Marek Epstein

Das Raubtier

2018 | Labyrint

Kapitel 1.

Dichte Dunkelheit hing im Raum. Fast zu dicht, wenn man die exklusive Adresse im Stadtzentrum in Betracht zog. Sie drückte sich leicht den Nasenrücken platt. Dabei spürte sie, wie sich unter dem Fleisch das Blut löste und an der Innenseite nach unten in die Serviette floss. Längst nahm sie keinen Schmerz mehr wahr. Sie hatte gelernt, an Details zu denken. Irgendwo unter den Augenliedern beobachtete sie den kleinen roten Tropfen, wie er sich im durstigen Papier ausbreitete. Einer, ein zweiter, noch einer und noch einer. Sie saß auf dem breiten Bett. Wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. Am Morgen war sie direkt auf die Nasenspitze gestürzt und hatte innen ein Desaster ausgelöst. Schon einmal hatte sie sich ihre Nase gebrochen, und nie war diese wieder richtig zusammengewachsen. Diesmal war es das zweite oder dritte Mal seit ihrer Hochzeit, dass er sie angefasst hatte. Er hatte gebettelt. Vor ihr gekniet, sie solle nicht weggehen. In dieser Nacht hatte sie das erste Mal diesen hohlen leeren Klang gehört, wie ihn nur ein verkrüppelter menschlicher Körper von sich gab.

Das Schlimmste war das Bedauern. Sie wartete. Weg sein würden seine zusammengepressten Kiefer, mit der Hand vor dem Mund würde er sich wundern, so als würde er sie zufällig im Park erblicken. Erschrocken über die Blutlache auf dem Parkett und gebrochen ob ihrer Tränen. Nichts von dem, was ihm im Gesicht geschrieben stehen würde, würde falsch sein. Längst wusste sie, dass er krank war. Durch das Schlafzimmer zog sich ein Duft von Rasierwasser. Sie spitzte die Ohren, ob sie nicht einen Aufschrei von Berucha hören würde. Ihretwegen hatten sie sich heute gestritten. Auf der Terrasse der Nachbarwohnung war ein Streichholz zu vernehmen. Für einen Moment sah sie in der Dunkelheit ein blasses Gesicht mit einem grauen Kinnbart. Durch die Ventilation hörte sie auch ein erstes langes Ausatmen, mit dem Raucher eine frische Portion in den Lungen aufsaugen. Sie hatte auch irgendwann einmal geraucht. Zu Urzeiten, als sie mit den Mädels an der Kneipe U Sádků rumsaßen, unter Plakaten voller Nackedeis und grinsender Fußballer.

Er wohnte etwa ein Jahr hier. Ein charismatischer großer Typ im Rentenalter mit einem kleinen Jack-Russell-Terrier, der vor Berucha Männchen machte und Pfötchen gab. Mehr wusste sie von ihm nicht. Doch die Mathematik war unerbittlich. Ihre Zweizimmerwohnung mit Küche und Balkon hatte vor sechs Jahren viereinhalb Millionen Kronen gekostet. Die Wohnungen im Südflügel waren viel luxuriöser, zumeist mit vier Zimmern und großen Terrassen. Als sie in den Neubau mitten auf der Prager Bertramka gezogen waren, begann der Preis bei zehn Millionen, je nach Ausstattung und Terrassengröße. Die mit einem zweiten Balkon zum Hinterhof hatten dann noch zehn Prozent Aufschlag. Der Mann mit dem grauen Kinnbart musste im Leben Glück gehabt haben, dass er sich im Alter eine Luxuswohnung mitten in der Stadt für sich und seinen Hund leisten konnte. Schon lange glaubte sie nicht mehr an die Gerechtigkeit der Welt. Alles ist unsere eigene Schuld. Ein einziges NEIN in ihrem Leben hätte verhindern können, dass sie nun mit gebrochener Nase in einer überteuerten Wohnung saß, ihre Tochter würde keine Angst davor haben, das Wochenende mit ihrem Vater zu verbringen, und im Wohnzimmer vorm Fernseher würde nicht der Mann sitzen, den sie so geliebt hatte und der sich nun mit einem Pack Gefriergemüse die abgeschrammten Handgelenke kühlte. Wieder verspürte sie dieses seltsame Gefühl, wenn das angestaute Blut an der Naseninnenwand entlangfloss. Sie griff nach einem neuen Papiertaschentuch. Tastete den Knochen ab und spürte eine deutliche Ausbeulung. In diesem Moment erfasste sie Schmerz. Der Knochen unter ihren Fingerkuppen bewegte sich leicht. Wenn sie es nicht jetzt tat, würde sie es nie tun. Sie knipste die kleine Bettlampe an und drehte sich zum Spiegel über dem kleinen Glastisch. Noch einen Moment brauchte sie, um den Mut zu fassen hinzuschauen. Dann zog sie das Taschentuch aus der Nase. Diese war bläulich und deutlich nach rechts gebogen. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie nicht versuchen sollte, in den Korridor zu schleichen und dann hinaus auf die Treppe. Bei dem Gedanken daran, Berucha hier lassen zu müssen, verwarf sie jedoch den Fluchtgedanken sofort. Er hatte ihr nie wehgetan, sie nie berührt. Der einzige Blitzableiter für seine Emotionen war glücklicherweise sie. Doch auch sie hatte er einmal zum ersten Mal geschlagen. Sie würde Berucha vor ihm schützen, das hatte sie sich schon hundertmal im Geiste geschworen. Das Blut hörte auf zu tropfen. Sie streckte sich nach dem Körbchen unter dem Bett aus und zog seine Socken hervor, die bereitlagen, um gestopft zu werden. Sie atmete ein und steckte sie sich fast ganz in den Mund. Der Stoff begann sie zu ersticken, sie musste sich beeilen. Sie versuchte, die deformierte Nase so fest wie möglich zu fassen, schloss die Augen und schwebte im Geiste in den Gartenaltan. Der Vater hatte ihn mit Wein bewachsen lassen, doch die Früchte waren sauer, und die Züchterambitionen erloschen so schnell, wie sie entflammt waren. Ein paar Jahre später sah der Altan wie eine grüne Grotte aus. Ihr Lieblingsort. Ihr Königreich. Sie presste. Dann spürte sie, wie sie unter dem unerwarteten Schmerzanfall das Bewusstsein verlor. Sie musste für ein paar Augenblicke ohnmächtig gewesen sein.

„Kannst du bitte aufhören?“

Er stand über ihr und reichte ihr Papierservietten. Sie brach auf dem Kopfteil zusammen, und das Blut floss mit doppelter Lust aus ihrer Nase. Ihr entfuhren unterbrochene Schluchzer. Jakub bückte sich und löschte schnell das Licht. Dann ging er zum Vorhang und riss ihn mit einem Ruck auf. Bei aller Ohnmacht verirrte sich ihr Blick zu der erleuchteten Wand des gegenüberliegenden Balkons. Der Mann mit dem grauen Kinnbart stand nicht mehr dort. Nur unter ihrem eigenen Fenster spürte sie die Umrisse eines alten, an die Heizung gelehnten Zeltes. Darin hatte Gott Berucha geschaffen.

Jakub knipste die Lampe auf seiner Seite des Bettes an und setzte sich. Sie neigte den Kopf und spürte, wie ihr das warme Blut in den Hals rann. Eisen, Zucker und noch was, woran sie sich nicht erinnern konnte. Sie musste es schlucken, um nicht zu ersticken. Sie trank ihr eigenes Blut. Sie saugte sein Blut, wie er sagte. Allen. Sie sollte aufstehen und ins Bad gehen. Duschen. Doch sie konnte sich nicht bewegen. Sie spürte, dass dieses Stück noch nicht zu Ende war, der Vorhang hing dickköpfig hoch über der Bühne, wo sie und Jakub in der Stille saßen, die die Zuschauer genossen. Endlich legte er die Hand vor den Mund und versuchte, sie anzuschauen. Heute sah sie in seinem Blick zum ersten Mal keine Vorwürfe. Er nickte nur leicht mit dem Kopf, als würde er sich noch einmal all die Schläge und Züge seiner Fäuste vor Augen führen, die in ihrem Gesicht gelandet waren.

„Entschuldige.“

„Ich kann nicht mehr …“

„Ich habe es übertrieben, ich bin ein Dummkopf. Du kennst mich doch. Ein Idiot. Soll ich dich ins Krankenhaus bringen? Ich sage, dass ich dich verletzt habe.“

Sie wollte aufstehen und sich anziehen, doch sie wusste, dass das keine Lösung war. Wie oft waren sie schon in die Nachtambulanz gefahren, um dann an jeder Kreuzung stehenzubleiben, Jakub hatte um Vergebung gefleht und immer wiederholt, was passieren würde, wenn die Polizei begänne, in seiner Familie herumzustochern. Seine Firma würde pleitegehen, er würde nicht mehr in der Lage sein, seine Darlehen zu bedienen, und Berucha würde es in der Schule zu spüren bekommen. Hatte es ihre Tochter verdient, dass man mit Fingern auf sie zeigte?

Was war nur mit ihr geschehen? Sie hatte doch Philosophie studiert, war zehn Jahre lang Korrespondentin für Zeitschriften über Kultur und die spirituelle Entwicklung in der Welt gewesen, sie hatte eine klare Vorstellung davon gehabt, wie tief ein Mensch in seiner Würde nicht sinken sollte. Nun schlürfte sie hier ihr eigenes Blut. Sie wusste, dass sie nicht ins Krankenhaus fahren würde. Dass sie der Welt nicht sagen würde, dass ihr Mann ein impulsiver Tyrann war, der seine Probleme mit Faustschlägen in ihr Gesicht löste. Am Montag würde sie artig auf Arbeit anrufen und sagen, dass sie krank sei, und sie würde sich eine Woche unbezahlt frei nehmen, damit die blauen Flecke abheilten. Sie würde schweigen, so wie sie immer geschwiegen hatte. Das würde sie tun. Und Jakub würde sich zu ihr beugen, wenn er in die Firma ging, und ihr ins Ohr flüstern – das ist lieb von dir. Dann würde sie zuschauen, wie sein großer Wagen aus der Garage fuhr, und sich an einen Satz von Jacques Rousseau erinnern, wonach Freiheit nie wiederzuerlangen ist. Aber wie konnte es dann sein, dass man sie so viele Male verlor?

„Ich möchte mich scheiden lassen, Jakub.“

Sie hörte, wie diesen Satz jemand anders für sie aussprach. Er streckte sich und löschte das Licht. Sagte nichts. Sie hörte ein Geräusch von Stoff. Er deckte sich zu. Ungewaschen. Nur so, als hielte er Mittagsruhe. Alles im Schlafzimmer tauchte in Dunkelheit. Auch das Blut, dass ihr über das durchtränkte Taschentuch über den Unterarm lief. Sie spürte auf einmal eine unerträgliche Müdigkeit. Der einzige Satz, den sie die letzten drei Jahre in sich getragen hatte, hatte sie so entkräftet, so als müsse sie jedes Wort an den höchsten Punkt der Welt tragen. Und es war nichts passiert. Genauso, wie sie erwartet hatte.

Sie wurde von Stille geweckt. Sie blickte auf den Wecker, der in die Dämmerung hineinleuchtete. Schon lange war sie nicht mehr von allein wach geworden. Auf der Decke unter dem Kopf färbte sich ein Kreis trockenen Blutes langsam schwarz. Das Bett neben ihr war leer. Gemacht. Samstags fuhr Jakub mit Freunden zum Fußball. Vielleicht war es durch den Blutverlust gekommen, dass sie so fest geschlafen hatte. Vielleicht dadurch, was sie Jakub gesagt hatte. Außer dem intensiven stechenden Schmerz mitten auf der Stirn und dem Druckgefühl in der Brust beim Einatmen fühlte sie sich eigentlich gut. Sie beugte sich zum Spiegel neben dem Bett. Es war besser, als sie erwartet hatte. Die Nase war zwar geschwollen und rosa gefärbt, doch sie wurde nicht schwarz und sah recht gerade aus. Auch der Schlag, den ihr Jakub auf die rechte Wange versetzt hatte, sah nicht schlimmer aus als ein Wespenstich. Dafür liefen ihre Rippen fast bis unter die Achseln blau an. Nicht so schlimm. Schnell zog sie sich ein T-Shirt über, musste es jedoch bald gegen eines mit langen Ärmeln tauschen, um den blauen Fleck am Unterarm zu verbergen. Sie zog die Bettwäsche ab und stopfte alles zusammen mit dem Bettzeug in die Waschmaschine.

„Was ist denn mit dir passiert?“

Im Spiegel beobachtete sie das Spatzengesicht ihrer verschlafenen Tochter. Sie versuchte, sie anzulächeln und spürte, wie es ihr in der Nase zuckte.

„Ich bin in der Nacht aus dem Bett gefallen, hast du das nicht gehört?“

Berucha schüttelte den Kopf und schaute ihre Mutter dann ernst und forschend an. Manchmal sah sie in diesem neunjährigen Gesicht ihre Mutter. Vorwurfsvoll, aber fürsorglich und immer in der Lage, in ihr wie in einem naiven Kinderbuch zu lesen.

„Hast du mit Papa gesprochen?“

Sie nickte und drehte sich schnell um, damit sie nicht bemerkte, dass ihr die Erinnerung Tränen in die Augen trieb.

„Muss ich da nicht hinfahren?“

„Darüber unterhalten wir uns noch einmal.“

„Also muss ich nicht?“

„Wir werden sehen.“

„Ich will da nicht hin!“

Sie schaute auf die Fliesen, die ihr nie gefallen hatten. Jakub hatte sie wie alles in dieser Wohnung bestellt, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen.

„Wir reden noch mal drüber, ja?“

„Ich will einfach nicht ohne dich dort sein.“

Wie oft schon hatte sie Berucha nach dem Warum fragen wollen? Ob irgendetwas passiert war? Doch die Angst vor der Antwort hatte sie immer dazu gezwungen, alle Neugier herunterzuschlucken und sich damit zu beruhigen, dass sicher nichts passiert war. Es war nur die Dickköpfigkeit ihrer vorpubertären Tochter. Hinter der Wand war Hundegebell zu hören. Berucha hüpfte fröhlich auf die Couch und klopfte an die schwarzweiße Tapete. Der Hund bellte wieder.

„Hör auf!“

„Wir unterhalten uns!“

„Bára, du kannst nicht bei Fremden klopfen, das haben wir schon hundertmal besprochen!“ „Fritz ist mein Freund, er gibt mir Pfötchen und bringt mir meine Sandalen.“

Wieder streckte sie ihre kleine Faust zur Wand aus.

Sie wusste nicht, was sie da ritt, auf einmal stand sie hinter ihr und zog sie nach hinten weg. „Ich habe gesagt, es reicht!“

Das Mädchen hatte keine solch schnelle Entgleisung des Gleichgewichts erwartet, sie ruderte durch die Luft und stürzte rücklings auf einen Edelstahltisch mit Marmorplatte, der sie schon so viele Jahre an einen Grabstein erinnert hatte. Ihre langen roten Haare fielen über den Fußboden und blieben reglos liegen. Es dauerte eine ganze Ewigkeit, bis sie in der Lage war, wieder einzuatmen.

Der Erste, den sie aus der Praxis kommen sah, war Jakub. Sie hatte keine Ahnung, wie er da hineingekommen war, aber sie wusste, dass Jakub alles schaffte, was er sich in den Kopf setzte. Gerade das hatte sie einst an ihm so geliebt. Sie wusste nicht, wer ihn angerufen hatte, aber das war nicht wesentlich. Er war ja ihr Vater und hatte ein Recht darauf zu wissen, dass sich seine Tochter am Kopf verletzt hatte. Er ging zu ihr und ließ sich auf den Stuhl fallen. Sie stand auf, doch Jakub nahm sie bei der Hand und zog sie sanft wieder herunter.

„Wie sieht es aus? Was ist mit ihr?“

„Zwei Stiche und eine leichte Gehirnerschütterung. Nichts, was bei Kindern nicht ab und zu vorkommt.“

„Hast du mit ihr gesprochen?“

Er nickte.

„Ich muss sie sehen …“

Der Druck seiner Hand auf ihrem Schoß wurde stärker. Sie bemerkte, dass er mit seinem Daumen auf die geprellte Rippe drückte.

„Inka, ich hatte dich um etwas gebeten.“

Wegen Berucha hatte sie ganz ihre gebrochene Nase und das geschwollene Gesicht vergessen. Sie schaute ihn an, und es überraschte sie, dass er lächelte. Er lachte sie nicht aus, sondern er lächelte. Nett und fröhlich. So hatte sie ihn in Erinnerung, als sie vor zwölf Jahren zusammenkamen, und so hatte sie ihn sich immer wieder vorgestellt, wenn sie ihn entschuldigte. Sie hielt es nicht aus und lächelte ihn auch an. Der Druck auf seine Rippe ließ nach, und Jakub drückte sie an sich. Sie spürte, wie verschwitzt und heiß er war. Er war mitten im Spiel gefahren und trug unter seiner Jacke ein nasses Dress.

„Du siehst toll aus …“

Er drückte sie etwas mehr, als er es musste, doch sie sah dies als Entschuldigung. Sie blickte ihm in die Augen und zweifelte wieder an allem, was sie gestern gedacht und ihm gesagt hatte. Das war Jakub, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte, Jakub, der sein Team verlässt, um bei seiner Tochter zu sein, bei seiner Familie, der Gefahr drohte. Seine rosmarinblauen Augen leuchteten.

„Sie wollen sie über Nacht hierbehalten.“

„Warum?“

„Ich habe ihr versprochen, heute Abend zu kommen und bei ihr zu bleiben.“

Auf einmal verspürte sie tief unter den geprellten Rippen einen Stich. Sie entzog sich ihm sanft und richtete ihre Haare.

„Ich gehe …“

Er schaute sie an und seufzte, als habe sie ihn gerade tief verletzt.

„Inka, bitte. Es ist doch nur eine Nacht, morgen nach der Visite sind wir zu Hause. Ich lade euch zum Mittagessen ein, was hältst du davon?“

Sie nahm noch einen Moment ihren Mut zusammen, um ihm zu sagen, dass Berucha, wenn sie mit ihm allein war, Angst hatte, doch schließlich nickte sie nur leise. Er stand auf und wartete, bis auch sie aufgestanden war. Da wurde eine Nachricht auf seinem Telefon angezeigt.

„Wir sind ins Finale eingezogen. Ich bringe dich nach Hause und helfe ihnen, das zu gewinnen.“

Noch lange schaute sie dem blitzenden Auspuff des Geländewagens hinterher. Das Fahrzeug war schon längst hinter der Kurve verschwunden, bei ihr aber dröhnte im Kopf noch immer die Stille, die sich in der Kabine ausgebreitet hatte, als sie einstiegen. Weder die Nachrichten noch die Stimme des Sängers, der alle politischen Systeme zu meistern wusste, konnten die Stille aus der Kabine nicht vertreiben. Über die gestrige Nacht fiel kein einziges Wort. Wie schon so oft. Sie musste es sein, die daran erinnerte, was wer getan und versprochen hatte. Und dazu brauchte es Mut. Sie wünschte sich, er möge sie unterwegs wieder schlagen, damit sie in sich den letzten Rest Selbstachtung aktivieren konnte, den sie sonst nicht aus dem ewigen Schlaf der Angst zu erwecken vermochte.

„Sind Sie OK?“

Die Stimme hinter ihrem Rücken dröhnte, als würde sie einem Brunnen entsteigen. Sie drehte sich um und sah einen großen, grauen Mann mit einer Zigarette und einem Hündchen an der Leine. Der struppige Russell-Terrier drehte Achten zwischen ihren Beinen.

„Danke…“

Flüchtig begegneten sich ihre Blicke, und Inka ging über die Treppe zur Haustür. Dort vergegenwärtigte sie sich, dass er ihr nachging. Sie roch verschiedene Parfüms und Tabakrauch. Sie hielt die Tür auf, bis der Hund durch ihre Beine hindurchgelaufen war.

„Ich habe heute früh einen Krankenwagen gesehen.“

„Meine Tochter hat sich am Tisch gestoßen, aber sie ist OK …“

Er sagte nichts. Eine ganze Ewigkeit sagte er nichts und betrachtete sie nur mit seinen kastanienbraunen Augen. Er musste blind sein, wenn er aus zwanzig Zentimetern Entfernung ihre blauen Flecke und ihre Nase, die dick war wie eine Kartoffel, nicht sah. Ihr war heiß.

„Ich… ich entschuldige mich sehr für das Klopfen. Meine Tochter denkt, der Hund bellt sie an, dass sie sich mit ihm unterhält. Ich bitte vielmals um Entschuldigung.“

Der Mann lächelte sie endlich leicht an. Sein graues Kinn schien breiter zu werden, und sein Gesicht veränderte sich zu einem Gesicht einer Trickfilmfigur, an deren Namen sie sich jetzt nicht erinnern konnte. Sie betrachtete ihn etwas länger, als sie wollte.

„Sie haben vergessen, dass es mein Hund ist, der morgens das ganze Haus weckt.“

„Es wird nicht mehr passieren …“

„Er sitzt in der Küche und wartet, bis Ihre Tochter klopf. Dann kann er sich einmachen vor Freude. Was er manchmal auch tut. Und dann werde ich ärgerlich …“

„Entschuldigung.“

Endlich zwängte sie sich hinein und ging zur Treppe. Sie ging absichtlich am Aufzug vorbei, um nicht mit ihm noch weitere Minuten verbringen zu müssen.

„Frau Vítová!“

Er kannte ihren Namen. Sie blieb mit dem Fuß auf der ersten Treppenstufe stehen und drehte sich um. Im Gegenlicht an der Eingangstüre sah sie nur seine große, schmale Silhouette. Eine Weile hatte es den Anschein, als habe er vergessen, was er hatte sagen wollen, doch schließlich drang über den Gang ein brüchiger Bass.

„Haben Sie keine Angst zu klopfen … wenn es notwendig sein sollte.“

Die Kabine mit dem Mann stieg höher, sie aber stand immer noch auf der ersten Stufe.

Jakub fuhr genau um sechs ins Krankenhaus, so wie er es versprochen hatte. Pünktlichkeit, Schlagkraft und Härte gegenüber sich und anderen, darauf basierte Jakubs Lebensphilosophie. Er machte weder bei sich noch bei anderen Abstriche, was ihn oft in Stress und die damit verbundene Wut versetzte. Was ihr einst als faszinierende männliche Stärke erschienen war, erinnerte sie heute an eine autistische Deformation. Eine Diamantform, die alles vernichtet, was nicht Schritt hält oder nicht ausweichen will. Vielleicht gerade deshalb hatte sich die Beziehung zwischen ihm und Berucha im letzten Jahr so verschlechtert. War nicht bereit oder eher unfähig zu verstehen, dass in seiner Tochter etwas Fatales und Zartes vor sich ging, dass sie von einem Kind zu einem eigenständig denkenden Wesen wurde. Sie hatte versucht, ihm ein paar Publikationen über die beginnende Pubertät und deren Verlauf in den E-Reader zu schmuggeln, doch üblicherweise endete dies nur mit einem Streit. Vor Weihnachten hatte er sie dabei ertappt, wie sie ihm einen ausgedruckten Artikel über die Entwicklung der kindlichen Psyche in die Aktentasche legen wollte. Er hatte sie angeschrieen, sie krame in seinen persönlichen Sachen, dann war unerwartet seine Rechte hervorgeschnellt und hatte ihr einen Schneidezahn ausheschlagen. Heute leuchtete an seiner Stelle ein Zahn für dreißigtausend Kronen, den er ihr aus Norwegen hatte liefern lassen. Er versprach, wenn sie beide zu Staub geworden seien, dann würde dieser Zahn immer noch so frisch und glänzend sein wie heute.

Er kam um acht wieder. Die Tasche, die er für die Nacht gepackt hatte, warf er ins Schlafzimmer und setzte sich dann in die Küche. Er öffnete eine Dose Red Bull und trank hastig. Sie stellte sich in die Türe und versuchte abzuschätzen, in einer wie schlechten Stimmung er war. Zu ihrer Verblüffung begann er von selbst zu sprechen.

„Sie hat mich rausgeschmissen.“

Sekundenschnell spürte sie, wie in der Küche die Luft dicker wurde und die Temperatur stieg. Über ihren Rücken kroch eine Schweißperle.

„Warum?“ Sie flüsterte fast, so sehr Angst hatte sie vor der Antwort.

„Sie will es alleine versuchen. Sie ist angeblich schon groß und hält eine Nacht im Krankenhaus aus.“

In seiner Stimme war kein Hauch von Aggressivität. Sie hatte sogar das Gefühl, dass er sich über diesen Rausschmiss ganz schön amüsierte. Sie atmete auf. Ein Stein fiel ihr vom Herzen.

„Da hat sie doch Recht, nicht wahr?“

Hinter der Wand bellte der Hund. Jakub stand auf und ging zum Kühlschrank.

„Essen wir was zu Abend?“

Der Kühlschrank war fast leer.

„Entschuldige. Ich dachte, du bist weg.“

Er griff nach seiner Jacke und ging schweigend in Richtung Flur. Als es schon schien, dass er ging, bückte er sich, um sie zu sehen.

„Also, was ist? Gehen wir was essen?“

Sie waren wohl fünf Jahre nicht zusammen aus gewesen. Nicht dass sie nirgendwohin gegangen wären. Firmenpartys, Weihnachten, Feiern. Überall dort aber waren viele andere Leute oder wenigsten Berucha. Jetzt saßen sie in einem dämmrigen Restaurant ein paar Blöcke von ihrem Zuhause entfernt, zwischen sich einen kalten Glastisch mit einer kleinen Begonie in einem Blumentopf und Jazz, der aus verdeckten Lautsprechern quoll. Zusammen riefen sie ihre Tochter im Krankenhaus an und warteten jetzt auf das Essen, auf das die nicht den geringsten Appetit hatte. Wenn sie die letzten fünf Jahre abschneiden und nur die Kerze, die Blume und ihn wahrnehmen könnte, so müsste sie gestehen, glücklich zu sein. Doch sie war dazu nicht in der Lage.

„Wie ist es bei euch ausgegangen?“

Gleich nachdem sie die Frage gestellt hatte, spürte sie die Zweischneidigkeit ihrer Frage. Jakub war aber bei Weitem nicht so sensibel. Er zuckte mit den Schultern und zeigte mit den Fingern eine Drei.

„Trauriger Kasten.“

Sie nickte. Längst hatte sie gelernt, Jakubs kleine Erfolge als Misserfolge und Niederlagen wahrzunehmen. Sie konnte noch fragen, wie viele Teams denn gespielt hatten, wie die Vorrunden liefen und wie man das gefeiert hatte. Dann wurde sie vom Kellner und eine Caesar-Salat befreit, den man unendlich lange kauen konnte, eigentlich bis zum Gehen, was sie von der Verpflichtung befreite, Fragen zu stellen. Sie wusste, dass Jakub nicht fragen würde. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wie es früher gewesen war. Soweit ihr Gedächtnis reichte, hatte immer nur sie gefragt, und Jakub redete gern. Nie hatte er sie nach ihrer Arbeit gefragt, die sie nach dem Mutterschaftsurlaub angetreten hatte, ob es ihr beim Magistrat gefalle und was die Aufgaben eines Referenten für kulturelle Entwicklung ihres Stadtviertels seien. Oder war sie ihm dankbar? Über ihre Arbeit dachte sie nicht nach oder zumindest nicht so oft. Die Pflichten endeten beim Pförtner, von da aus bis ans Ende der Welt herrschte die Angst vor dem, was zu Hause sein würde.

Nach langer Zeit begegneten sie sich wieder im Bett. Der riesige Fernseher, den sie an der gegenüberliegenden Wand des Zimmers ertragen musste, blieb ausgeschaltet. Sanft legte er ihr die Hand auf den Rücken. Die Fingerkuppen drückten auf die Wirbel und kreisten leicht um sie herum. Sie hätte im Traum nicht daran gedacht, dass sie sich daran würden erinnern können. Sie schloss die Augen und nahm nur die warmen kreisenden Punkte auf dem Rücken wahr. Vielleicht seufzte sie sogar, weil er sich mit der Hand weiter hoch, an den Hals und unter die Haare wagte. Sie hielt es nicht länger aus und presste sich an ihn. Er faszinierte sie, als Vulkan, unberechenbar, schrecklich, aber wunderschön.

Schon lange hatte sie den Sex nicht so genossen. Vielleicht deshalb, weil Berucha nicht da war und nicht die Gefahr bestand, dass sie die Tür aufreißen würde. In Wirklichkeit wusste sie, dass es Jakubs Verdienst war. Er legte sich nicht mit der mechanischen Präzision der Figuren auf der astronomischen Uhr in sie, sondern mit Verlangen. Wann hatte sie das letzte Mal gespürt, wie er in ihr bebte, wie er ihr die Stirn auf die Schulter legte, wie sich seine Lippen stumm öffneten und sie am Hals und unterm Kinn kribbelten? Er hatte keine Eile. Ließ die schmerzenden Rippen aus. Dann lagen sie nebeneinander. Inka fasste ihn bei der Hand. Sie presste seine warmen Finger zusammen, und hinter der Wand war Fritz zu vernehmen, der sein abendliches Klopfen einforderte. Könnte das so enden? Die Welt wird nach einmal wunderschönem Sex besser und ganzer. Sie würde vergessen…

Am Morgen wurde sie wach und fühlte sich frisch. Einen Augenblick lang war sie verwirrt, doch dann erinnerte sie sich an den Abend und drehte sich zu Jakubs Platz um. Das Bett neben ihr war leer. Sie hielt den Atem an, um abzuschätzen, wo er war. Sie hörte kein Wasser aus dem Bad und auch keine Schritte in der Küche. Sie hörte keinen Fernseher. Sie schob ihre Hand an die Stelle unter der Bettdecke, doch dort war es schon kalt. Er musste viel früher aufgestanden sein. Das Glücksgefühl wurde langsam trüber wie ein Tümpel, wenn ihn grob die Gummispitze eines Stiefels berührt. Sie ging durch die Wohnung und musste den offenen Schrank bemerken, aus dem der Koffer verschwunden war. Aus den Regalen dann Jakubs Wäsche. Die Beine trugen sie automatisch zum Fenster, damit sie sich versichern konnte, dass der große Wagen auch nicht mehr dort stand. Ihr Atem wurde schneller. Der Finger auf dem Display bebte, als sie seine Nummer wählte. Eine Automatenstimme antwortete, der Inhaber dieser Nummer sei gerade nicht zu erreichen. Panik ergriff sie. Noch wusste sie nicht warum. Nur ihr Körper oder eher ihr Gehirn hatte bereits analysiert, worauf sie ein paar Sekunden später kommen würde. Fritz bellte wild hinter der Wand. In diesem Moment begegneten sich ihre Vorahnung und die Angst, die aus der Sackgasse des gestrigen Abends zurückkam. Berucha.

Die Treppen im Krankenhaus nahm sie im Dreierpack. Der Atem in ihrer Lunge wurde kürzer und setzte zeitweise aus. Im dritten Stock musste sie stehenbleiben und sich an das Geländer über dem Fenster lehnen. Als sie die Tür zu dem Zimmer öffnete, in das man Berucha gestern hatte bringen sollen, taumelte sie. Das Zimmer war leer. Beide Betten gemacht, nirgendwo ein Zeichen dafür, dass ein Kurzzeitmieter nur mal kurz irgendwohin gegangen war. Es herrschte definitive Reinheit und Weiße, wie sie nur mit Tod oder Genesung einhergehen.

„Suchen Sie jemanden?“

„Vítová. Ich wollte meine Tochter abholen …“

„Da kommen Sie zu spät, Ihr Mann hat das Mädchen schon abgeholt.“

„Abgeholt?“

Sie versuchte, überrascht zu sein, doch sie hatte es bereits seit dieser Stille dort in der Wohnung gewusst. Sie hatte es seit den Küssen auf den Hals gewusst, dass es keine Wunder gibt, dass nach einmal Sex nicht mehr passiert, als dass ihr betrunken länger der Kopf wehtun würde. Und trotzdem konnte sie es nicht anhalten. Es war ihre Schuld. Sie starrte die Schwester an, die versuchte zu lächeln und sie sanft schüttelte.

„Frau Vítová, ist etwas passiert?“

Sie lief ohne eine Antwort an ihr vorbei. Sie wusste selbst noch nicht genau, was los war.

Erst gegen Mittag machte sie eine Nachricht darauf aufmerksam, dass Jakubs Nummer wieder erreichbar sei. Schnell wählte sie seine Nummer. Seine Stimme war ruhig, aber kühl.

„Brauchst du etwas?“

„Wo ist Berucha?“

„Bei mir.“

„Wo bei dir?“

„Das ist unwesentlich. Wesentlich ist, dass du etwas unternehmen solltest. Zum Arzt gehen, Tabletten nehmen …“

„Wovon redest du? Was für Tabletten?“

Im Hörer war ein Kaugeräusch zu hören. Vielleicht aß er zu Mittag.

„Inka, spiel nicht vor dir selbst Verstecken. Berucha hat mir gesagt, wie es passiert ist.“

„Das war ein Zufall. Ich habe sie nur von der Couch gezogen, damit sie nicht an die Wand klopft. Das Bein ist weggerutscht.“

„Ich habe es der Polizei gemeldet. Der Arzt hat den Umfang der Verletzungen bestätigt …“

„Wovon redest du?“

„Du hättest sie umbringen können. Ein paar Zentimeter hätten gereicht. Ich habe denen gesagt, dass wir uns scheiden lassen.“

Sie spürte, wie etwas zersprang, und die Mauer, die sie selbst errichtet hatte, damit sie sie schützte, diese hohe Mauer begann jetzt zu bröckeln und sie zu verschütten.

„Wo ist Berucha?!“

Er wartete, bis sie aufhörte, ins Telefon zu schreien.

„Ich habe eine einstweilige Verfügung beantragt, weil du krank bist, Inka. Labil und verzweifelt …“

„Wohin hast du sie gebracht?!“

„Sie werden sich bei dir melden, keine Angst …“

Die Beine versagten ihr den Dienst und sie fiel auf die Knie. Die Leute auf der Straße drehten sich um und gingen schnell auf die andere Straßenseite. Die Hysterie schnürte ihre Stimme zu einer lächerlichen Fistel zusammen.

„Wo ist sie? Das darfst du doch nicht! Hörst du, Jakub!?“

Aus dem Tschechischen von Silke Klein