„Mensch werden, vollständig Mensch werden.“ Aleksandr Berkman

 

Es war schon dunkel, als ich bei der Zeltstadt ankam. Ich war vom Flughafen direkt dort hingefahren. Es war Oktober, kühl der Abend, Nieselregen. Westwind wehte, frischte nach unten in Richtung Inselspitze auf und wirbelte im Kreis im leeren Raum zwischen den alten Mietskasernen, deren Fenster wie Perlenschnüre funkelten.

Ich hatte meinen Rucksack bei mir, meine warme Jacke und den Schlafsack.

Ich sog den feuchten Duft von Untergrund und Nebel ein, an dem ich Manhattan jederzeit im Schlaf erkennen würde.

Am Rand des Lagerplatzes blieb ich stehen, an dieser Grenze zwischen Zeltstadt und Polizeizone: PKWs mit Blaulicht, Pickups, ausfahrbare Rampen. Dutzende Polizisten in Regenkleidung.

Das Camp lag etwas unterhalb der Straße, ich stieg die Stufen runter. Zuerst sah ich nur dunkle Plastikplanen, sie blähten sich auf und flappten im Sturm wie abgefetzte Segel.

Es dauerte ein Weilchen, bis ich auf dem schlecht erleuchteten Terrain Leute ausmachen konnte. Sie drängten sich am Ostende des Platzes, wo die Stufen eine Art Amphitheater formten. Dort standen sie, ruhig und geordnet, und das Wasser lief an ihnen herunter. Sie hatten keine Regenschirme. Ein Mädchen erläuterte die Abstimmungsregeln. Der Wind trug ihre Stimme weg, doch die Leute, die am nächsten an ihr dran waren, wiederholten jeden Satz so laut, dass man ihn bis zur letzten Reihe hören konnte.

Ich nahm den Hauptweg zwischen den improvisierten Unterständen Richtung Westen. Da war eine Feldküche, vor der Obdachlose um etwas Essen Schlange standen, dann ein Infozelt und eine Kleiderausgabe, wo man sich warme Anziehsachen holen konnte. Und dann ein Zelt, vor dem ein aufgespießtes Pappschild stolz verkündete: Bibliothek. Hier hinten auf dem Platz war ich allein. Jenseits der Straße ragten die Umrisse von Kränen auf, die angestrahlte Baustelle eines neuen Einkaufszentrums. Da war der Baum mit der Betonkante drumrum aus der Beschreibung. Über all lag Pappkarton. Ich nahm zwei Stücke, legte meinen Rucksack auf das eine und setzte mich auf das andere. Langsam ließ der Regen nach. Zwischen den schnell fliegenden Wolkenfetzen sah ich ein paar Sterne.

Ich zog mein Telefon heraus und tippte: „Bin da. Warte am einsamen Baum. Jan.“

Gleich darauf piepte es: „Fünf Minuten. Marius.“

 

I. Spuren in Amerika

1.

In New York leben – das hatte ich gewollt. Schon immer. In einer Wohnung, wie ich sie als junger Mann bei einem Kurzbesuch gesehen und nie mehr vergessen hatte, mit hohen Decken und dunklen Bücherregalen, mitten in Manhattan, das war für mich seitdem der Ort, wo intellektuelles Leben haust. Dämmrige Appartements mit einer Aussicht in die Fenster gegenüber, wo unter gelben Lampenschirmen und in lila Staubgespinsten die Geister von Old Europe wabern. Wo aus dem Abfall und der Tiefe der Belüftungsschächte der klamme Duft des Unbewussten aufsteigt.

Wo diese Sehnsucht herkommt, weiß ich nicht. Wo nehme ich die Bilder her, mit denen ich mich identifiziere? Sind es Familienmythen? Sind sie angelesen? Eindrücke aus der Kindheit? In Krisenzeiten steigen plötzlich unsere geheime Wünsche auf und treiben uns voran, saugen uns an wie ein Planet ein Häufchen Sternenstaub.

Mit circa fünfunddreißig fühlte ich mich wie ein Pferd in einer Tretmühle, fest eingespannt, und einmal auf dem Arbeitsweg – ich fuhr schon extra mit der Straßenbahn, damit es möglichst lange dauerte – schrieb ich in mein Notizbuch: Liste der Dinge, die ich nicht mehr schaffen werde. Der Übersicht halber, um es klar zu stellen

  1. Ich werde niemals einen Roman schreiben.
  2. Ich werde nie mehr mit einer unbekannten Frau schlafen.
  3. Ich werde nie mehr bei Freunden wohnen, jede Nacht woanders, mit einem Rucksack voller Bücher und meiner Zahnbürste als einzigem Gepäck.
  4. Ich werde nie richtig Französisch lernen.
  5. Ich werde nie in New York leben.

Vier Jahre sind erst um, und muss ich grinsen, wenn ich daran denke. Man sollte die Hoffnung nie aufgeben. Und schon gar nicht den Glauben an andere Menschen, die ihre eigenen Pläne haben, wie meine Exfrau.

Sie beschloss, sich einen anderen Ernährer zu suchen, und ich war frei. Ich beantragte ein Stipendium an der New York University, gab meine Arbeit bei der Zeitung auf und behielt nur meine halbe Stelle an der Uni. Ich zog zu Freunden und beschloss, wieder als Historiker zu arbeiten. Und zu schreiben. Vor allem aber schlief ich mit einer Unbekannten. Den Punkt hakte ich als ersten ab.

Ich habe eine Theorie, die für mein ureigenstes New York-Bild von Bedeutung ist. Sie reicht zurück ins Jahr 1925, als meine Urgroßmutter Friederike durch ihre Heirat in eine Kleinstadt in Nordböhmen kam. Und sie betrifft in einer anderen Ecke meines Herzens auch Josef, meinen besten Freund, von dem ich zwei fixe Ideen übernommen habe: Dass Schreiben der beste Beruf der Welt ist. Und dass ich nicht, wie bisher gedacht, der Urenkel des Fabrikbesitzers Emmanuel Schwarz bin. Sondern eines russisch-amerikanischen Juden und Anarchisten namens Andrej B., mit dem Friederike 1924 in Berlin ein Techtelmechtel hatte.

Geboren bin ich in den frühen Siebzigern in Prag. Da war die großbürgerliche Zeit meiner Familie schon lang passé. Gleich nach dem Krieg war der gesamte Besitz meines Großvater enteignet worden, da er zu Teilen Deutscher war. Es hieß, wir sollten froh sein, dass wir nicht vertrieben würden. Das Einzige, was uns blieb, war die Hausmeisterwohnung in einer Villa in der nordböhmischen Stadt L.. Diese Villa war dann auch nach der Revolution von 1989 das Einzige, was wir vom Staat zurückbekamen.

Das Haus mit seinen Wintergärten, Jugendstilnischen und einem Treppengiebel, an dem mein Urgroßvater in den zwanziger Jahren die Inschrift „Villa Friederike“ anbringen ließ, war vor dem ersten Weltkrieg erbaut worden. Oma Tina kümmerte sich ihr Leben lang um den Garten, der ihr gar nicht mehr gehörte. Solange sie noch eine Gartenschere halten konnte, beschnitt sie die Rhododendronbüsche und die Azaleen und harkte den Steingarten. Der war ihr ganzer Stolz. Als kleiner Junge fand ich den Winkel mit den alten Eiben, über denen bedrohlich krumme, rote Kiefernstämme in den Himmel ragten, undurchdringlich. Josef, der mit seinen proletarischen Eltern eines der oberen Stockwerke unserer Villa, bewohnte, war vier Jahre älter als ich und las schon damals viel. Gemeinsam bauten wir Bunker, jeden Sommer in einer anderen Ecke des Gartens.

Als wir die Villa im Rahmen der Restitution vom Staat zurückbekamen, änderte das nichts. Meine Eltern waren noch jung und hatten selbst noch zu viel vor, um sich Gedanken um ein heruntergekommenes Haus im Norden zu machen oder Geld hineinzustecken. Aber verkaufen wollten sie es erstmal auch nicht. So fuhr ich regelmäßig meine Oma besuchen, nach ihrem Tod dann Josef. 1999, als ich heiratete, erschien Josefs erstes Buch. Seine Eltern starben, seine Schwester heiratete, er blieb allein. Er zog aus seiner schönen Wohnung im zweiten Stock in das Hausmeisterkabuff meiner Oma, arbeitete in einem Antiquariat, schrieb und wurde immer wunderlicher. Als sein zweites Buch erschien, verhalf ich ihm über einen Kontakt aus Prag zu einer Zeitungsrezension. An den Verkaufszahlen oder an Josefs Berühmtheit änderte das nichts.

In seinen letzten Lebensjahren war Josef ganz vernarrt in einen russischen Anarchisten namens Andrej B.. Er behauptete, dass der mein wahrer Urgroßvater sei und las immer wieder Andrejs Briefe, die Friederike nicht vernichtet hatte, um Anhaltspunkten für diese These zu suchen. Die beiden hatten auf Englisch korrespondiert und man sah an ihren Briefen, was trotz starker sexueller Anziehung zwischen den beiden nicht funktioniert hatte: Friederike hatte mit der Idee der Gleichheit aller Menschen nur kokettiert. Ihre Lebensphilosophie war der Flirt gewesen. Außerdem war sie viel jünger gewesen als Andrej, der damals auf die Fünfzig zuging.

Josef faszinierte der Anarchismus, obwohl er sich ihm nie völlig erschloss. Er las Bakunin und Kropotkin im Original und studierte die Schriften von Nestor Machno und Emma Goldman. Und versuchte, mich zu überzeugen: Man kann das nicht so einfach abtun. Selbst Sartre hat auf seine alten Tage hin behauptet, er sei Anarchist. Das war die einzige Schublade, in die er sich noch stecken ließ.

A propos Schubladen: In einer von den Schachteln, die Josef mir per Testament zur Aufbewahrung überlassen hatte und die mir seine Schwester gleich nach seiner Beerdigung ins Auto packen half (sie wollte das Zeug so schnell wie möglich los sein), fand ich zwischen Stapeln unfertiger Texte ein Heft mit der Aufschrift Der Anarchist. Es waren Textfragmente, anscheinend die Notizen zu einem Roman, den Josef schreiben wollte. Auf dem blauen Einband des klein-karierten Heftes stand mit grünem Kugelschreiber eingefurcht: Das Mitleid als Wunde in der Brust. Es gibt keine Existenzweise, die mit unserem Bewusstsein im Einklang steht. Beklemmung. Im Totalitarismus alles einfacher. Die Freiheit reißt einen Abgrund auf, unmöglich, bis auf den Grund zu sehen.

 

2.

Sommer, New York, Regen. Die überteuerte Eintrittskarte für das Kolman-Museum kaufe ich bei einer Ehrenamtlichen, wie man sie an allen Museenkassen New Yorks antrifft. Ihre gelifteten Gesichter und runzligen, Gold starrenden Hände wirken uralt.

In der Eingangshalle ist es dämmrig, durch französische Fenster sieht man in den Garten, Nieselregen, der in ein Seerosenbecken aus Marmor fällt. Unter dem dicken Teppich knarrt das Parkett, an den Wänden Vitrinen voller Porzellan. Die Treppe zum ersten Stock ist mit einer Kordel abgesperrt, alles, was oberhalb des ersten Treppenabsatzes liegt, versinkt in Dunkelheit. Vor allen Fenstern hängen grüne Samtvorhänge, sie sind zugezogen. Wenn ich sie auseinanderschiebe, sehe ich den Central Park.

Zwei Wochen bin ich jetzt schon in New York und kann es immer noch nicht glauben. Ich fühle mich wie ein Schauspieler in einem Film. Central Park, Metropolitan Opera, Fifth Avenue … Am letzten Mittwoch habe ich auf Empfehlung eines Bekannten aus der Uni die Staten Island Ferry genommen. Das kostet nichts und man sieht das Gleiche wie auf einer Touri-Rundfahrt. Mit der Ergriffenheit beim Anblick der rauchblauen Freiheitsstatue hätte ich niemals gerechnet.

Ein schöner Vermeer, zwei El Grecos, ein paar Renaissance-Italiener und die Kleine Leserin von George de la Tour. Ansonsten überwiegend Kitsch. Idyllische Landschaften, ein überladener Fragonard und Porträts schmachtender Damen von Burne-Jones und Whistler. Tapeten und Bücher dünsten eine staubigen Geruch aus. Der ganze Luxusbau kommt mir wie ein Gefängnis vor. Oder die Höhle eines altes Nagetiers, das hier seine mit Klauen und Zähnen angeschleppte Beute hortet.

Das Doppelporträt über dem Kamin im ehemaligen Arbeitszimmer zeigt Kolman und seine Tochter Eleanor. Sie war es, die diesen Palast nach ihres Vaters Tod zum Museum umbauen ließ. Scharf umrissen im Vordergrund des Bildes ein männliches Profil: das weiße Kinn energisch vorgereckt, die Nase kurz und gerade, niedrige Stirn und kleiner, runder Kopf. Das weiße Haar ist sorgfältig frisiert. Versteckt dahinter, wie im Nebel, ist das Gesicht einer jungen Frau mit rotem Haar zu sehen: Sie trägt einen leichten Musselinschleier, wie es die Damen früher taten, um keinen Sonnenbrand zu kriegen.

 

Im Kino des Museums wird halbstündlich der Film „J. C. Kolman – Sammler und Philanthrop“ gezeigt. Das Attentat wird darin nur am Rand erwähnt, es fallen keine Namen. Statt dessen gibt es viele Bilder von der glänzenden Wasseroberfläche eines Teiches und schwimmenden Enten. Man will wohl ein Gefühl von Harmonie erzeugen. Als Haupt-Beraterin des Projekts ist im Abspann Eleanor C. Kolman aufgeführt. Alice, Eleanors Mutter, sieht man nur auf einem Bild, dem 1882 entstandenen Hochzeitsfoto. Danach kein Wort mehr über sie. Wo ist sie hinverschwunden? Was war mit ihr los? Warum findet sich in diesem Haus, in dem sie dreißig Jahre lang gelebt hat, keine Spur von ihr?

Nach dem Museum sitze ich lange am Fenster und schaue auf die Straße. Es regnet nicht mehr, und die Luft ist feucht und schwer. Ich beobachte einen Mann im hellen Hemd mit grauen Haaren, sorgfältig gekämmt, und einer markanten Nase – irgendwie erinnert er mich an Josef. Er holt den Rest eines Sandwichs aus einem Abfalleimer, wickelt ihn aus der Alufolie und drapiert ihn hübsch auf einem Betonsockel. Er isst im Stehen, sein Gesicht ist ruhig, innerlich zufrieden. Vor dem Essen bekreuzigt er sich.

Als die Angestellte in der Referenzbibliothek der Kolman-Sammlung begreift, wonach ich suche, ist sie plötzlich auf der Hut:

„Woher wissen Sie, dass wir das haben?“

„Es steht im Internet.“

„Wo dort genau?“

„In Ihrem Katalog.“

„Und Sie sind sicher, dass es nicht Eleanor Kolmans Korrespondenz ist, die sie suchen? Die haben wir natürlich hier. Alles mit Bezug zur Sammlung.“

„Nein, ich meine die Briefe von Alice, ihrer Mutter.“

Sie greift zum Telefon und ruft im Archiv an.

Einer jungen Frau, die sich als Julie vorstellt, erkläre ich noch einmal, was ich will.

Sie räumt ein: „Wir haben etwas da. Aber was wollen Sie damit?“

„Ich bin aus Prag. Historiker. Ich habe ein Stipendium für einen Forschungsaufenthalt hier in Amerika und arbeite an einem Buch über amerikanische Frauen um 1900. Die Frau unseres ersten Präsidenten war Amerikanerin, wissen Sie? Haben Sie den Namen Masaryk schon mal gehört?“

Julie lässt mich ein Formular ausfüllen: Name, Adresse, Telefonnummer. Und die Verpflichtung, aus den mir anvertrauten Materialien nur mit der ausdrücklichen Erlaubnis der Kolman-Referenzbibliothek zu zitieren.

„Welcher Zeitraum interessiert sie denn genau?“, fragt Julie.

„Alles ist von Interesse.“

Nach einer Weile bringt sie eine Schachtel, fordert mich auf, die Briefe wieder in die Umschläge zu stecken, und wirft im Gehen lächelnd hin: „Alice hatte wirklich eine üble Handschrift. Kaum lesbar, Sie werden sehen.“

[…]

 

3.

Es ist Samstagmorgen, das Telefon klingelt. Das Display zeigt eine New Yorker Nummer. Wer kann das sein? Außer ein paar Leuten aus der Universitätswaltung und dem Dekan des Fachbereichs habe ich hier noch niemanden kennengelernt. Professor Kurzweill habe ich noch gar nicht angerufen. Er war es, dessen mit Büchern vollgestopfte Wohnung mich vor zwanzig Jahren so beeindruckt hat, als ich für eine Woche aus Washington D.C. nach New York gekommen war. Es war Ende Februar. Als ich aus dem Bahnhofsgebäude auf die Straße trat, dämmerte es schon und schneite dicht. Ich sehe es noch vor mir. Der Wind trieb den feuchten Schnee durch die tiefen Häuserschlucht und aus den Gullis stieg der Dampf auf.

Das Telefon klingelt immer noch.

 

„Hallo?“

„Herr Schwarzer?“

„Ja.“

„Jan?“

„Ja, das bin ich. Was wünschen Sie?“

„Hier ist das Büro von John C. Kolmann, dem Dritten, entschuldigen Sie die Störung. Sie waren gestern in der Referenzbibliothek des Kolman-Museums? Sie haben diese Nummer als Kontakt angegeben?“

„Ja.“

„Es tut mir wirklich leid, Herr Schwarzer, aber es geht um Folgendes: Die Bibliothekarinnen haben leider einen unverzeihlichen Fehler gemacht. Mann hätte Sie die Bibliothek gar nicht betreten lassen dürfen.“

„Bitte?“

„Es gibt eine Vorschrift,“ sagt die Frau. „Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, aber es gibt eine Vorschrift, die besagt: Deutschen ist der Zutritt zu dieser Bibliothek verboten. Ursprünglich galt das auch für die Sammlung, aber das konnte geändert werden. Bei der Bibliothek ist aber nichts zu machen. Ich muss Sie leider darauf hinweisen, dass Ihr gestriger Besuch dort der letzte war.“

„Aber ich bin nicht aus Deutschland.“

„Sie haben einen deutschen Namen.“

„Das hat die Hälfte aller Tschechen.“

„Waren Ihre Eltern Deutsche?“

„Nein.“

„Können Sie das irgendwie beweisen?“

„Ich habe meinen Pass hier. Und meine Geburtsurkunde.“ Ich muss lachen.

„Die Geburtsurkunde haben Sie dabei?“

„Entschuldigen Sie“, sage ich, „ich glaube, ich habe Sie noch nicht so ganz verstanden …“

„Wenn Sie wollen“, die Frau artikuliert langsam, „bringen Sie Ihre Papiere doch zu Herrn Kolman ins Büro, an der Ecke von 68th Street und Madison Ave, Nummer 813.“

„Wann denn?“

„Kommen sie doch gleich, wir sind da. Aber vergessen Sie Ihre Geburtsurkunde nicht.

Und um eines wollte ich Sie noch bitten: Seien Sie so nett und bringen Sie die Kopien der Briefe mit, die unsere Mitarbeiterin für Sie gemacht hat. Falls die Sache zu Ihren Ungunsten ausfällt, müssten wir um ihre Rückgabe bitten. Wir können das natürlich nicht kontrollieren, aber ich hoffe, Sie respektieren unsere Regeln und fertigen keine weiteren Kopien davon an.“

„Ich habe sie bezahlt.“

„Das erstatten wir Ihnen natürlich, es ist ja nicht Ihr Fehler. Noch einmal vielen Dank für die Kooperation und bis gleich.“

Die Einzimmerwohnung, die ich von der Uni gemietet habe, liegt auf der Westside, nicht weit vom Campus. Ich brauche nur den Bus zur East Side zu nehmen, dann kann ich den Rest zu Fuß gehen. Und an der Lexington Avenue findet sich sicher ein Copyshop finden, um die Kopien von Alices Briefen nochmal abzulichten.

[…]

Den Rest des Samstags verbringe ich mit wütendem Googeln. Ich will etwas gegen John C. III. finden, irgendein Homestead oder Johnstown der Gegenwart. Aber ich finde nichts. Falls dieser Widerling irgendwie Dreck am Stecken hat, stellt er es schlau an. Ich finde nur heraus, dass er eine Schwester hat. Sie ist vor Jahren ins Kloster gegangen und hat ihren Namen geändert. Das Kloster ist in Arizona, bei Phoenix. Per Mail setze ich einen Versuchsballon in ihre Richtung ab.

 

4.

Zierlich und dunkel sitzt sie mir gegenüber. Die hellen, blauäugigen Kolmans heirateten dunkelhaarige, schwarzäugige Frauen. Schwester Michaelas Augen erinnern von der Form her an ihre Urgroßmutter Alice. Allerdings sind sie nicht, wie bei Alice, vom Schmerz verhangen, sondern lebendig, leuchtend.

Schwester Michaela ist glücklich, in New York zu sein. Sie schaut die Menschen an, betrachtet ihren Kaffeebecher, und wenn die Feuerwehr am Fenster vorbeifährt, dreht sie begeistert den Kopf. Zu Hause sieht sie immerzu das gleiche. Der Berg, an dessen Fuß das Kloster sich befindet, flimmert in der heißen Luft wie ein Phantom. Im Winter ist er komplett eingeschneit. Auf seinem Gipfel thronen häufig Wolken. Die Ebene, die ihn umgibt, ist steinig und mit stachligem Gestrüpp und Kakteen bewachsen. Manchmal ist sie tiefrot-violetter verschattet, dann wieder ziegelrot oder verblichen gelb. Zweimal im Jahr ergrünt sie, nach den Regenzeiten.

Das Kloster ist ein Wallfahrtsort. Über staubige Pisten kommen Menschen aus Phoenix oder Tuscon zu Besuch, sie dürfen eine zeitlang bleiben, erhalten Obdach gegen eine Spende. Gemeinsam mit den Nonnen essen und beten sie, lernen Kerzen und Seife herzustellen, helfen im Garten und kümmern sich um die Hühner, Ziegen und Esel des Klosters.

Schwester Michaela trägt ein dunkles Reisekleid, hat den schweren schwarz-weißen Ordenshabit zu Hause gelassen. Auf dem Kopf anstelle des Schleiers eine Baskenmütze. 2 Jahre ist sie nicht in New York gewesen, seit dem Begräbnis ihres Vaters. Jetzt ist sie hergekommen, weil sie Geld braucht.

„Ich stamme aus einer Millionärsfamilie. Aber um jeden Dollar muss ich meinen Bruder bitten“, sagt sie. „Als ich in den Orden eingetreten bin, hat mein Vater entschieden, dass ich geistig umnachtet sei und sein Testament geändert. Damals war es mir egal, ich wollte nichts von der Familie. Aber inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Ich nichts für mich selbst, das nicht, aber dieses Geld ist doch nützlich. Als Vater starb, hat mein Bruder in meinem Namen etwas an das Kloster gespendet, er dachte wohl, dass er mich auf die Art los werden kann, aber naja … Wir bauen eine neue Kirche, ein Refektorium … das schluckt Geld. Ich habe von der Mutter Äbtissin einen Sonderauftrag bekommen.“

„Danke, dass Sie sich die Zeit, nehmen, sich mit mir zu treffen.“

Sie lächelt: „Da Sie mich nun mal gefunden haben …“

Sie mag so um die vierzig sein, aber wie sie so begierig um sich blickt, wirkt sie wie ein kleines Mädchen. Nur die Fältchen um ihre Augen und ihre leicht geröteten Hände mit den kurzgeschnittenen Nägeln, die von der Arbeit mit Erde und Lehm ausgetrocknet sind, verraten ihr Alter.

Ich schildere ihr mein Treffen mit John C. III., und sie schüttelt den Kopf.

„Sie müssen denken, dass wir spinnen, aber mein Bruder ist bei allem, was unsere Familie angeht, furchtbar empfindlich. Er meint, dass er von auntie Ela die Fackel der Familienehre übernommen hat. Und tut, als interessiere sich die ganze Welt nur für Geschichte und als wäre irgendwem auf dieser Welt noch an dem gelegen, was 1892 geschehen ist.“

„Mich interessiert es.“

„Sie können es doch in jedem Buch nachlesen, das ist längst alles aufgearbeitet worden. Mit oder ohne die Bereitschaft meiner Familie. Auf lange Sicht lässt sich die Wahrheit nicht vertuschen, schon gar nicht hier in Amerika. Eine andere Sache ist, ob sich dadurch etwas ändert.“

„Ich habe alles darüber zusammengesucht, was ich finden konnte“, sage ich. „Wie die Gewerkschaften in Carnegies Stahlwerk den Streik ausgerufen haben, dessen Direktor John C. Kolman war. Auf welche Weise Ihr Urgroßvater diesen Streik aufgelöst hat, wie viele Tote es gab und wie viele Menschen er hinterher entlassen hat. Ich weiß, dass Kolman im Namen Carnegies in Prag und Warschau Zeitungsinserate aufgegeben hat, um für die streikenden Arbeiter Ersatz zu finden. Und dass dies der erste bewaffnete Zusammenstoß zwischen Fabrikbesitzern und ihren Mitarbeitern war. Danach waren die Gewerkschaften für lange Zeit erledigt.“

„Es gibt Briefe, in denen Carnegie ihm schreibt, er solle den Streik mit allen Mitteln unterbinden.“

„Ja, ich weiß. Und als alles vorbei war, hat er Ihren Urgroßvater stillschweigend abserviert.“

„Kolman hat ihn fürchterlich dafür gehasst. Und sich geweigert, sich mit ihm zu auszusöhnen, selbst auf dem Totenbett.“

„Was ich aber nirgends finden konnte und aus den Briefen herauslesen wollte, zu denen ich jetzt keinen Zugang mehr habe, ist, wie dieses ganze unglückliche Ereignis auf Ihre Urgroßmutter gewirkt hat. Und auf den Rest der Familie.“

„Was noch?“

„Den Attentatsversuch.“

Sie winkt schweigend ab.

„Wird in Ihrer Familie etwas weitergegeben hinsichtlich dieses Attentats? Oder der Jahre danach?“

„Ich weiß es nicht. Ich glaube nein. Es wurde nicht davon gesprochen.“

„Aber von Ihrem Urgroßvater sprechen Sie doch.“

„Sicher, pausenlos. Als ob er noch heute alle beherrschte, grauenhaft! Besonders auntie Eleanor!“

„Und Alice?“

„Es heißt, sie sei wahnsinnig geworden“, sagt Michaela. „Auntie sagte immer, ihre Mutter sei verrückt geworden, das war alles.“

„Ihre letzten Briefe sehen nicht wie die Briefe einer Verrückten aus.“

„Sie hatte einen Schock“, sagte Michaela. Mit beiden Händen verbiegt und dreht sie ihren Strohhalm. „Sie hat zwei Kinder verloren, binnen eines Jahres. Und dann wurde auch noch auf ihren Mann geschossen, über den zudem noch in allen Zeitungen stand, dass er ein Mörder sei. Verstehen Sie, die Journalisten hatten schon damals ein Gespür dafür, was sich verkauft, und keine klare Linie. In der einen Woche unterstützten sie die Gewerkschaften, in der nächsten Carnegie. Und Urgroßvater war ein gefundenes Fressen für sie. Er hatte noch nicht so viel Geld, dass sich jemand vor ihm hätte fürchten müssen. Und auch später, als er schon ein mächtiger Mann war, hielt er sich lieber im Hintergrund. Nur als Kunstsammler wollte er sichtbar sein. Haben Sie seine Sammlung gesehen?“

„Ja.“

„Gefällt sie ihnen?“

„Es gibt dort ein paar schöne Sachen.“

„Ich hasse sie.“

„Macht es ihnen etwas aus, dass ich nach der Vergangenheit frage?“

„Warum sollten Sie es nicht tun? Jeder darf fragen. Leute wie uns. Erklären, ein Leben lang immer nur erklären und verteidigen. Oder leugnen, wie auntie Ela. Was meinen Sie, warum ich abgehauen bin und all das hinter mir gelassen habe? Ich will nichts damit zu tun haben, verstehen Sie?“

Weg ist der Ausdruck kindlicher Begeisterung. Mir gegenüber sitzt eine gequält wirkende Frau, die deutlich auf die Fünfzig zugeht. Unverwandt starrt sie in ihren Pappbecher.

„Zuerst starb die kleine Marta. Das war Einundneunzig, nach dem Hochwasser von Johnstown. Darüber wissen Sie schon etwas? Auch ein interessantes Kapitel. Marta verschluckte aus Versehen eine Nadel und bekam Wundbrand. Im Grunde verfaulte sie bei lebendigem Leibe. Ein ganz banales Röntgenbild hätte sie retten können. Im Frühjahr 1892, als der Streik in Homestead ausbrach, war Alice wieder schwanger, und im Sommer hatte sie eine Frühgeburt. Das Kind, es war ein kleiner Junge, lebte nicht einmal einen Monat lang. Mein Urgroßvater trauerte sein ganzes Leben lang um Marta. Um seinen Stammhalter zu bemerken, war dessen Zeit zu kurz bemessen. Aber für Alice muss es ein ungeheurer Schlag gewesen sein. Auntie Eleanor kam erst viel, viel später zur Welt.“

„Kennen Sie Ihre Urgroßtante gut?“

„Natürlich. Sie hat mich erzogen. Als ich ein Kind war, hat sie mich immer wieder nach Europa mitgenommen. Sie war schon sehr alt, aber klar im Kopf. Sie war es, die mich für Kunst begeistert hat. Sie wollte sogar … aber das ist egal. Ich will nichts damit zu tun haben, verstehen Sie? Es ist das letzte Mal, dass ich meinen Bruder um etwas bitte. Und dann … Es interessiert mich einfach nicht mehr. Die alten Wunden. Warum interessiert es Sie eigentlich?“

„Ich bin Historiker.“

„Ich werde Ihnen wohl heute nicht mehr viel erzählen können. Nichts, was Sie sich nicht auch irgendwo heraussuchen könnten.“

Schwester Michaela steht auf.

„Wann fahren Sie zurück …“ „nach Hause“ will ich sagen, bin mir aber nicht sicher, ob man ein Kloster so bezeichnen kann.

„Morgen.“

„Könnte ich … darf ich Ihnen irgendwann noch einmal schreiben? Wäre das in Ordnung?“

„Warum nicht?“ Michaela lächelt müde. „Ich kann aber nicht versprechen, dass ich gleich antworte. Wir haben jetzt im Kloster viel zu tun. Sie würden sich wundern, wie viel Arbeit wir haben. Viele Menschen denken, wir starren den ganzen Tage nur in den Himmel und tun gar nichts.“

Zum Abschied gibt sie mir die Hand, sie ist rau und trocken.

Auf dem Heimweg begegne ich auf der Straße einer Frau, die ein kleines Mädchen an der Hand hinter sich herzieht. Beide schwanken wie bei starkem Wind. Das Kind hat das Gesicht eines alten Menschen und eine steife Wirbelsäule, es wackelt hin und her. Die Mutter trägt trotz der Sommerhitze einen Fleecemantel, strohgelbes Haar fällt ihr ins Gesicht. Aus welchem Keller diese beiden wohl hevorgekrochen sind?

Ich sage mir, dass Menschen sind wie Sterne. Das Universum dehnt sich aus und die Sterne entfernen sich voneinander, weiter und weiter, bis hinter die Grenze der Lichtgeschwindigkeit, über den Rand der Sichtbarkeit hinaus, wo die Dunkelheit sie verschlingt.

 

5.

[…]

 

6.

Der Sommermorgen anno 1892, als Andrej in New York in den Zug stieg, versprach einen schönen, heißen Tag. Luisa brachte ihn zum Bahnhof. Sie umarmte ihn und sagte sich im Geiste: „Zum letzten Mal!“ Dieses „letzte Mal“ konnte sie sich nicht so recht vorstellen. Andrej schrieb später über seine Fahrt: „Jedes Detail des Tages hat sich mir deutlich ins Gedächtnis eingegraben.“

Er hatte einen einzigen Dollar im Portemonnaie, genug für eine Nacht in einem billigen Hotel. Gleich am nächsten Tag würde er die Pittsburgher Genossen aufsuchen und bei ihnen übernachten. Wie lange er wohl brauchen würde, um sich vorzubereiten? Zwei Tage?

Er dachte an seine Mutter, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er wollte sie lebend in Erinnerung behalten.

Bei ihrem letzten Streit war es um das Mädchens gegangen, das bei Tisch bediente. Andrej ertrug es nicht, wenn seine Mutter ihre Dienstboten schlug.

„Sie ist nicht schlechter als du.“

Sie wurde bleich. „Nie wieder sprichst du so mit mir.“

Sie beugte sich vor und klopfte ihm mit ihrer Gabel gegen den Handrücken. Er nahm sein Glas und warf es voller Wucht in den Spiegel. Einen der schönen, venezianischen, die das Speisezimmer ihres Landhauses zierten.

Mutters schneller Abgang. Und das Schweigen. Von diesem Tag an bis zu ihrem Tod, der zu früh gekommen war. Sie hatte sich zur Wand gedreht und ausgehaucht, er hatte ihr nicht einmal mehr sagen können, dass er sie liebte. Er hatte ihre toten Hände geküsst.

Bald darauf war er abgehauen, nach Amerika. Seine Verwandten hatten ihn nicht zurückgehalten. Mit seinen Ansichten war er ihnen sowieso lästig. Was sollte man mit einem, der mit sechzehn vom Gymnasium geflogen war, wegen eines Aufsatzes über die Nichtexistenz Gottes?

Als er in New York ankam, war er siebzehn. Die ersten paar Nächte verbrachte er auf der Straße, dann fand er Freunde, die Genossen. Was hatte sich in den zwei Jahren seitdem nicht alles verändert! Er lebte nun schon eine Weile mit Luisa zusammen. Und er hatte eine Berufung. Darauf hatte er gewartet und gewusst, sie würde kommen. Die Tat würde seine Trophäe sein. Sein Stern. Etwas Großes und Echtes. Unwiderrufliches.

„Sonnenuntergang draußen vor dem Zugfenster“, schrieb Andrej, „weidendes Vieh auf saftigen Wiesen. Eltern und Kinder standen an der Strecke und winkten dem vorbeifahrenden Zug. Wie gut könnte diese Welt sein. Für alle!“

Ich fahre nicht mit dem Zug nach Pittsburgh, sondern mit dem Bus. Abfahrt Freitag früh ab China Town, New York. Statt reifender Kornfelder vor dem Fenster nur die Böschung und die Kolonnen überholender Autos. Bald wird es dunkel. Ich habe für eine Nacht ein Hostel reserviert, morgen will ich mich auf Spurensuche nach Andrej begeben.

1892 lag eine gelbbraune Wolke Rauch, Ruß und Asche auf der Stadt, aus den Fabrikschloten loderten Tag und Nacht die Flammen. Die Arbeiter bewohnten zweistöckige Reihenhäuschen, pro Haus gab es zwei Zimmer, übereinander. In jedem Zimmer hauste eine Familie. Manche Häuschen standen einzeln und geduckt auf Abrissflächen oder in ausgebrannten Straßenzügen.

In Homestead, der Vorort der Stahlarbeiter von Pittsburgh, gab es nur eine gepflasterte Straße, die Hauptstraße, alle übrigen waren unbefestigt. Im Frühjahr und Herbst vor dem Frost und dem ersten Schnee versanken sie tief im Matsch. Häuser, Läden und Kneipen gehörten dem Inhaber der Stahlwerke. Hatten die Männer in der Kneipe ihren Lohn versoffen, mussten sie Einkäufe und Miete anschreiben lassen und dann ein Leben lang die Schulden abstottern. Ihre Kinder nahmen ihren Platz ein.

Wo früher die Stahlwerke standen, ist heute ein Einkaufszentrum. Nur eine Reihe hoher Fabrikschlote aus Backstein steht noch da. Auch die so genannten Neuen Stahlwerke, drüben am anderen Ufer des Flusses, sind im Verfall begriffen: An Hochofen, Brücken und Schloten knabbert der Rost, Gleise führen ins Leere. Vor dreißig Jahren wurde dort noch gearbeitet.

Genau wie einst Andrej laufe ich von Homestead aus bis in das Millionärsviertel am Südrand von Pittsburgh. Vor dessen geräumigen Villen mit ihren Gärten fuhren seinerzeit Kutschen mit weiß gekleideten Damen und deren blitzsauberen, wohlgenährten Kindern vor. Falls Andrej Zweifel gehabt hätte, hatte er nur die Hauptstraße entlang müssen um sie für immer zu zerstreuen..

Von weitem betrachte ich das Haus, in dem Eleanor nicht sterben kann. Direkt daneben wurde auf ihr Geheiß ein weiterer Bau errichtet, der Kunstwerke beherbergt, für die in dem New Yorker Museum kein Platz mehr war. Die umliegenden Waldgrundstücke ließ Eleanor zu einem Park umgestalten, als Schenkung für die Stadt. Alles im Namen des Vaters. Die Villa mit den runden Türmchen soll ebenfalls zum Museum werden, man wartet aber noch damit, bis auch sie, die letzte Bewohnerin des Hauses, stirbt. Danach wird eine Stiftung, der Eleanor testamentarisch eine große Summe Geld vermacht hat, das Haus und sein gesamtes Inventar verwalten. Alles muss erhalten bleiben, jedes einzelne Ding, sei es ein Buch, ein Unterrock, ein Spielzeug oder auch nur ein Haar, das noch irgendwo am Kopfende eines Bettes hängt.

Dieses Museum eines glücklichen Familienlebens wird das Letzte sein, was sie noch für ihren Vater tun kann.

An diesem klaren Sonntagmorgen laufen Jogger durch den Park, Eltern gehen mit ihren Kindern spazieren. Gelbe Blätter rieseln auf Kinderwagendächer, einige Bäume sind schon kahl. Eicheln trommeln auf die Holztische im Gelände, im Wald riecht es nach Nüssen, Pilzen und feuchter Erde.

Anhand der Hinweisschilder finde ich den kleinen Waldfriedhof schnell. Er ist von einer Mauer umgeben, das Tor ist verschlossen, aber man kann durch das schmiedeeiserne Gitter hineinschauen. Eine stattliche Reihe Thuja-Bäume, davor zwei große und zwei kleine Grabsteine. Auf dem einen steht gebeugt ein weißer Engel mit hängenden Flügeln. Das muss Martas Grab sein. Der kleinste, unverzierte Stein birgt wohl die Gebeine des Babys. Und der größte gehört Kolman selbst. Das wuchtige Grabmal überragt eine Krypta aus Beton, in die Eleanor ihren Vater einst betten ließ. Weit über seinen Tod hinaus fürchtete sie den Hass, den er in anderen hervorrief. Unter einem etwas kleineren Steinklotz nebenan liegt Alice. Thomas Kolman wollte anderswo begraben werden. Er brach mit der Familie nach dem Tod des Vaters, dessen Testament Eleanor quasi zur Alleinerbin bestimmte.

Matt spiegelt sich der Himmel in den Fenstern der Villa. Über den giftgrünen Rasen, der zum Gewächshaus und zum Gartenhäuschen hin sanft abfällt, führt ein gewundener Kiesweg zum Haupteingang hinüber. Hier muss vor hundert Jahren Eleanor gespielt und nach ihrem Vater Ausschau gehalten haben, wenn er von der Arbeit kam. Die Zufahrt mündet in eine stille Straße, die Villen dort sind allesamt Kopien verschiedenster historischer Baustile, vom normannischen Fachwerkhaus bis zum Rokokoschlösschen. Kolman House ist das hässlichste von allen, hier ist nicht einmal ein kopierter Stil erkennbar. Die ursprüngliche Form des Hauses ist durch die vielen An- und Umbauten völlig unkenntlich geworden.

[…]

Die Toreinfahrt, an der ich klingele, ist aus grauem Stein. Während ich warte, fallen mir Schwester Michaelas Worte ein: „In einer Sache bin ich völlig anderer Meinung als meine Großtante: Ich glaube nicht an die erlösende Kraft der Kunst. Meiner Meinung nach kann man sich von moralisch fragwürdigem Reichtum nicht durch das Anhäufen hübscher Bilder loskaufen, nicht einmal, wenn man sie den Leuten gratis zeigen würde. In allem Übrigen bin ich genau wie sie. Überrascht Sie das? Meine Familie wäre überrascht. Die denken, dass ich anders bin und deshalb weglaufe. Dabei ist es doch andersrum.“

„Sind Sie angemeldet?“ fragt die Frau, der ich über die Sprechanlage am Tor erklärt habe, worum es geht.

„Ich habe einen Brief geschrieben, weiß aber nicht, ob Mrs. Kolman ihn bekommen hat.“

Der Apparat schweigt einen Moment, dann meldet sich eine andere Frauenstimme: „Sie hat den Brief bekommen.“

„Wunderbar. Darf ich sie also kurz behelligen?“

„Mrs. Kolman hatte Sie gestern erwartet.“

„Das kann nicht sein. Ich bin mir ganz sicher‚ dass ich ,Sonntag, den zweiundzwanzigsten’ geschrieben habe. Und das ist heute.“

„Sie können nicht zu ihr. Sie ruht gerade.“

„Bitte, seien Sie so nett, reden Sie nochmal mit ihr.“ 
Wieder herrscht eine Weile Funkstille, die Frau ist wohl kurz weggegangen.

„Kommen Sie morgen früh. Nachmittags ist sie zu müde.“

„Ich muss aber nach New York zurück, noch heute Abend.“

„Das ist Ihr Problem.“

„Naja…, na gut, dann komme ich morgen wieder.“

„Kommen Sie um neun. Das Bild dürfen Sie anschauen, aber keine Fotos machen. Da werden ihnen die alten, die Mrs. Kolman für den Katalog hat machen lassen, reichen müssen.“

„Ja, sicher. Danke. Schönen Gruß an Mrs. Kolman, richten Sie Ihr bitte aus, dass ich mich sehr freue.“

Schweigen. Eleanors Angestellte sind nicht eben höflich. Wahrscheinlich hält sie alle kurz und immer ein bisschen hungrig, wie Wachhunde.

*

[…]

Im Zentrum Pittsburghs hat er viele Spuren hinterlassen. Nach seinem Bruch mit Carnegie begann er wie wild zu bauen. Vielleicht um zu beweisen, dass man ihn nicht so leicht abschütteln und aus dem Stadtbild tilgen kann. Der erste Glas-Stahl-Wolkenkratzer hier am Ort geht auf ihn zurück, auch ein Hotel und ein riesiges Kaufhaus, neogotisch, überladen.

Alle Gebäude liegen in unmittelbarer Nähe des Gefängnisses, in dem Andrej B. seine vierzehn Jahre Hölle verbracht hat. Zumeist in Einzelhaft, weggesperrt wegen Aufsässigkeit und weil er sich weigerte, regelmäßig in die Kapelle zu gehen. Dreizehn von vierzehn Jahren hatte er Besuchsverbot. Einmal versuchte er zu fliehen.

Drei Anarchisten mieteten sich eine Wohnung, ebenerdig, in einem Haus an der Gefängnismauer. Zwei gruben den Tunnel, der dritte spielte jeden Tag stundenlang Klavier, um die verdächtigen Geräusche zu übertönen. Nach ein paar Monaten hatten sie es wirklich geschafft, sich ins Gefängnis durchzubuddeln, aber der Plan, den ihnen ein entlassener Häftling gezeichnet hatte, war ungenau. So mündete der Tunnel nicht, wie geplant, im Geräteschuppen, sondern mitten auf dem Gefängnishof. Alles flog auf, und Andrej musste zurück in seine Einzelzelle.

Zur Zeit des Attentats war er nach amerikanischem Gesetz nicht volljährig, und sein Mordanschlag war gescheitert. Die zweiundzwanzig Jahre, die später auf vierzehn herabgesetzt wurden, waren sogar für damalige Verhältnisse eine unangemessen harte Strafe.

Wahrscheinlich hätte ihm ein guter Rechtsanwalt helfen können, aber Andrej verteidigte sich selbst. Er wollte den öffentlichen Prozess für einen großen Auftritt nutzen und endlich zu denen sprechen, für die er sich geopfert hatte. Denn anscheinend verstanden die Arbeiter der Stahlwerke seine Tat nicht. Es hieß sogar, sie machten ihn für ihre Niederlage verantwortlich. Und auch ein großer Teil der anarchistischen Genossen nahmen ihm den Alleingang übel. Sie schrieben, er habe der ganzen Bewegung geschadet.

Doch dann wurde der Verhandlungstermin vorverlegt und die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen. Andrej konnte sich nicht mehr richtig vorbereiten und die paar Sätze seiner ruhmreichen Rede, die er noch zu Papier brachte, waren ihres Publikums beraubt. Das Ganze dauerte nicht einmal eine Stunde.

Er fühlte sich erniedrigt und betrogen. Alles, was er geplant hatte, war misslungen.

Als John C. Kolman rings um das Pittsburgher Gefängnis seine Häuser baute, muss er auch manchmal an den jungen Mann mit dem Revolver gedacht haben. Leid tat er ihm sicherlich nicht. Wie sollte Kolman, der nicht einmal für seine eigenen Kinder Mitgefühl aufbrachte, einen russischen Juden bemitleiden, der ihm nach dem Leben trachtete?

Auch seine Tochter Eleanor verspottete er: Sie werde niemals heiraten und als alte Jungfer mit dem Säckel seine Gebäude abklappern, um die Miete einzusammeln.

Mein Weg zurück ins Zentrum führt über die älteste Brücke Pittsburghs. Sie ist auch die älteste Stahlbrücke in ganz Amerika, das Einzige in dieser Stadt, dem noch etwas von Andrej B. anhaften könnte. Seinerzeit führten Gleise darüber, heute ist dort eine Straße und ein Fußgängersteg.

Ich habe alles gesehen, was mich interessiert: Das Gericht und das Gefängnis, das immer noch in Benutzung ist, so dass ich es nicht betreten darf. Kolmans protzige Bauten.

Das Haus, von dem aus die Anarchisten den unterirdischen Tunnel gegraben hatten, steht nicht mehr. Ebenso wenig das Direktionsgebäude der Carnegie Steel Company, in dem Andrej B. auf Kolman geschossen hat.

*

Aus dem Tschechischen von Kathrin Janka