig. Abends rief Martin an: Wo bleibt ihr?
Wir hätten um sechs Uhr kommen sollen, um unsere Keramik abzuholen. Vor den Sommerferien haben wir bei Martin und Lenka etwas aus Ton hergestellt, sie haben das neulich glasiert, jetzt auch gebrannt, und unsere ganze Clique trifft sich heute dort.
Diesmal habe ich verboten, unsere Wohnsituation zu diskutieren, unseren Berg, unseren Wald, unsere herbstliche und winterliche Abgeschiedenheit, unsere Kinder, unser Leben. Nur Sliwowitz habe ich nicht verboten. Mein Glas wurde nicht leer, und wie der Abend fortschritt und keiner sich über unser Wohnen, unseren Berg, unseren Wald oder unsere Kinder geschweige denn über unser Leben ausließ, ging es mir immer besser.
Ich habe mich herrlich zugedröhnt. Es wurden große Reden geschwungen.
Nach mehrmaligem Zuprosten mit Sliwowitz verkündeten die anwesenden Männer, wie wenig ihnen im Moment daran lag, dass wir, ihre Frauen, sie verführten. Vor allem Mirek sagte immer wieder, wie stressig seine Arbeit ist, und wie er sich nachts, wenn er nach Hause fährt, fürchtet, dass Jarka im Bett liegt und sehnsüchtig auf ihn wartet…
Beim Abschied versicherten wir uns alle beschwipst gegenseitig unserer Liebe. Auf dem Nachhauseweg saß ich wunderbar fest im Sattel, bis unser größter Berg unerwartet vor mir auftauchte und mit meinem Lenker zusammen stieß. Aber ich blieb hart und ließ mich nicht fallen. Erst zu Hause, ins Bett. Ich schlief wie ein Stein, ohne Tabletten.
Solange mir der Mond nicht auf den Kopf schien.

Brummschädel. Ich kann nichts mehr ab. Bis zum Mittag blieb ich im Bett, dann raffte ich mich auf und kochte das Mittagessen. Ursprünglich hätte es Zwetschgenknödel geben sollen, aber das war noch vor dem Sliwowitz gewesen. Jetzt schaffte ich gerade noch eine Suppe (aus der Tüte), Kartoffelbrei (aus der Tüte) und Würstchen (aus der Tiefkühltruhe).
Wieder ins Bett. Marek legte eine CD von Hradišťan ein. Jiří Pavlica singt Gedichte des mährischen Dichters Jan Skácel. Eine kongeniale Verbindung. Die Aussage von Skácels Vierzeilern wird durch Pavlicas Musik noch verstärkt. Sein Gesang, die klare Stimme von Alice Holubová, die Instrumente. Wunderschön.
Die Mini-Lautsprecher stehen auf unseren Nachttischen. Will man gut hören, muss man sich auf dem Bett andersherum ausstrecken, die Füße auf das Kopfkissen. Marek und ich lagen jeder auf seiner Hälfte und hörten mit geschlossenen Augen zu. Als das Lied-Gedicht Hoffnung mit Buchenflügeln anfing:
Jeder von uns hat seinen Engel…
hörte ich Marek immer wieder schniefen und schniefen und schniefen.
Was schniefst du denn ständig?, sagte ich unwirsch. Es störte mich. Bist du auf einmal erkältet oder was?
Unsere Toten bleiben bei uns,
eigentlich sind wir nie allein,
sangen die Stimmen eindringlich. Da war schon Hoffnung mit Buchenflügeln in das Lied-Gedicht Die Toten hineingefloßen:
Als Schatten tauchen sie auf
mit Erdklumpen und Asche im Haar…
Endlich ging bei mir das Licht auf. Ich nahm Marek in den Arm. Er presste seine Augen gegen mich, seine Augen, aus denen Tränen für seine toten Eltern flossen. Ich hielt ihn im Arm, hielt ihn fest und streichelte ihn, streichelte ihn und hielt ihn fest:
Gesichter wie ausradiert
Trotzdem erkennen wir uns wieder
Nach den Kornblumen vom letzten Sommer
Nach denen ihre Hände duften
Marek wurde vom Weinen geschüttelt, vom Weinen, das erst dann aufhörte, als auch das wunderschöne traurig wahre Lied zu Ende war. Er ist ganz allein auf dieser Welt. Ein bißchen hat er noch seine Schwester (die ist aber so anders als er). Und dann nur mich, uns zu Hause. Mich und die drei Jungs. Von den drei eher nur zwei. Von den zweien eher nur einen. Ich streichelte ihn und hielt ihn im Arm.
Und wusste, wie sehr ich ihn liebte.

Der Ausklang vom gestrigen Tag hatte allerdings wenig von Katharsis. Lukáš, der sich vormittags aus dem Haus gestohlen hatte (er klaut etwas, dann stiehlt er sich weg und stiehlt sich nachts wieder herein – wie treffend dieses Wort ist, leider), war nicht zum Mittagessen gekommen. Er hatte nicht einmal sein Fußballtrikot fürs Turnier geholt. Er kaschiert nichts mehr. Erst nach Mitternacht stahl er sich wieder heim. Um ihn eine Wolke von Gestank – eine Mischung aus Schweißfüßen, ungewaschenen Achselhöhlen und Nikotin.
Plus Marihuana!
Der Geruch von Marihuana war nicht zu leugnen. Lukáš wankte, konnte das Gleichgewicht kaum halten, sah verschrumpelt aus. Kann es NUR Gras gewesen sein?
Marek schrie, dann stürzte er sich auf ihn und wollte ihn verprügeln; ich stürzte mich auf Marek, bloß nicht Matěj aufwecken, er sollte nicht hören, wie wir uns anschrien, wie wir uns schlugen. Er sollte nicht sehen, wie sich sein Bruder zugerichtet hatte.
In dieser Nacht griff Marek nach Antidepressiva. Ich nach Sloboda. Kein Grund, noch länger zu warten.
Auf dass es schlimmer wird!

Heute wurde ich ganz früh wach. Ich stellte das Radio an, die Kulturnachrichten. Ob die Meldung über den diesjährigen Literaturpreisträger gleich morgens gesendet wird?
Cyril! (So etwas Großartiges stand ihm bevor, und ich wollte mit ihm übers Filmemachen reden). Die Auszeichnung gönne ich ihm. Von ganzem Herzen. Was für eine große, ultimative, offizielle, das ganze Leben krönende Anerkennung. Er muss sich wie im siebten Himmel fühlen! Ich denke an ihn.
Slobodas Vernunft. Er spricht mir aus der Seele:
„… Die Menschen glauben, am Ende werde Gott ihnen alles verzeihen. Kein Mann und keine Frau wollen wahr haben, dass sie für ihre sexuellen Eskapaden bestraft werden können. Sie empfinden sie nicht als Sünde. Auch wenn sie dabei immer wieder mit Schuldgefühlen konfrontiert werden – die aber gibt es nur dann, wenn in dieser verbotenen Sexualität etwas nicht klappt. Wenn ein älterer Mann zum Beispiel leicht impotent wird, versucht er an das Gewissen seiner leidenschaftlichen Geliebten zu appellieren, indem er unauffällig das Problem der Verantwortung ins Gespräch bringt. Aber an eine solche Liebe denkt man später mit großer Zärtlichkeit zurück, dafür wird man keinem böse …“
Weiter:
„… Ihr Typ schien die Theorie nicht zu kennen, wonach bei Frauen nach einer bestimmten Zeit nicht mit Küssen und Berührungen gespart werden sollte …“
Und eine dritte Stelle:
„… Bitte, hör endlich auf, ständig an deine Probleme mit der Arbeit zu denken. Das geht. Wenn du es willst, vergisst du sie. Das Gedächtnis kann man durch den Willen steuern, wirklich. So ähnlich habe ich mir das Rauchen abgewöhnt. Immer wenn die Sehnsucht nach der Zigarette zu groß war, setzte ich mich hin und sah konzentriert in meine Seele hinein: Was ist los? Muss ich wirklich rauchen? Mir tat doch nichts weh, es fehlte mir bloß etwas. Und dir fehlt auch etwas – willst du wissen, was dir fehlt? Lob. Anerkennung. Aber versuche dich in Verzicht zu üben. Es tut nicht weh. Lob ist eigentlich eine Droge, genauso wie Nikotin. Wenn man sie nicht hat, sucht man im ganzen Haus nach ihr, aber wenn man endlich raucht, wundert man sich: Deswegen habe ich nicht einschlafen können?! Lass es dir sagen, warte nicht auf Anerkennung.
Jano merkte an: Nicht auf alles kann man verzichten… Wenn sich jemand nach Anerkennung sehnt: Sie ist doch das mindeste, was wir von den Anderen für gute Arbeit erwarten können…“
Ich denke an Cyril.
In allen Tageszeitungen sind Fotos von ihm. Und Interviews.
Ich bin voller Sehnsucht. Ich sehne mich nach Anerkennung.

Lukáš hat bis zum Sonntag Ferien. Ich halte ihm (schon wieder) eine Standpauke: Einen solchen Verfall wie bei Patrik werden wir bei ihm nicht tolerieren! Es ist nicht unsere Pflicht alles zu verstecken und abzuschließen. Wenn er noch einmal etwas klaut, melde ich es der Polizei. (Damit habe ich schon einige Male gedroht und tue mich damit immer noch furchtbar schwer. Aber danach hörte das Stehlen jedesmal kurz auf. Ganz kurz.) Falls er der Meinung sein sollte, nach Hause kommen zu können, wann es ihm gefällt, dann hat er sich geirrt! Und wenn er wieder mal nach Gras stinkt! Überhaupt: sollte ich einmal das Gefühl haben, er hätte was Härteres genommen, packe ich ihn ins Auto und wir fahren zum Test!
Ich muss endlich mal in Erfahrung bringen, wo man die Spuren von Drogen im Körper testen kann. Im Internet war nichts darüber zu finden, ob solche Stationen 24 Stunden auf haben. Und wo gibt es sie? In jedem großen städtischen Krankenhaus? Wie packt man einen zugekifften Menschen ins Auto? Wie zwingt man ihn dazu, ohne eine Rauferei zu provozieren? Wie stellt man es an, dass der aufgeregte Fahrer, bei dem die Nerven blank liegen, keinen Unfall baut? Dass ihm der andere nichts antut? Wir fahren zum Test, Lukáš, damit das klar ist!
Kopfnicken heißt ja.

MAREK HAT HEUTE GETRÄUMT, DASS ER DIR SAGT, DASS ICH DICH MAG. ICH MÖCHTE MICH DEM ANSCHLIESSEN. BIETE EIN TREFFEN AN… (eine SMS an den Regisseur den Regisseur den Regisseur den Regisseur, denjenigen, dem ich abgesagt habe).
Ich war ganz früh auf. Patriks Vernehmung sollte um acht stattfinden. Entweder kommt er von alleine oder in Begleitung der Polizei, oder er wird von Wärtern aus der U-Haft hingebracht. Beim Frühstück stellte ich das Radio an, wollte Nachrichten hören. Gerade lief das Lied von Mišík mit dem Text von Josef Kainar: Stříhali dohola malého chlapečka, – kahl geschoren hatte man den kleinen Jungen. Ich saß am Tisch über meiner Tasse Kaffee und …
Bis ich mich endlich so weit hatte, dass ich fahren konnte. Diesmal kam ich als letzte. Alle anderen warteten schon am Eingang der Polizeistation. Nur Patrik nicht.
Er war drin, bei der Untersuchungsbeamtin. Hat man ihn dorthin gebracht? Oder war er doch allein gekommen? Sie ließ das Fenster und die Tür offen stehen und wies Patrik einen Platz mitten vor der Tür zu, um den Gestank, den er jedes Mal bei seinem Entschuldigungsgeschwafel um sich verbreitete, zu überleben. Doch diesmal wäre es nicht nötig gewesen. Heute war er bis auf die Schuhe (wie immer abgetreten und kaputt) gut angezogen. Und sauber. Hatte sogar Gel im Haar, die Tolle spitz gekämmt, um den Hals eine mächtige Silberkette.
Endlich sollte es zu der lang ersehnten Vernehmung kommen. Bevor es richtig losgehen konnte, stand Patriks Verteidiger auf und las den Antrag auf Aufhebung der Anklage wegen formaler Untersuchungsfehler vor, den er gestern eingereicht hatte. Das hieß im Klartext nichts anderes, als dass die heutige Vernehmung nicht stattfinden würde, sie wäre nicht rechtskräftig.
Das ist nicht Ihr Ernst! Die Untersuchungsbeamtin drehte sich aufgeregt zum Verteidiger.
Sie müssen lernen, Ihre Berichte besser zu schreiben, sagte er gelassen.
Sie wissen doch, dass es an der Anklage als solcher nichts ändert?
Es waren Fehler drin.
Also muss ich wieder alle anschreiben und wieder warten, ob der junge Mann hier seine Post entgegen nimmt und ob er kommt oder nicht?
Tut mir leid.
Heute sind wir alle zu der Vernehmung gekommen, und alle umsonst.
Wir laufen durch meine / unsere Straße. Patrik hat keine Papiere, keine Adresse, kein Telefon, keine Arbeit, keine Probleme. Alles in Ordnung.
Weißt du was, Patrik?
Nee.
Du kannst mich mal!

Ich kam viel früher zurück, als ich gedacht und morgens Lukáš (der noch schlief) auf einen Zettel geschrieben hatte. Unverhofft habe ich für den heutigen Abend Karten fürs Ballett bekommen, fürs echte russische Ballet. Und ich wollte mich für das Theater, in dem die Galavorstellung stattfindet, umziehen.
Vorher habe ich noch eingekauft, im Dorf. Als ich den höchsten unserer Berge hoch fuhr, sah ich vor mir eine Gestalt auf dem Fahrrad. Eine vertraute Gestalt auf einem vertrauten Fahrrad.
Lukáš auf meinem Fahrrad!
(Mein Fahrrad darf er nicht anfassen, er soll seins reparieren!). Kurz vor dem Gipfel schlägt die Straße eine Schneise in den Wald. Davor wird sie von der linken Seite von Schrebergärten gesäumt, das heißt von Gartenzäunen, rechts gibt es Büsche, Disteln und hohes Gras, dann nur noch ein großes, mit Unkraut überwuchertes Feld. Schon habe ich Lukáš fast eingeholt, als auf einmal… wie im Film, oder einem Märchen… alles verschwand.
Lukáš und das Fahrrad.
Vor mir lag eine menschenleere Straße. Sonst nichts. Weit und breit keiner!
Ich fuhr weiter, konnte es aber nicht aushalten und hielt oben auf dem Berg an. Direkt über der Stelle, wo die Gestalt und das Fahrrad verschwunden waren. Ich wartete, was weiter geschehen würde.
Nichts geschah.
Straße, Büsche, Gras, Unkraut, Feld, Horizont, Himmel. Mein Auto. Weit und breit keine Menschenseele. Ich machte die Tür auf. Alles war ganz still.
Ich stieg aus und sah mich um. Ging auf das Feld, das hinter dem Gebüsch lag. Es war windstill. Die Stille war fast unheimlich. Ich rief Lukáš‘ Namen. Keine Antwort. Nicht einmal ein Zweig raschelte. Komisch. Ich fühlte mich komisch. Bekam es mit der Angst zu tun.
Lu – káš!, rief ich nochmals.
Keine Antwort. (Leide ich unter Halluzinationen?)
Ich ging zurück zum Auto und stieg ein, um weiter zu fahren. Aber ich konnte es nicht lassen und stieg wieder aus und lief die Straße zurück.
Das Fahrrad lag im Gebüsch. Ein ganz komisches Gefühl. Als wäre ich Zeugin eines Verbrechens, als hätte ich mich in Antonionis Blow-Up verlaufen.
Zögernd ging ich weiter. Ein Stück weiter zwischen den Disteln lag Lukáš auf dem Rücken. Seine Augen waren weit auf.
Unsere Blicke trafen sich.
Einen Moment lang sahen wir uns schweigend an. Ein richtig komisches Gefühl. Wir sehen uns an und es ist immer noch still.
In mir kochten die Gedanken hoch: Was hat das zu bedeuten? Was machst du hier?!
Er sah mich an und sagte keinen Ton.
Steh auf!
Er blieb liegen, rührte sich nicht.
Bist du tot?
Er stand auf.
Auf seinem Rücken ein vertrauter Rucksack. Meiner. Außer Aufregung erste Regungen eines Verdachts in mir. Von allein würde Lukáš nie etwas tragen, schon überhaupt nicht einen Rucksack.
Gib mir meinen Rucksack.
Er stand und rührte sich nicht.
Ich ging auf ihn zu. Langsam, wie im Zeitlupentempo nahm er ihn ab. Darin ein vertrautes Notebook. Von Marek. Sein Dienstnotebook! Ich war fassungslos.
Wo bist du damit gewesen? Oder fährst du erst jetzt irgendwohin damit? Willst du ihn versetzen? Oder willst du Papas Notebook gegen Gras tauschen? Wie kannst du das wagen?!
Er sah mich an. Verzog das Gesicht zum Weinen.
Fang bloß nicht an zu heulen!
Er hörte auf.
Ich bekam keine Luft. War total konsterniert. Verzog das Gesicht zum Weinen. Aus Verzweiflung, Wut und Selbstmitleid. Fang bloß nicht an zu heulen, schrie ich mich stumm an und versuchte, tief durchzuatmen. Ich nahm den Rucksack mit dem Notebook und schickte Lukáš nach Hause.
Und solltest du ganz zufällig nicht nach Hause kommen, fahre ich gleich weiter zur Polizei. Mir ist es egal, dass ich schon heute früh mit Patrik bei der Polizei war. Ich kann ruhig auch nachmittags mit dir dahin! Mir ist das scheißegal!
Es stimmt nicht, es stimmt nicht! Es ist mir nicht scheißegal. Ich bin verzweifelt.
Er holte das Rad aus dem Gebüsch, schwang sich auf und radelte nach Hause, der Richtung nach. Das hatte nichts zu bedeuten, an der nächsten Ecke kann man links abbiegen und schnell querfeldein ins Dorf verschwinden. Ich setzte mich ins Auto, um ihm hinterher zu fahren, bekam aber den Schlüssel nicht ins Zündschloss. Ich konnte es nicht finden, so stark zitterten meine Hände.
Lukáš wartete zu Hause auf mich.
Ich wollte das nicht, sagte er weinerlich, als ich hereinkam.
Was wolltest du nicht? Was erzählst du für Geschichten? Immer wieder dasselbe: Du willst etwas nicht und dann tust du es trotzdem! Du willst das nicht, und nimmst ohne Erlaubnis mein Fahrrad, du willst das nicht und nimmst Papa das Notebook weg, obwohl du weißt, dass das verboten ist – und fährst dann noch weg damit?! Wohin eigentlich?
Zu Štěpán.
Du willst mit diesem Junkie nicht befreundet sein und hängst jeden Tag in seinem Loch herum? Du willst nicht rauchen und paffst wie verrückt? Willst nicht klauen und bestiehlst uns, wo es nur geht? Du willst das alles nicht, ja?
Er schüttelte den Kopf und nickte gleichzeitig. Ja, er wollte das nicht.
Dann tu es nicht! Tu es einfach nicht!
Verdutzt sah er mich an.
Es war ihm vielleicht noch nie eingefallen, dass er das, was er nicht machen wollte, einfach nicht tun musste.
Wenn mit diesem Notebook was passiert, wenn jemand die Informationen darin liest und weiter leitet, dann hat Papa ein Riesenproblem! Verstehst du das? Er fliegt raus aus der Arbeit, landet im Knast!
Schon wieder schrie ich, schon wieder zitterte ich am ganzen Körper und konnte keine Luft bekommen. Eine unendlich lange Geschichte der Vergeblichkeit. Heute genauso wie damals, als Patrik noch bei uns lebte: Zweifache Aufregung, Erschöpfung, Enttäuschung.
Gut dass ich dem Regisseur die SMS geschickt habe. Gut dass ich ins Ballet gehe.
Das Ballett war scheiße.

 

Aus dem Tschechischen von Eva Profousová