Marek Šindelka

Der Fehler

2008 | Pistorius & Olšanská

Es war halb eins in der Nacht und Kryštof registrierte mit Erleichterung, wie der Zug an Fahrt gewann, wie mit zunehmender Geschwindigkeit die Schienen längs der dahinfliehenden Wagengarnitur aufeinander zuliefen und verschmolzen. Allmählich ließen sie die endlosen Gleisanlagen um den Hauptbahnhof hinter sich. Die blauen und roten Lichter der Weichen leuchteten scharf durch das Dunkel. In regelmäßigem Takt zeigten sich im Fenster die Masten der Oberleitung. Zwischen den Waggons der abgestellten Güterzüge blitzte das Licht der Stadt.

Er überlegte.

Ja, Amsterdam, er konnte sich erinnern.

Nacht.

Die Flughafenhalle. Müde Menschen, die auf Metallstühlen sitzen. Der Kopf eines Mannes sinkt immerzu herab und zuckt wieder hoch, hält sich für kurze Zeit gerade, ein ständiges Ineinanderkippen von Wachen und Schlaf. Ab und zu raschelt eine Zeitung, als ginge jemand durch herabgefallenes Laub. Jedes Gähnen verlangsamt die Welt. Geräuschlosigkeit hinter Glas. Riesige Maschinen manövrieren lautlos durch leichtes Geniesel. Verschlafene Annäherung an die Runway. Signallichter. Regen.

Wieder fühlte er in der Bauchgegend diese Angst. Der Flug nach Prag war verspätet. Zwei Stunden waren vergangen und es tat sich noch immer nichts. Er stand auf, fuhr sich nachdenklich übers Kinn und blickte unentschlossen umher. Er seufzte. Ich muss nach ihr sehen. Ich muss sie sehen. Überprüfen, ob alles in Ordnung ist…

Also los. Er schulterte die Tasche, die er als Handgepäck in die zollfreie Zone mitgenommen hatte. Mit unruhigen Schritten steuerte er auf die Toiletten zu. Seit gestern konnte er nicht schlafen. Weder im Flugzeug, noch hier. Er konnte einfach nicht.

Gleich nach der Landung hatte er nach Petersburg telefoniert (noch vor der ganzen Aktion hatte er eine russische Telefonnummer bekommen, bei der er sich melden sollte, falls etwas Außergewöhnliches vorfiel). Jemand hatte, wie er erfuhr, seinen Wiener Kontaktmann kaltgestellt. Etwas war im Gange.

Kryštof hatte gefragt, stotternd, wer, warum, wie das möglich sei, aber keine Antwort bekommen. Der Mann am Telefon sprach Englisch, mit starkem russischen Akzent: er solle weiterhin nach Plan verfahren. Die nächsten Städte wären Prag und Breslau. Und dann nannte er noch einmal die Summe, die ihm nach Ausführung des Auftrags winken würde.

„Das Wichtigste ist jetzt“, sagte er dann nachdrücklich und in einem Ton, der jede weiteren Einwände oder Fragen von vornherein ausschloss, „sich an den ursprünglichen Plan zu halten. Setzen Sie Ihre Reise fort. Unmöglich, das Ganze jetzt abzubrechen, ich hoffe, Sie haben verstanden.“ Kurzes Schweigen. „Das hätte für Sie, Herr Warjak, nicht gerade angenehme Folgen,“ sagte er noch, nun schon in völlig ruhigem Ton, rein informativ.

Kryštof rief Marian an. Das war das letzte Gespräch mit ihm.

Er öffnete die Tür zu einer der Kabinen und prüfte sorgfältig, ob nicht auch hier zufällig eine Überwachungskamera installiert sei. Nichts. Aus seiner Tasche zog er das hölzerne Futteral, in dem die reich verzierte Bambusflöte lag, die er in Tokyo in einem Souvenirladen im Erdgeschoss des Hotels gekauft hatte. In ihrem Innern hatte er die Pflanze ohne Probleme über die Grenzen gebracht. Ihre Wurzeln steckten in kleinen Plastikampullen, in denen sich ausreichend Wasser und Nährstoffe befanden. Mehr als genug für die ganze Reise. Er nahm die Flöte und tastete nach den beiden feinen Rillen, je eine auf jeder Seite. Dann fuhr er mit zwei Fingern in das Holz hinein und hob es längs der Rillen auseinander.

Als er die Pflanze sah, wurde ihm schwarz vor Augen. Mein Gott, nur dass nicht… Vom Kopf durch die Kehle in den Bauch hinab, von den Leisten in die Schenkel bis in die Knie hinein durchfuhr ihn eine Schwäche. Ihm wurde schlecht. Dass konnte nicht wahr sein… Die Pflanze sah aus, als wäre sie tot. Ihre Blüte hatte sich völlig eingerollt, sah ungesund aus, krümpelig, welk. Aber das Wasser in den Ampullen war nicht weniger. Sie hatte nichts getrunken. Die Bestie.

Friss, du Monster! rief es voll Zorn in Kryštofs Kopf.

Nein…nein, nein! Sie kann einfach nicht tot sein…!

Sie darf nicht…

Dann… dann bin ich de facto auch tot… ja…

Ja, ja, ja, Sieg! Und Herr Warjak erhält drei silberne. (Das war aber eine spannende Folge, sagt der Moderator, zum applaudierenden Publikum gewandt.) Auf in die nächste Runde zwei Meter unter der Erde!

Aber, aber… unseren Champion hat das gewaltig mitgenommen… na, Herr Warjak, Sie sind ja richtig ins Taumeln geraten … Halten Sie sich nur schön an der Wand…na sehen Sie…

Und Einatmen. So. Sehr schön.

Ausatmen. Ja, genau. Ja, so macht man das. Und noch einmal. Das ist vielleicht ein kluger Junge. Na also, ausgezeichnet, ausgezeichnet! Eins und zwei und drei und einatmen…Und eins und zwei und drei und…

HALTS MAUL! Halt dein blödes Maul, du Bastard! Du Vollidiot… Ruhe! Schluss! Aus! Verschwinde… verschwinde.

Die Resopalwände. Die Bodenkacheln. Alles verschwamm…Die Toilette. Schon zum dritten Mal hatte er gespült, nur damit etwas geschieht. Ein Quadratmeter. Das Fieber verwischte die Konturen. Was jetzt? Einatmen. Ausatmen.

Nein! Ganz eindeutig nein! Sie kann einfach nicht tot sein. Und fertig! Noch ist nicht alles verloren. Schön der Reihe nach. Es liegt am Wasser. Die Nährstoffe sind die falschen. So ist das. Als wir sie fanden, was tat sie da?

Ja… also…

Ich warte….

Na los doch, raus damit…!

Tja…also sie hat… wie soll ich sagen… sie fraß eine Katze! Sie wuchs aus einer Katze hervor.

Genau! So etwas hatten wir noch nie gesehen… Das ist alles andere als schön und angenehm, aber es ist so! Kapierst Du jetzt endlich? Wenn die Pflanze überleben soll, braucht sie ein Tier! Wir müssen sie in etwas Lebendiges setzen! Das ist es!

Das… das ist doch Unsinn…

Nein…

Doch, das ist es… schließlich sind wir schon durch die Abfertigung… Mensch. Auf dem Flughafen gibt es nicht gerade eine Zoohandlung neben der anderen. Wir sind hier in Amsterdam. Schiphol, internationaler Flughafen, falls Du das schon gemerkt haben solltest, du Schlaumeier. Flugverkehr, Zollkontrolle, von wegen Zoo, kein Kitekat, nichts! Alles obersteril. Kein Dorfbahnhof. Hier findest Du nicht mal einen Floh. Geschweige denn eine Katze. Was? Zurück in die Gepäckaufgabe kommst du nicht… Und außerdem, was hilft dir schone eine Katze, aus der eine Pflanze wächst. Das wäre zumindest … verdächtig? Oder? Ich warte, du Scheißkerl! Na, sag schon! Spuck´s aus!

Schon gut, schon gut, in Ordnung. Ich weiß nicht… ich weiß nicht.

Wir sind so oder so im Arsch.

Stimme des Moderators: Und Herr Warjak bekommt noch einmal drei silberne…

LECK MICH AM ARSCH! (zweistimmig gesprochen; der Moderator verlässt entsetzt das Studio)

Na ja,… einen Weg gäbe es schon…

Kryštof erbrach sich.

Er schlug die Tür der Kabine zu. Am Waschbecken spülte er sich den Mund aus, wusch sich das Gesicht. Bleckte die Zähne in den Spiegel. Also gut, gut. Dann los.

Er ging in den erstbesten duty free shop. Kaufte zwei Flaschen Wodka, zwei Plastikflaschen stilles Wasser und ein Paar Ohrringe. Dann kaufte er in einem Kleiderladen, ohne lange zu wählen, drei T-Shirts, einen Sweater und ein Paar Schuhe mit einer dicken gefütterten Lasche (die Verkäuferin fragte ihn, ob er sie nicht probieren möchte, er aber wehrte nervös ab, sie seien nicht für ihn). Er stopfte die Sachen in eine große Plastiktüte und begab sich zu den Toiletten am anderen Ende der Halle.

Es war schon spät in der Nacht. Er wartete, bis der Mann, der sich gerade die Hände wusch, gegangen wäre. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, warf Kryštof sicherheitshalber einen Blick in jede Kabine. In der letzten breitete er seine Einkäufe auf dem Boden aus, nur eine der beiden Wodkaflaschen ließ er in der Tüte, die er auf den Boden schlug. Ein gigantisches Krachen. Der Widerhall der kalten Kacheln. Kryštof griff die Tasche mit dem Alkohol und den Scherben und verriegelte die Kabine. Er wartete, lauschte.

Nichts.

Sehr gut. Er hatte Tabletten gegen Übelkeit bei sich. Bei Flugreisen wurde ihm manchmal schlecht. Er bog den Blister und drückte sich vier Tabletten auf seine verschwitzte Handfläche, warf sie ein und schluckte sie runter. Dann öffnete er die zweite Flasche Wodka, hielt den Atem an, bog den Kopf zurück und goss rasch die Hälfte des Inhalts hinunter. Gesichtskrampf. Er saß da und wagte die Augen weder zu bewegen noch zu öffnen. Sein Magen hob sich jeden Augenblick bis zur Kehle, er würgte und schickte ihn wieder abwärts.

Allmählich wurde es besser. Er schob noch einen Schluck nach und wartete, bis der Alkohol zu wirken begann.

Und plötzlich war es da!

Als würde ihm jemand auf den Kopf treten, die Knie gegen seine Schläfen pressen. Er öffnete den Mund und bewegte den Kiefer hin und her, um den Druck zu mildern. In der Nase brannte ihm der Geruch von Alkohol.

Sehr gut.

Er war total alle.

Der Raum wankte und senkte sich ab nach links. Blieb so, schief gegen seinen Kopf gelehnt, solange er selbst sich nicht von der Wand abstieß und sich aufzurichten versuchte. Scheiße. Vielleicht hätte ich mich doch nicht so zubunkern sollen. Er taumelte erneut. Hielt sich an der Klinke. Kruzifix, dageblieben! Er tastete nach der Flasche mit dem Wasser, setzte sich auf die Schüssel und trank. Die Linien des Raumes flohen zur Seite. Er fing sie mit dem Blick ein und beförderte sie zurück an ihren Platz.

Das reicht, du Aas! Er schrie die Klinke an, die sich seltsam zu drehen begann.

Ääh… (er wurde sich klar, dass er nicht so einen Lärm veranstalten sollte).

Mühsam stand er auf und zog sich aus.

Die Kabine war glücklicherweise ziemlich eng, und ihre Wände fingen ihn, als er so von einer Seite zur anderen wankte, im Großen und Ganzen immer wieder erfolgreich auf…. als würden sie Ball mit ihm spielen.

Ihr Schweine… fuhr es durch seinen Kopf, und er tänzelte von einem Fuß auf den anderen, um das kippende Gleichgewicht in Balance zu halten. Den Kopf vornüber geneigt, versuchte er, die Gleichung des Hosengürtels zu lösen.

Ihr Schweine… sagte er in einem Ton, als solle es bedeuten: „Mensch Mädels! Einen Moment Geduld, gleich bin ich für euch da, ich muss nur den Riemen hier aufkriegen…“

Er schlug mit dem Gesicht gegen die Wand. Im Fallen hatte er die Hände nicht mehr schnell genug ausstrecken können. Mit dem Kinn stieß er sich ab und sofort drückte sich die Resopalwand gegenüber an seinen Rücken.

Er lachte, durch die Nase. Ja, er jauchzte sogar ein bisschen, als fände er seine Trunkenheit sogar ganz amüsant.

Er war nackt.

Die Kleidung hatte er über den Rand der Kabine geworfen. Er bückte sich nach der Plastiktüte mit den Scherben und dem Wodka. Irgendwie rutschten ihm die Beine weg. Das Wasser hatte sich aus der Flasche über den Boden ergossen, er hatte vergessen sie zuzudrehen.

Ein Schmerz im Knie. Er schmiegte sich an das kühle Porzellan der Schüssel und schlief kurz ein.

Nach nicht ganz zehn Minuten erwachte er vor Kälte. Einen Moment lang versuchte er sein betrunkenes Hirn zu zwingen, ihm zu erklären, was er hier tue. Als es ihm einfiel, wurde er traurig. Mit einiger Anstrengung zog er sich hoch auf die Schüssel.

Und los geht´s, meine Damen und Herren! Herr Kryštof Warjak steigt in die letzte Runde des Kampfs um den Schatz der russischen Mafia. Unerhört! So etwas hat die Welt noch nicht gesehen! Nicht dass es die Regeln verbieten würden. Ganz im Gegenteil!

Heute (und damit kommen wir all unseren treuen Zuschauern entgegen, die sich bei der Redaktion in verärgerten Briefen darüber beklagt haben, wie wenig Blut in der letzten Zeit geflossen sei), heute also, wird es richtig krass!

Meine Damen und Herren. Geschätzte Wände, sehr verehrtes Arschloch, hochwohlgeborene Klinke, liebste Kacheln, unser Favorit ist bereit!

Applaauuus für Herrn …. Warjaaaaak! Hurra!

Und nun sehen Sie ihn schon, wie er in seiner Plastiktüte kramt. Jawohl… er gräbt sich durch die Scherben und den Wodka… und es sieht ganz so aus, als wolle er nichts dem Zufall überlassen, sorgfältig sucht er nach einer geeigneten Scherbe, nach der größten und spitzesten… Die ganze Sache ist umso schwerer, als ihn ein ständiger Brechreiz schüttelt, aber das ist nun mal so, meine Damen und Herren, hochverehrte Spülvorrichtung, teuerster Pinkelboden, das ist nun mal so vor einem solchen Schlachtfest… so und nicht anders.

Und wie es scheint…Ja…! Tatsächlich. Verehrte Zuschauer, es ist so weit. Warjak wusste, was er tut, ja, das wusste er …. er hat sich eine sehr schöne Scherbe herausgefischt! Übrigens, wer hätte zu Beginn der Saison gedacht, dass ein Junge wie er zu so etwas fähig ist… Hat hart an sich gearbeitet. Ich will nichts beschreien, aber sein heutiger Auftritt… einfach klasse! Ein Virtuose! Das ist das richtige Wort! Auf den Tribünen summt es wie im Bienenstock. Allen ist klar: Warjak war noch nie so gut in Form…

Und wir sehen, wie er warm läuft… wie er in Fahrt kommt…. na ja… haha… Das wäre ja nicht er, wenn er sich vor dem Start nicht ein wenig einheizen würde… Ein Schlückchen Wodka hat schließlich noch keinem geschadet… Die Veranstalter drücken ein Auge zu. Wie auch nicht… es ist ja kein Doping, nein… und ohne das würde es wohl nicht gehen….

Kryštof stieß sich die Scherbe in den Bauch.

Schmerz verzerrte sein Gesicht. Sein Atem ging in Stößen. Er wimmerte durch die Nase, nahm alle Kraft zusammen …. und schnitt sich durch ein Stück seines Körpers. Das warme Blut quoll ihm über die Hand. Er warf die Scherbe auf den Boden. Pling machte es und die Pfütze spritzte.

Jemand öffnete die Tür zu den Toiletten.

Scheiße.

Kryštof biss die Zähne fest zusammen. Er rührte sich nicht. Stille. An einer Hose ratschte ein Reißverschluss. Stille. Aus der Wunde rann Blut. Wie Tränen, mit dem gleichen Geräusch, dem gleichen sachten Beben. Er sah auf den Boden. Folgte den Fäden des Bluts, die sich in der Pfütze verästelten. Sie wucherten durch das klare Wasser. Schlugen Wurzeln in ihm. Und das Wasser änderte peinlich berührt und ohne Gegenwehr seine Farbe. Die Pfütze wanderte langsam der nächsten Kabine zu. Er zog sie mit den Augen zurück. Endlich fing der andere an zu pinkeln. Kryštof wagte auszuatmen. Nur nicht reihern, nur nicht reihern…

Nach einer halben Stunde hatte der andere ausgepinkelt. Er spülte und wusch sich anderthalb Stunden die Hände. Er musste sich in dieser langen Zeit unter dem heißen Wasser das Fleisch von den Knochen geseift haben. Eine weitere Viertelstunde zog er sich Papierhandtücher aus dem Kasten und hobelte sich damit über die Stümpfe, bis er das letzte Knöchelchen zermahlen hatte. Und dann öffnete er die Tür (wahrscheinlich mit den Zähnen) und ging.

Die Tür fiel ins Schloss, Kryštof griff nach der Flasche und goss Wodka über die Wunde, um sie zu desinfizieren. Ein Höllenbrand. Als die Grimasse sich löste, das Stöhnen sich gelegt hatte, kam das Wichtigste. Er zog die Pflanze hervor (besser gesagt, das angefaulte Gekräusel, dass mit etwas Fantasie einer Pflanze glich), und sie lag da, auf seiner flachen Hand.

Er zögerte.

Mach schon, Scheißkerl…

Das ist die letzte Möglichkeit…

Er fühlte, wie der Blutverlust ihn schwächte…

Wie ein Frösteln im Rücken zog eine schreckliche Kälte durch seinen ganzen Körper, zog durch die Wunde im Bauch hinaus. Mit dem Blut floss wahrscheinlich auch der Alkohol ab und die chemischen Wirkstoffe der Tabletten. Mit einem Mal war er nüchtern. Er fühlte nur eine große Müdigkeit.

Mach schon…

Mit Zeigefinger und Daumen schob er die Wundränder auf, so gut es ging. Die andere Hand setzte die Pflanze hinein und die Wunde schloss sich. Die Blutung versuchte er mit dem zusammengeknüllten Sweater zu stillen.

Er wartete ab, was passieren würde.

Nichts.

Nein, Moment…

Er atmete.

Etwas stach ihn.

Und wieder. Dann noch dreimal. Er spürte, wie etwas durch seinen Körper zog. Ein merkwürdiges Gefühl. Als würde jemand Fäden durch ihn ziehen. Er schrie auf. Das schmerzte. Nie zuvor hatte er eine solche Ohnmacht empfunden.

Etwas Fremdes hatte ihn befallen, durchdrang ihn. Plötzlich war ihm klar, dass sein Körper etwas Beschädigtes war. Als hätten seine Zellen ihre Grenzen verloren, als würde er aufhören, sich gegen das abzugrenzen, wovon er umgeben war. Dieser winzigen Pflanze wegen, deren Wachstum er in seinem Innern mit Entsetzen registrierte, zerfiel in ihm die Vorstellung, was er ist und was er schon nicht mehr ist. Seinen Körper durchdrang eine völlig andere Art von Lebewesen. Tierisches und pflanzliches Leben verschmolzen….

Er fühlte, wie die Pflanze Wurzeln in ihm schlug. Wie die Fäden dieser Wurzeln in sein Fleisch eindrangen. Ein schrecklicher Schmerz. Die Pflanze nahm sich von ihm, was sie brauchte. Sie durchforschte ihn blindlings.

Auf seiner Haut stand kalter Schweiß. Er fing an zu weinen. Er fühlte es im ganzen Bauch. Es breitete sich aus, abwärts ins linke Bein. Nach oben Richtung Herz. Er warf den Kopf zurück, als würde er ihn über Wasser halten wollen, und schnappte gierig nach Luft. Mein Gott mein Gott mein Gott mein Gott mein…

Und dann war es auf einmal vorbei.

Er schluckte.

Er wagte sich nicht zu rühren.

Es war vorbei.

Nein.

Es war in ihm, aber es kroch nicht mehr voran.

Er konnte genau erkennen, wie weit es reichte.

Es kroch nicht mehr.

Es kroch nicht mehr.

Es kroch nicht weiter.

Er atmete aus.

Und stand vorsichtig auf. Atmete tief ein. Sein Herz hämmerte. Er fühlte sich zerbrechlich. In seinem Kopf schäumte das Adrenalin, das sein entsetzter Körper dorthin gespült hatte. Er fühlte sich unsagbar elend. Als hätte er Krebs. Aber Hauptsache, es kroch nicht mehr weiter. Er nahm den Sweater hoch und wollte ihn um die Hüften binden. Erstaunt stellte er fest, dass die Wunde aufgehört hatte zu bluten.

Seltsam…

Er öffnete die zweite Wasserflasche. Das Plastik, das den Schraubverschluss sicherte, zersprang, und er goss das Wasser über sich aus. Wusch das Blut ab. Wusch die zerschnittene Seite sorgfältig sauber. Die Wunde blutete tatsächlich nicht mehr.

Sehr gut. Warum nicht.

Er nahm eins der Shirts und die Ohrringe, die er gekauft hatte. Das Shirt zerriss er mit den Zähnen. Beim dritten Versuch gelang es ihm, einen langen grünen Faden aus dem Gewebe zu ziehen. Gut, gut… Er griff nach der Flasche mit dem restlichen Wodka und nahm einen großen Schluck. Warm. Ja… von einem der Ohrringe zog er den Haken ab (beim Kaufen hatte nach den feinsten und spitzesten gesucht) und befestigte den Faden… er nahm noch einen Schluck…

Und nähte die Wunde zu.

Der Schmerz war nicht größer als der, mit dem ihn die Pflanze durchnäht hatte.

Wodka.

Auf die Stiche. Und Wodka so.

Er merkte, dass der ihn nicht mehr betrunken machte. Er trennte die dicke Molitanlasche aus den gekauften Schuhen, tamponierte damit die Wunde (die zwar schon nicht mehr blutete, aber wer weiß) und machte sich aus den Fetzen des Shirts einen Verband. Dann wischte er den Boden auf. Er zog sich an und versenkte die Tasche mit der ganzen Schweinerei zwischen den zerknüllten Papiertüchern in dem großen Korb bei den Waschbecken. Er spülte sich das Gesicht, überprüfte sich im Spiegel, übte die Mienen und Blicke für die letzte Kontrolle vor dem Boarding.

Insgesamt akzeptabel…

Hm..

Insgesamt ganz gut… eben ein weiterer unausgeschlafener (etwas angetrunkener) Passagier. Jawohl. Oder nicht…? Jetzt ist es sowieso schon zu spät… Was…? Ein bisschen Alkohol eben…. naja. Hier haben sie Ihren Pass. Der nächste …! Der nächste!

So ungefähr könnte es …. laufen… oder?

Ja. Vielleicht schon.

 

Die Übersetzung von Kristina Kallert ist für das Projekt “So nah, so fremd” von Šárka Krtková, Stipendiatin der Robert Bosch Stiftung im Programm Kulturmanager aus Mittel und Osteuropa entstanden. Das Projekt wurde durch die Robert Bosch Stiftung, den Deutsch-Tschechischen Zukunftsond und das Literaturhaus München gefördert.