Jakuba Katalpa

Der Bau

2017 | Host

Die Jagd

Es geht leichter, als Květa gedacht hat.

Anfang Dezember verschickt sie zwei leere, an sich selbst adressierte Einschreiben. Der Briefträger Bohumil Ptáček bringt sie ihr, und an der Tür wechseln die beiden ein paar Worte. Vor dem Vietnamesen-Spätkauf sieht Květa die alte Vietnamesin mit Schal und Bommelmütze sitzen.

Obwohl die Alte zu schlafen scheint, wagt Květa nicht, den Briefträger hereinzubitten. Sie nimmt die Briefe entgegen und verabschiedet sich, wütend und enttäuscht zugleich.

In der Küche nimmt sie ihre Schürze ab, aus deren Tasche sie den Revolver zieht.

Zwei Wochen später scheint ihr das Schicksal gewogener: Der Stuhl vor dem Spätkauf ist leer.

Vor Květas Tür steht in dunkelblauer Jacke und über die Ohren gezogenem Stirnband Bohumil Ptáček. Květa, die am Vortag ein weiteres Einschreiben an sich selbst geschickt hat, hat mit Ptáček gerechnet und für die rechte Stimmung gesorgt. Sie trägt eine mehlbestäubte Schürze, und aus der Küche weht der Duft von frischgebackenem Apfelstrudel. Dass der Duft bis zum Briefträger dringt, verraten dessen sich blähende Nasenflügel. Květa lächelt und nimmt ihren Brief entgegen. Sie schwankt zwischen zwei Szenarien. Sie könnte den Mann auf ein Stück Strudel einladen und ihn dann mit Hilfe des Revolvers in den Bau hinunter zwingen. Oder sie könnte die hilflose Alte spielen und ihn bitten, ihr irgendwas aus dem Keller hochzutragen.

Ihr Blick fällt auf die Briefträger-Tasche. Die ist randvoll mit Briefen. Und auf dem Gehweg vor der Villa wartet ein ebenso volles Rollwägelchen.

Nein, Bohumil Ptáček hat jede Menge Arbeit und sicher keine Zeit für Strudel und ein Tässchen Tee.

Květa entscheidet sich für Szenario Nummer zwei.

„Ich bräuchte Ihre Hilfe“, sagt sie.

Der Briefträger scheint überrascht.

„Könnten Sie mir wohl ein paar Stühle aus dem Keller hochtragen?“, fährt Květa fort.

Bohumil Ptáček wirkt nicht gerade begeistert. Er tritt von einem Fuß auf den anderen. Unter dem Gewicht seiner ledernen Briefträgertasche wird er immer krummer.

„In Ordnung“, sagt er schließlich.

Bevor er die Eingangshalle betritt, streift er sich gründlich die Schuhe ab. Květa wirft einen letzten Blick zum Spätkauf gegenüber. Von der alten Vietnamesin keine Spur. Das spornt sie an. Sie schließt die Haustür, führt Bohumil Ptáček durch die Halle und zeigt ihm die Kellertreppe. Ihre Hand in der Schürzentasche befingert den Revolver.

Bohumil Ptáček stellt seine Tasche ab und steigt vorsichtig die Treppe hinunter.

Květa folgt ihm.

Der Kellergang liegt im Halbdunkel, der einzige beleuchtete Raum ist der Bau, dessen Tür sich einladend zur Treppe hin öffnet. Während Květa noch überlegt, ob sie den Revolver zücken soll, betritt der Briefträger den Bau aus gänzlich freien Stücken.

Květa bleibt im Gang stehen und ist verblüfft darüber, wie glatt das Ganze läuft.

„Den hier?“, fragt Bohumil Ptáček und berührt die Rückenlehne eines alten Thonet-Stuhls, den Květa extra hier hergestellt hat.

Seine Frage reißt sie aus ihrer Versonnenheit. Sie macht zwei schnelle Schritte und schlägt die Tür hinter ihm zu. Dann dreht sie den Schlüssel um, schiebt den Riegel vor und sichert alles mit dem Vorhängeschloss. Ihr Atem geht schnell, aber ihre Hände sind ruhig.

Sie befürchtet, in seinem Gefängnis könne Bohumil Ptáček zu schreien beginnen, und weil sie das nicht hören will, läuft sie eilig die Treppe hoch. Oben schließt sie die Kellertür, lehnt sich rücklings dagegen und beißt sich sacht in den Handrücken.

Nicht eine Sekunde denkt sie daran, irgendetwas rückgängig zu machen, in den Keller zurückzukehren, die Tür wieder aufzuschließen und alles für einen Streich zu erklären. Stattdessen wartet sie, bis ihr Atem ruhiger geht. Dann fällt ihr Blick auf die Ledertasche, die der Briefträger auf dem Boden stehengelassen hat.

Ihr wird klar, dass vor dem Haus auch noch sein Rollwägelchen steht. Ihr Herz schlägt schneller. Vorsichtig geht sie die Eingangsstufen hinunter, dann eilt sie über den Pfad zum Gartentor. Draußen auf dem Gehweg greift sie sich das Wägelchen, bugsiert es durch den Garten und dann Stufe um Stufe ins Haus hinein.

In der Halle bleibt sie zwischen dem mit Briefen und Zeitungen vollgestopften Wägelchen und der ebenso vollen Ledertasche stehen, verschnauft und gönnt ihren Muskeln eine Pause. Sie muss lächeln.

 

Freiheit

Bohumil Ptáček sitzt bereits seit fünf Tagen im Bau.

Ein paar Mal hatte er die Gelegenheit, Květa zu packen, ihr den Revolver zu entreißen und zu fliehen.

Aber alle Gelegenheiten ließ er ungenutzt.

Als ob Květas Anwesenheit ihn lähmte. Lieber versucht er heimlich, die Zeitungsballen von den Wänden zu zerren und die Holzbretter zu lösen, hinter denen er völlig zu Recht ein Fenster vermutet. Das gelingt ihm aber nur zum Teil: An den Schrauben in den Holzbrettern bricht er sich die Fingernägel ab, und nachdem er ein paar Zeitungsballen heruntergezerrt hat und feststellen muss, dass sich dahinter keinerlei Tür, sondern lediglich eine schlecht verputzte Wand befindet, gibt er auch diesen Versuch auf.

Ansonsten lassen weder Unterkunft noch Essen zu wünschen übrig.

Das einzige, was Bohumil Ptáček fehlt, ist seine Freiheit.

Die ganze Situation ist absurd, und immer wenn seine Nervosität und das Gefühl der Beklemmung nachlassen, sucht er nach einer Erklärung. Sobald Květa den Raum betritt, bestürmt er sie mit der Frage, was sie eigentlich von ihm will. Das Seltsame ist, dass sie – zumindest bis jetzt – rein gar nichts zu wollen scheint.

Er kann nach Herzenslust essen, trinken, schlafen und sich entleeren.

Auch lesen und schreiben kann er, denn sie hat ihm Papier und ein paar Bleistiftstummel dagelassen.

Aber die Hauptsache, nämlich den Sinn seines Seins in dieser eigenartigen Zelle, den begreift er nicht. Er weiß weder, wie lange er hierbleiben muss, noch, ob er lebendig wieder herauskommt, und diese Ungewissheit treibt ihn fast in den Wahnsinn.

Ständig läuft er im Kreis herum und kaut an seinen Nägeln.

„Warum lesen Sie denn nicht?“, fragt Květa, als sie seine Nervosität bemerkt.

Der Briefträger hat es versucht, aber die Buchstaben verschwimmen und die Schrift fließt über den Seitenrand hinaus.

„Ich kann mich nicht konzentrieren“, erwidert er.

Zur Beruhigung bringt Květa ihm Melissentee.

Bohumil Ptáčeks Wut und Resignation halten sich die Waage. Zuweilen ist er sich sicher, dass die Polizei kommen und ihn befreien wird, dann sitzt er ruhig auf seiner Matratze und wartet; aber gleich darauf gerät er wieder in Rage, tritt gegen die Tür und reißt mit den Händen das daran befestigte Styropor herunter.

Er beginnt zu stinken und ist sich dessen bewusst. Er hat keine richtige Waschgelegenheit. Zwar hat Květa ihm ein paar PET-Flaschen mit Wasser und eine Zahnbürste dagelassen; und die Zähne putzt er sich über dem Eimer, in den er uriniert; aber mit dem bisschen Wasser, das er zur Verfügung hat, kann er lediglich Katzenwäsche betreiben.

Übertrieben reinlich war er noch nie, und ganz entschieden stellt er keine solchen Hygieneanforderungen wie Marie, aber fast eine ganze Woche dieselbe Kleidung zu tragen, das ist selbst ihm zuwider. Sein Hemdrücken beginnt zu jucken und sein Hosenbund scheuert. Zudem wächst ihm ein Bart. Trotz allem will er sich nicht ausziehen, und wenn er sich hinlegt, dann immer vollständig angezogen. Er hat das Gefühl, nur wenn er angezogen bleibt, ist er bereit. Und eben das will er sein.

Zunächst versucht er krampfhaft, wach zu bleiben. Er befürchtet, im Schlaf irgendeine Fluchtgelegenheit zu verpassen. Schließlich jedoch übermannt ihn eine absolute Erschöpfung. Brächte Květa ihm das Essen nicht immer zur selben Zeit (das Frühstück um acht, das Mittagessen um zwölf und das Abendessen um sechs), seine Zeit verlöre jegliche Struktur.

Es überrascht ihn, dass er schließlich in einen solchen Tiefschlaf fällt. Als er wieder aufwacht, bleiben seine Träume an ihm haften wie leichter Raureif, der nicht vergeht, so dass er sich den Schlaf mit den Fingerspitzen aus den Augenwinkeln pulen muss und dann sich ausgiebig strecken.

Die alte Frau hat es sich zur Gewohnheit gemacht, vor dem Eintreten anzuklopfen. Als wolle sie ihm die Gelegenheit geben, sie nicht hereinzubitten. Lächerlich. Sie hat einen Revolver und kann mit ihm anstellen, was sie will. Es steht nicht in seiner Macht, sich gegen sie aufzulehnen. Das wäre wider seine Natur.

Irgendeine Widerspenstigkeit.

Oder gar Rebellion.

Mit halb geschlossenen Augen nippt er an seinem Melissentee und stöhnt ein bisschen, als wäre es nicht dieses Gefängnis, das ihn quält, sondern der heiße Tee, an dem er sich die Zunge verbrennt.

 

Ein Lied

Anh Thi Hoang liegt auf ihrer Klappliege und denkt an die Mahlzeiten, die sie zuzubereiten pflegte, als sie noch in Hanoi gelebt hat.

Geschmortes Rindfleisch mit Sternanis.

Frühlingsrollen Nem Ran.

Fischbällchen mit Dill.

Sie hatten ein kleines Haus mit zwei Räumen bewohnt: Sie und Tuan hatten in dem großen Raum geschlafen, in dem auch gekocht wurde, und die Kinder – Sohn Thu und Tochter Suong – im Hinterzimmer mit dem schmalen, von einem Bambusrollo verhangenen Fenster und dem Boden aus gestampftem Lehm.

Das war am Stadtrand gewesen, so dass Hoan nachts das Bellen der Hunde und das Umherrennen der Kakerlaken hatte hören können, die leisen Geräusche, wenn die Insekten mit ihren kurzen Beinchen irgendwelche Hindernisse überwanden, über die Bambusmatten krabbelten, über die Gummischlappen, in den stehengelassenen Reiskocher oder den leeren Eimer mit der Metallschaufel.

Das Schlafen in der Küche hatte Hoang beruhigt. In der Luft hatte der Duft von Gewürzen gehangen und die Feuerstelle hatte Wärme ausgestrahlt. In Nächten mit Vollmond war das Mondlicht hereingefallen und hatte die an den Wänden hängenden Töpfe und Pfannen silbern glänzen lassen. Auf dem Boden verstreute Reiskörner hatten dann weiß gestrahlt wie die Milchzähne der kleinen Suong, und der Spiegel mit dem Kupferrahmen hatte perlmuttfarben geschimmert.

In Nächten mit Vollmond war Tuans Schlaf immer besonders unruhig gewesen. Dann hatte sich sein Gesicht verzerrt und er hatte laut geseufzt, sich auf der Bambusmatte hin- und hergewälzt und manchmal sogar aufgerichtet, so dass Hoang ihm ihre Hand auf die Brust hatte legen müssen und leise singen. Sie kannte viele Lieder und Abzählreime, die meisten noch von ihrer Mutter.

„Die Beinchen wie zwei Klößchen.“

„Die Bäckchen wie Schmalzgebäck.“

„Der Popo wie zwei Reishäufchen.“

In ihrer Kindheit hatte Hoans Mutter hungern müssen, so dass in fast allen ihren Schlafliedern Essen vorkam.

„Das Zünglein wie eine Ingwerscheibe.“

In Nächten mit Vollmond hatte Hoang ihrem unruhigen Mann Lieder vorgesungen, und mitunter war es dann vorgekommen, dass ihr der Magen zu knurren begann. Dann pflegte sie sich in eine Decke zu wickeln und auf einem Hocker an die erkaltende Feuerstelle zu setzen, und nach innen gekehrt begann sie dann systematisch zu essen, was die Küchenregale hergaben: süßsaure Soßenreste, Bambussprossen, eingelegte Sojabohnen, Trockenfrüchte.

Diese nächtlichen Momente der Einsamkeit hatte sie geliebt. Durch das Haus waren die Seufzer der Schlafenden gedrungen und sie selbst war zufrieden und glücklich gewesen, hatte sich den süße Saft von Bananenplätzchen von den Fingern geleckt und gefühlt, dass alles ist, wie es sein soll. Dann hatte sie leise vor sich hingesummt, denn Schlaflieder waren ein Teil ihres Lebens; und als sie sie nicht mehr ihren Kindern hatte vorsingen können, hatte sie sie eben ihrem Mann vorgesungen, und der war dann wirklich immer eingeschlafen: „Das Zünglein wie eine Ingwerscheibe, und die Öhrchen wie zwei in Zucker eingelegte Pfingstrosen-Blüten.“

Dreißig Jahre später lebt Hoang in Prag, einer Stadt, von der sie damals noch nicht einmal geahnt hatte, dass es sie überhaupt gibt.

 

Auf der weichen, in einem riesigen Einkaufszentrum gekauften Liege wälzt Hoang sich hin und her.

Genau wie in Hanoi bewohnen sie auch hier zwei Zimmer, aber im Unterschied zu den beiden Räumen im Hanoier Häuschen, unter dessen Wellblechdach sie zwei Kinder großgezogen hat, haben die hiesigen Zimmer glänzende Parkettböden und hohe Decken.

Und nachts fällt statt des Mondlichts der orangefarbene Schein von Straßenlaternen herein.

Tuan war gestorben und sein Körper war in Vietnam geblieben; vor zehn Jahren waren Hoang und ihre Tochter schließlich nach Prag gezogen. Ihr Sohn Thu lebte bereits hier.

Obwohl ihre Prager Nächte anders sind als die in Hanoi, ist Hoang nicht traurig. Immer hat sie eine kleine Tüte kandierten Ingwers zur Hand. Der sticht ihr süß in die Zunge. Und wenn sie nicht einschlafen kann, breitet sie ihre Decke auf dem Fußboden aus, um dort zu schlafen, obwohl sie nur zu gut weiß, dass ihre Tochter, die sich schnell an die europäische Art des Schlafens in hohen Betten gewöhnt hat, sie am nächsten Morgen rügen wird.

„Wie ein Hund, Mami“, sagt sie ihr immer. „Du schläfst auf dem Boden wie ein Hund.“

In solchen Momenten lächelt Hoang sie an und sagt mit einem Ingwerstückchen zwischen den Zähnen: „Du mein Klößchen“; dann stimmt sie ein von der Mutter gelerntes Liedchen an, dessen Melodie leicht und unbeschwert ist, wobei sich die Falten auf Suongs Stirn noch vertiefen, da Suong sich seit jeher um alles und jeden Sorgen macht, während Hoang zufrieden ist und sich am Leben freut.

Und selbst hier in Prag hat sie Lust zu singen.

 

Eiscreme

Die Selbsthilfegruppe besteht aus dreizehn Krebspatienten.

Vier von ihnen haben Sauerstoffflaschen dabei, halten sich in regelmäßigen Abständen durchsichtige Atemmasken vors Gesicht und holen gierig Luft. Die Gruppe wird von einer jungen Ärztin geleitet, die modisch ausgewaschene Jeans trägt und einen engen Pullover; an der Brust baumelt ihr ein Namensschild, das sie als Sarah ausweist. Ihre Arbeit macht sie gut, und wenn sie spricht, dann mit einer exakt dosierten Mischung aus Mitleid, vorsichtigem Optimismus und Vertraulichkeit. Die Gruppenmitglieder und deren Partner spricht sie mit Namen an, wobei sie ihnen in die Augen sieht. Ihre gefalteten Hände ruhen in ihrem Schoß. Hideki bemerkt, dass sie keinen Ehering trägt.

Die Sache gefällt ihm nicht. Er und Akiko sind zum ersten Mal hier, und Hideki hegt die leise Hoffnung, dass auch zum letzten Mal. Schon als er den Raum betreten und die im Kreis angeordneten Stühle gesehen hat, tat es ihm leid, dass sie überhaupt hergekommen sind. Er und Akiko nehmen Platz und er greift nach Akikos Hand. Durch die Chemotherapie hat Akiko abgenommen, so dass er jeden einzelnen ihrer Knochen spürt. Er streichelt ihre Hand und hört zu, wie die Ärztin sich vorstellt. Danach erzählen die Kranken reihum, welche Krebssorte genau sie jeweils haben. Hideki schämt sich fast dafür, gesund zu sein. Als er an der Reihe ist, wird er rot und murmelt, er sei lediglich Akikos Begleitung. Sarah, die Ärztin, lächelt ihm aufmunternd zu. Hideki, auf einmal fuchsteufelswild, würde ihr dieses Lächeln am liebsten mit der Faust austreiben.

Hier gibt es vier Brustkrebse, je einen Lungen- und einen Magenkrebs sowie eine Leukämie. Die übrigen Teilnehmer sind die Partner der Kranken, und ihren Minen nach zu urteilen, fühlen auch sie sich nicht sonderlich wohl. Trotz der Bemühung der Ärztin herrscht Hoffnungslosigkeit und Trauer. Hideki atmet flach und hält den Mund möglichst geschlossen. Obwohl er weiß, dass Krebs nicht ansteckend ist, hat er das Gefühl, mit tieferen Atemzügen womöglich irgendetwas Schädliches und abgrundtief Hässliches in sich aufzunehmen, was sein Leben – genau wie das der Kranken – schlicht zerschmettern würde.

Das Treffen dauert eine Stunde. Am Ende ist Hideki völlig verschwitzt. Sein Hemd klebt ihm am Rücken. Akiko bittet ihn, auf dem Gang zu warten, und geht zur Toilette. Durch die Tür hindurch kann Hideki hören, wie Akiko sich übergibt. Als sie wieder herauskommt, presst sie ihre Lippen zusammen, und ihr Gesichtsausdruck vermittelt ihm, dass dieses Treffen ihr letztes war, Ärztin Sarah also künftig ohne sie auskommen muss.

***

Im Buchladen in der Hennepin Avenue verbringen Hideki und Akiko fast eine Stunde. Akiko sieht sich die Neuerscheinungen des vergangenen Monats an. Schließlich bleibt sie vor dem Regal mit den Reiseführern stehen. Mit dem Finger fährt sie die Buchrücken entlang. Hideki steht neben ihr und beobachtet sie. Lofoten, Großbritannien, Island. Er fragt, ob sie vorhat, irgendeines der Bücher zu kaufen. Akiko schüttelt den Kopf. Schließlich verlassen sie den Laden und kaufen sich bei einem Imbissstand einen Kaffee. Dann schlendern sie die Hennepin Avenue und die 28. Straße entlang. Akiko macht kleine Schritte und Hideki muss sich bremsen, um nicht schneller zu gehen. Am liebsten würde er losrennen. Fort von hier. Ihm fällt der Dokumentarfilm ein, den er unlängst gesehen hat. Es war um einen Mann mit Depressionen gegangen, der erzählt hat, wie er mit dem Laufen angefangen hatte. Wie durch ein Wunder waren seine Depressionen schließlich verschwunden, und mittlerweile war dieser Mann Marathonläufer.

Ob man wohl auch dem Krebs davonlaufen kann?

Hideki sieht zu Akiko. Die nippt an ihrem Kaffee und betrachtet in einer Schaufensterauslage ein Kleid. Ihr Gesichtsausdruck wirkt entspannt, fast zufrieden. Für einen Augenblick scheint sie ihren Krebs vergessen zu haben. Das sollte ihn froh stimmen, aber in Wahrheit quält es ihn.

Er denkt nur noch an Krebs.

***

Vor etwa einem Jahr hatte Akiko einen ersten Knoten ertastet. Unter der Dusche war ihr am Übergang zwischen Brust und Achsel eine kleine Beule aufgefallen. Die war wie eine kleine Perle gewesen im ansonsten glatten Gewebe. Bestürzt war sie ins Schlafzimmer gelaufen, wo Hideki im Bett gelegen und gelesen hatte. Schweigend hatte sie sich auf den Bettrand gesetzt. Dann hatte sie geseufzt, nach Hidekis Hand gegriffen und sie sich auf die Brust gelegt. Überrascht hatte er gedacht, sie wolle mit ihm schlafen.

Sanft hatte sie seine Finger zu diesem Knoten geführt.

„Was ist denn das?“, hatte er gefragt.

Er kannte die Brüste seiner Frau. Dieser Knoten hatte ihn ebenso überrascht wie sie. Er hatte begonnen, Akiko abzutasten um herauszufinden, ob da nicht noch ein Knoten war. Akiko hatte sich in seine Arme geschmiegt. Ihre Haare hatten ihn an der Nase gekitzelt. Dann hatte er sie so lange gestreichelt, bis sie eingeschlafen war. Sobald er gehört hatte, wie sie leise seufzte, hatte er die Nachttischlampe gelöscht. Dann hatte er in die Dunkelheit gestarrt und der Stadt gelauscht, die vor dem Fenster ihres Schlafzimmers in der Columbus Avenue rauschte und kreischte; und er hatte sich nicht des Eindrucks erwehren können, dass von nun an alles anders würde.

 

Beim Frühstück hatten beide so getan, als sei rein gar nichts passiert. Toast, Rührei, frischer Orangensaft. Sie hatten sich gegenüber gesessen und dann gleichzeitig nach der Butter gegriffen. Er hatte gewartet, bis Akiko mit dem Buttern ihres Toasts fertig war.

„Das kommt wieder in Ordnung“, hatte er gesagt. „Das ist bestimmt nur irgendein Grützbeutel. Oder ein Lymphknoten. Unter den Armen sind doch Lymphknoten, nicht?“

Akiko hatte mit den Achseln gezuckt. Er hatte gefragt, ob er sie zum Arzt begleiten solle. Das hatte sie abgelehnt. Sie hatte sich tapfer gegeben, aber er hatte ihre Nervosität gespürt. Bevor er zur Arbeit gegangen war, hatte er sie geküsst. Draußen hatte er das Auto von Eis und Schnee befreit und dann bemerkt, dass Akiko ihm vom Fenster aus zusah. Er hatte ihr zugewunken, und auch sie hatte die Hand zum Gruß gehoben. Danach, so hatte er noch bemerkt, hatte sie diese Stelle an ihrer Brust berührt, als würde da etwas wehtun.

Am Nachmittag hatte sie ihn angerufen und erzählt, dass der Arzt eine Biopsie angeordnet habe.

Nach ein paar Tagen hatten sie Gewissheit.

Es war Krebs.

Der verschlang fast ihre gesamte Brust, denn der Knoten, den Akiko ertastet hatte, war nur die Spitze des Eisbergs gewesen. Noch vor Weihnachten wurde ihr die Brust amputiert, dann begann die Chemotherapie. Bei jedem Klinikbesuch war Hideki mit dabei. Ins Büro ging er nur noch sporadisch, seine Arbeit erledigte er jetzt von zu Hause aus; mit den Kollegen kommunizierte er ausschließlich per Telefon, und zwar nachts, wenn Akiko schon schlief.

Stapelweise las Hideki Bücher über Krebs, über Diagnosemöglichkeiten und Heilungschancen. Nur ungern hatte er die Dinge nicht vollständig unter Kontrolle. Er war ein gründlicher Mensch und besonnen, überstürzt handelte er nie. Erst analysierte er eine Lage, dann handelte er. Aber die Krebserkrankung seiner Frau entzog sich seinen Analysen. Theoretisch begriff er sie: schnell sich ausbreitende bösartige Zellen. Neue Zellformen. Ja, theoretisch war ihm das alles klar und verständlich.

Eine Operation. Dann Bestrahlung. Und Chemotherapie.

Aber Theorie und Praxis, das war nicht ein- und dasselbe.

In der Theorie kam nicht vor, dass Akiko sich achtmal täglich würde übergeben müssen. Oder dass sie so viel Gewicht verlieren würde, dass sie sich neue Kleidung zumeist in der Kinderabteilung würde kaufen müssen. Oder dass sie fast zu erschöpft sein würde, um es noch die Treppe hoch zum Hauseingang zu schaffen.

Oder dass sie ihre Haare verlieren würde.

Stundenlang saß Hideki vor dem Computer. Seine Augen brannten. Er war müde, aber schlafen zu gehen weigerte er sich. Schlafen zu gehen hieße, den Kampf aufzugeben. Unablässig las er Fachartikel und besuchte Diskussionsforen über Krebs. Er wollte den Feind durchschauen. Er beschäftigte sich sowohl mit den Möglichkeiten der Schulmedizin als auch mit alternativen Heilmethoden. Skalpell versus Akupunktur und Meeresalgen. Vielleicht war das ja überflüssig. Denn mittlerweile war Ende Januar, und vor sechs Wochen hatte man Akiko die Brust mitsamt dem Krebs weggeschnitten. All das hatte man verbrannt. Mittlerweile war Akiko höchstwahrscheinlich wieder gesund, was weitere Recherchen vielleicht überflüssig machte.

Dass Hideki nach wie vor den Drang verspürte, sich mit Krebs zu beschäftigen, war zweifellos eine Folge des Schocks. Des Staunens darüber, wie nah seine Frau dem Tod gewesen war. Der Erschütterung darüber, dass nichts für immer ist.

Die Unberechenbarkeit von Krebs empfand Hideki als Provokation. Er hatte Mathematik und Kybernetik studiert, und die Beschäftigung mit Zahlen war sein täglich Brot. Der Krebs war ein Störfaktor in seinem so wohlgeordneten, übersichtlichen Leben. Eine sich nach ihrer Chemotherapie übergebende Akiko war einfach kein Term seiner Gleichung.

Hideki ging Statistiken durch. Japaner waren angeblich ausgesprochen tumorresistent. Warum also Akiko? Ihre Großeltern waren aus Tokio in die USA gekommen, hatten sie ihre genetische Resistenz denn nicht mitgebracht?

Während Akiko sich nach ihrer Operation und der anschließenden Chemotherapie einigermaßen erholte, blieb Hideki im Grunde seines Wesens skeptisch. Er konnte nicht glauben, dass der Krebs einfach so wieder aus ihrem Leben verschwinden würde.

Er sollte Recht behalten.

Genau acht Monate nach der ersten Operation ertastete Akiko auch in ihrer anderen Brust einen Knoten. Die Vorkehrungen, die er getroffen hatte (gesunde Ernährung bestehend vor allem aus Fisch, Soja und Reis [Japan!] sowie leichte Gymnastik), waren offensichtlich wirkungslos geblieben. Als sie die Bestätigung hatten, dass es sich auch in diesem Fall um Krebs handelte und dass Akiko auch ihre zweite Brust verlieren würde, schloss Hideki sich im Bad ein und begann mit seinen Fäusten so lange auf die Fliesen einzuschlagen, bis seine Knöchel bluteten.

Er hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen.

***

Aber Akiko behielt ihren Optimismus. Sie glaubte fest daran, die Krankheit besiegen zu können. Zu ihren Brüsten entwickelte sie ein sehr pragmatisches Verhältnis: Sie waren krank gewesen, also hatte man sie amputieren müssen. Als sie Hideki ihre Narben zeigte, suchte er in ihrem Gesicht vergebens nach irgendeinem Zeichen der Scham oder des Bedauerns. Beide standen im Badezimmer, sie lediglich im weißen Slip, und im Schein der Glühlampe wirkte ihre Brust wie eine Landkarte, denn die Narben zogen sich von oben nach unten gleich zwei ineinander verschlungenen Flussläufen, von Unauffälligkeit konnte überhaupt keine Rede sein; die eine Narbe kannte Hideki schon vom letzten Mal. Er berührte sie mit seiner Fingerspitze, was sich anfühlte, als streichle er eine schwielige, abgearbeitete Stelle an Akikos Hand; dann übte er vorsichtig etwas Druck aus, worauf er Akikos Herzschlag spürte.

Ihn überkam eine unbändige Freude darüber, dass seine Frau noch am Leben war.

Nachts schmiegte sie sich an ihn. Hideki war fast schon eingeschlafen, aber sie machte ihn wieder wach.

„Gefalle ich dir?“, fragte sie, und er musste sofort an ihre Narben denken (wofür er sich hasste); er drückte sie fest an sich und küsste sie; ihr Gesicht war tränennass.

Der Krebs war etwas, was Akiko intuitiv bekämpfte, in was sie sich stürzte wie in einen Fluss, um dessen Stromschnellen mit geschlossenen Augen zu durchqueren (ahnte sie bereits, dass sie nicht überleben würde?), während Hideki ihre Krankheit wie ein Problem wahrnahm, das man von allen Seiten betrachten musste, analysieren und in seine Bestandteile zerlegen (Vorsorge, Behandlung, Heilung); gern wäre er hierbei verfahren wie beim Entwickeln eines Computerprogramms, logisch und Schritt für Schritt, und es regte ihn auf, dass sich Akikos Krankheit jeglicher Logik entzog, dass der Krebs in ihrem Körper zur Ruhe kommen konnte und dann an einer anderen Stelle mit voller Kraft erneut zuschlagen. Er hatte von Frauen mit Brustkrebs oder Gebärmutterhalskrebs gelesen, die als geheilt gegolten hatten, bei denen man jedoch einige Jahre später Metastasen an den unwahrscheinlichsten Stellen entdeckt hatte, an der Lunge, der Leber oder am Kehlkopf.

Ihm wurde klar, dass er Akiko nicht wirklich die beste Unterstützung bot, denn statt bei ihr (und ihrer Krankheit) zu sein, saß er lieber hinter verschlossener Tür allein in seinem Arbeitszimmer und las Artikel über Krebs.

Umso entschlossener hatte er sie deshalb zum Treffen der Selbsthilfegruppe begleitet, auch um deren Leiter zu fragen, wie genau er Akiko am besten behilflich sein konnte. Aber angesichts einer solchen Vielzahl weiterer Krebskranker war er verstummt, und sein unruhiges, gestresstes Gehirn begann sofort auszurechnen, wie viele der Anwesenden wohl überleben würden (er kannte die Statistik); und er war ungeheuer erleichtert, als Akiko für sie beide entschied, dass sie an keinem weiteren Treffen mehr teilnehmen würden.

***

„Ich hätte Lust auf ein Eis“, sagt Akiko, und er, der sie liebt, beginnt sich sofort nach einer Eisdiele umzusehen.

Es ist Ende Oktober und langsam schleicht sich die Dämmerung in die Stadt. Er und seine Frau gehen die Emerson Avenue entlang, Akiko mit Lust auf ein Eis und in dicker Jacke, dank derer man nicht sieht, dass ihr beide Brüste fehlen; er mit zugeschnürter Kehle und bitterem Geschmack im Mund.

 

Kaffee

Immer bevor sie in den Keller hinuntergeht, legt Květa ein wenig Makeup auf.

Für Bohumil Ptáček will sie gut aussehen. Puder, hellroter Lippenstift, nachgezogene Augenbrauen.

Květa ist Schauspielerin. Sie gibt vor, das Leben leicht zu nehmen und es zugleich fest im Griff zu haben.

Wer würde behaupten wollen, man könne seine Vergangenheit nicht korrigieren?

Květa korrigiert die ihre mit jedem Satz. Von irgendwelchen Verlusten oder Fehlschlägen soll der Briefträger nichts erfahren.

Die wahre Vergangenheit, also das, was Květa tatsächlich erlebt hat, verliert allmählich seine Konturen und verschwindet schließlich ganz; durch ihre Erzählungen erzeugt Květa eine neue Vergangenheit, die wunderschön ist und absolut makellos; dieser neuen Vergangenheit gibt sie sich völlig hin, wird schließlich ein Teil davon. Dadurch entsteht eine ganz neue Welt, eine Art Privatuniversum, das nur für den Briefträger Bohumil Ptá

ek vorgesehen ist: überaus raffiniert und durchstrukturiert. Dem Gewesenen wird neues Leben eingehaucht, und zwar ganz genau so, wie Květa es sich wünscht: weich und süß.

 

Der Apfelbaum

Květa schläft bei gekipptem Fenster.

Der Duft der blühenden Bäume dringt bis in ihr Schlafzimmer und kitzelte sie in der Nase. Täglich fragt sie sich aufs Neue, ob sie Bohumil Ptáček nicht an die frische Luft führen soll, und täglich kommt sie zu dem Schluss, dass das zu riskant wäre.

Erst als auch der Kirschbaum fast verblüht ist, fasst sie sich ein Herz. Spät nachts geht sie in den Keller hinunter. Sie klopft an die Tür des Baus und schließt beide Schlösser auf. Im Bau herrscht Dunkelheit. Als sie mit der Hand an der Wand entlangfährt, um Licht zu machen, schlägt ihr das Herz bis zum Hals. Doch selbst vom Licht wird Bohumil Ptáček nicht wach. Er liegt auf seiner Matratze ausgestreckt, hat die Decke bis unters Kinn hochgezogen und schnarcht. Zunächst will Květa wieder gehen, aber dann siegt ihr Entschluss, den Briefträger ins Freie zu führen. Also stellt sie sich mit gezücktem Revolver neben die Matratze. Dann beugt sie sich hinab, aber bevor sie den Briefträger wachrüttelt, sieht sie ihn sich aus nächster Nähe an. Noch nie ist sie ihm so nahe gewesen. Bohumil Ptáček verströmt einen leichten Schweißgeruch, und sein Schnurrbart riecht nach dem Vitamintonikum, das sie ihm gekauft hat. Seine Augenlider sind gerötet und die darunter liegenden Augäpfel bewegen sich hin und her. Irgendwo hat Květa einmal gelesen, dass solche Bewegungen darauf hindeuten, dass der Betreffende träumt. Eigentlich tut es ihr leid, dass sie den Briefträger jetzt wecken muss. Sie greift nach Ptáčeks Schulter und schüttelt ihn. Unwillig schlägt er die Augen auf und blinzelt ins Licht.

Květa reicht ihm einen alten Pullover von Jiří.

„Wir gehen jetzt raus“, sagt sie und stellt sich neben die Tür.

Bohumil Ptáček trägt einen karierten Flanellpyjama und zieht sich linkisch Socken und Pantoffeln an. Dann streift er sich den Pullover über, wobei er den Revolver in Květas Hand fixiert.

„Bleiben Sie direkt vor mir“, sagt Květa. „Falls Sie versuchen zu fliehen, muss ich Sie erschießen.“

Dann macht sie einen Schritt zurück, um den Briefträger vorbeizulassen.

„Und falls Sie schreien“, so Květa weiter, „erschieße ich Sie auch.“

Der Briefträger schnieft. Květa hat eine Taschenlampe dabei und leuchtet ihm den Weg. Das Kellertreppen-Licht lässt sie ausgeschaltet, damit die ukrainische Untermieterin nichts bemerkt.

Der Dienstboten-Ausgang, der direkt in den Garten führt, ist offen. Bohumil Ptáček tritt hinaus und Květa folgt ihm. Sie hört den Briefträger aufschluchzen, was sie ihr einen leichten Schrecken versetzt.

„Drei Schritte geradeaus und dann rechts“, befiehlt sie.

Solchermaßen dirigiert sie Ptáček in die Mitte des Gartens direkt unter den Apfelbaum, wo das orangefarbene Straßenlicht nicht mehr hinreicht.

Unter dem Apfelbaum bleiben beide stehen. Hier herrscht eine absolute Stille. Es ist zwei Uhr nachts und die Stadt schläft.

Bohumil Ptáčeks Atem geht flach und schnell. Er kann seine Tränen nicht länger zurückhalten. Weinend streckt er seinen Arm aus und berührt die Baumrinde. Dann macht er einen weiteren Schritt und umarmt den Baum. Květa sieht schweigend zu, wie er sich an der rauen Rinde das Gesicht zerkratzt. In der Dunkelheit des Gartens erkennt sie lediglich Silhouetten. Ihr ist klar, dass sie Ptáček in dieser Dunkelheit selbst mit geladenem Revolver kaum tödlich treffen würde.

Sie wartet, bis der Briefträger mit Weinen fertig ist. Dann sagt sie, es sei an der Zeit, ins Haus zurückzukehren. Bohumil Ptáček gehorcht und löst sich vom Baum. Wortlos gehen sie ins Haus zurück. Im Bau zieht der Ptáček seine Pantoffeln und die taunassen Socken aus. Dann setzt er sich auf die Matratze und sieht Květa an. Er hat einen feuchten Schnurrbart und rote Augen. An seiner Wange klebt ein weißes Apfelblütenblatt.

„Lassen Sie mich jetzt nach Hause gehen?“, fragt er, was Květa schmerzhaft berührt, denn eigentlich hatte sie gehofft, Ptáček habe sein Zuhause bereits vergessen.

„Gute Nacht“, erwidert sie und schaltet das Licht aus.

Danach sichert sie mit der Taschenlampe im Mund beide Schlösser. Dann lehnt sie sich mit der Stirn gegen die Tür und hört zu, wie Ptáček jammert und weint.

 

Mama

Sobald die Tage warm und sommerlich sind, beginnt Květa von ihrer Mutter zu träumen.

Das überrascht sie. Träume mit Jiří oder mit Bohumil Ptáček hätte sie eher erwartet. Stattdessen wird sie in ihren Träumen wieder zu dem kleinen Mädchen, dem die Mama das Haar bürstet, die Suppe einflößt oder die frisch bezogene Bettdecke überwirft.

Nach solchen Träumen ist Květa stets milde gestimmt, aber auch ein bisschen verlegen. Beim Frühstück streichelt sie dann dem Kater den Kopf und schnuppert vorsichtig herum, ob da nicht noch ein bisschen vom Duft ihrer Mutter in der Luft hängengeblieben ist; von ihrer Mutter, die nach Vanillezucker gerochen hat und gestärkter Wäsche, ganz leicht auch nach Toilettenseife und weißem Vaselin.

Am fünfzehnten Juli ist Bohumil Ptáčeks Jubiläum; an diesem Tag sind es genau sieben Monate, seitdem sie ihn gefangen genommen und in den Bau gesperrt hat – und sie hat nicht die geringste Freude daran.

Seit sieben Monaten lebt sie jetzt wieder mit einem Mann zusammen, und statt sich daran zu erfreuen, sitzt sie mit düsterer Miene am Küchentisch, trinkt ihren Kaffee und denkt über die Träume mit ihrer Mutter nach. Sie fragt sich, was diese wohl sagen würde, und zum ersten Mal stellt sie sich die Frage, ob sie Ptáček nicht freilassen soll, und wenn ja, dann wie.

Der Gedanke an diese Möglichkeit belebt sie. Sie fischt ein Päckchen Zigaretten aus der Schürzentasche, muss jedoch feststellen, dass es leer ist.

Sie hat eine unbändige Lust zu rauchen, aber im ganzen Haus findet sich keine einzige Zigarette. Sie sieht in allen Schubladen nach und durchstöbert alle Jackentaschen; dann stößt sie einen Fluch aus, nimmt die Schürze ab, schnappt sich das Portemonnaie und zieht die Schuhe an. Der gegenüberliegende Vietnamesen-Spätkauf ist ihre letzte Rettung.

Sie kauft sich gleich zwei Schachteln Zigaretten und eine Packung grünen Tee. Normalerweise raucht sie nicht in der Öffentlichkeit, aber heute macht sie eine Ausnahme, zündet sich noch vor dem Laden eine Zigarette an und stößt den Rauch genüsslich aus. Der Stuhl, auf dem die alte Vietnamesin sonst immer sitzt, ist leer, und Květa hat fast Lust, selbst ein Weilchen Platz zu nehmen; doch dann beherrscht sie sich und kehrt nach Hause zurück. Sie macht das Gartentor zu und geht zum Apfelbaum, unter dem sie nun jede Nacht mit Bohumil Ptáček steht. Sie raucht und sieht in den Himmel hoch; es ist morgens kurz nach acht und die Sonne wärmt bereits angenehm; es wird heiß werden. Květa blickt in die Krone des Apfelbaums, dessen Blätter hellgrün sind und dessen Früchte noch winzig klein; bald wird sie sie noch einmal auslesen müssen, denn beim ersten Mal ist sie nicht gründlich genug gewesen.

Schließlich muss sie wieder daran denken, woran sie bereits beim Aufwachen gedacht hat.

Wie lange soll sie Bohumil Ptáček noch gefangen halten? Soll sie ihn überhaupt wieder freilassen? Und falls ja, dann wie? Was, wenn sich so viel Frust und Wut in ihm angestaut hat, dass er versucht, sie zu überwältigen?

Nervös tritt Květa von einem Fuß auf den anderen. Ihre Zigarette hat sie fertiggeraucht, auf dem Boden ausgedrückt und den Zigarettenstummel in die Tasche gesteckt.

Falls sie Bohumil Ptáček verliert, dann verliert sie alles.

Mit wem könnte sie dann noch sprechen?

Was würde sie anfangen mit all den Worten, derer sie noch immer so übervoll ist?

Sie müsste aufhören, ihre Erinnerungen zu bergen und zu benennen – und sie würde verkümmern.

Bohumil Ptáček freizulassen hieße frei zu fallen in die Unsicherheit.

Und Unsicherheit ist etwas, worauf Květa nicht vorbereitet ist.

Sie nimmt eine weitere Zigarette aus der Packung und schiebt sie sich zwischen die Lippen, zündet sie aber nicht an. Mit der Hand streicht sie über den Stamm des Apfelbaums.

Ptáček wird sie anzeigen. Falls er sie nach dem Freilassen nicht einfach umbringt, wird er sofort zur Polizei gehen und dort melden, was ihm zugestoßen ist.

Und die Polizei wird Květa einsperren.

Dann wird sie es sein, die in einer Zelle sitzt.

Wäre das nicht verlockend?

In einem exakt bemessenen Raum zu sitzen bei regelmäßiger Nahrungszufuhr?

Nein, ihr Heim kann sie nicht einfach so im Stich lassen. Was würde ansonsten mit dem Garten passieren, und was mit dem Kater?

Obwohl: Das Haus könnte sie verkaufen …

Aber dann schüttelt Květa heftig den Kopf. So heftig, dass ihr die Zigarette aus dem Mund fällt. Sie hebt sie wieder auf.

So viele Fragen und nicht eine Antwort.

Sie will Bohumil Ptáček auf keinen Fall freilassen. Sie will ihn weiterhin dort unten im Bau festhalten, in Wärme und Sicherheit, ihm Essen zubereiten und sich um ihn kümmern.

Es sind doch erst sieben Monate, dass er hier bei ihr ist, und da soll sie ihn schon wieder hergeben?

Sie muss an den Traum mit ihrer Mutter denken.

An die weiche, bis unters Kinn gezogene Bettdecke.

An den Kuss auf die Stirn.

An die Berührung ihrer Augenlieder.

An ihre Mama, wie sie das Küchenfenster öffnet, um eine Biene oder eine Fliege hinauszulassen, die sich hinter die Fensterscheibe verirrt hat.

An ihre Mama in der weißen Kittelschürze und mit dem im Nacken zusammengebundenen Haar. An ihre Mama auf den hohen Absätzen; abends hatte Květa ihr immer die Hände eincremen dürfen, die Creme einmassieren in die feine Haut der Handrücken und um die rosigen Fingernägel herum.

 

Vorsichtig tritt Květa an das vergitterte Kellerfenster, hinter dem sie den gefangenen Briefträger weiß. Sie bewegt sich möglichst lautlos aus Angst, Bohumil Ptáček könne mit irgendeinem sechsten Sinn ihre Gegenwart erfassen.

Sie hockt sich nieder, betrachtet die schmutzige Scheibe und fragt sich, was sie tun soll.

 

Aus dem Tschechischen von Doris Kouba