Emil Hakl

Dicke Luft

2004 | Argo

Ich hatte fast eine halbe Stunde Verspätung, also bog ich in die Kaprova-Gasse ein und ging direkt über den Altstädter Ring, obwohl es Mitte Juli war und überall von der Hitze benommene Touristenhorden herumwuselten. Ich schlängelte mich zwischen ihnen hindurch und versuchte niemanden allzu sehr anzurempeln, aber nach und nach stellte ich fest, dass es anders gar nicht ging. „Pardón …“, sagte ich laut in die Klumpen lärmender Körper hinein. „Pardón! Pardón!“
Ich fühlte, wie sich mein verschwitztes T-Shirt an meinem Rücken festsaugte, wie mir ein Tropfen nach dem anderen die Wirbelsäule hinabrann. Nach einer Weile gab ich es auf und fing an mit dem ganzen Körper die fest geschlossenen Reihen wiehernder breitschultriger Blondschöpfe auseinanderzudrängen, die sich quer über den ganzen Fußweg breitmachten, denn – das war mir schon von vornherein klar – die würden einem sowieso nicht aus dem Weg gehen. Zu guter Letzt fing ich an sie mit den Armen beiseite zu schieben. Es überraschte mich, dass sie sich einfach so wegschubsen ließen, ohne dass sie das irgendwie besonders beeindruckte. „Marsmenschen!“, sagte ich mehrmals in die kichernden, platten, gelösten Gesichter und mein Herz rasselte. „Marsmenschen!“
Ich schrammte an der Ecke eines geöffneten Geschäfts vorbei, um an einer Traube fröhlicher Models vorbeizukommen. In diesem Moment hielt ich an, als hätte ich eins mit einem Knüppel über den Schädel gekriegt: Aus den Tiefen des Ladens traf mich eine süßliche, mir irgendwie bekannt vorkommende Musik. Ich blieb stehen und lauschte. Es war das Gackern der angescheuselten Freimaurerhühnchen aus der Zauberflöte:
„Pa… pa-pa…, pa… pa-pa… Pa-pa-pa-pa-papagena! Pa-pa-pa-pa-papageno!“
Ich war entsetzt darüber, wie gut ich das doch verstand: Ich hörte hier gerade einen Kommentar zu dem nicht enden wollenden Geschiebe und Gedränge und Gewusel und Gerenne. Ein Gebet der lebenden Materie, die Angst hatte nach vorn zu schauen, und so schnitt sie seitwärts Grimassen in den Spiegel. O Isis und Osiris! Und schlimmer noch: Auch in dem Moment, wenn schon irgendwo in den Hosen das Blut durchsickerte oder wenn die vom stereotypen Treiben entkräfteten Zellen anfingen, bloß noch das zu machen, wozu sie gerade Lust hatten, gerade dann wurden die Schuhe nur umso intensiver geputzt, die steife, schlecht sitzende Perücke nur um so eifriger zurechtgezupft. Ich stand da und lauschte. Das Pizzicato der Streicher mischte sich mit dem Flügelschlag über den glühend heißen Dächern. Letzten Endes hatte er das nur ein paar Monate, bevor sie ihn selbst in die Grube schubsten, komponiert: „Papagena! Papageno!“
Für eine Sekunde sah ich mich selbst in einem Schaufenster. Du kommst dir hier auch schon vor wie ein Geist, fuhr es mir durchs Hirn. Wie jemand, den es fast schon nicht mehr gibt, der aber mit Hilfe seines Körpers noch herumtrickst, der die Spuren verwischt und sich naive Finten ausdenkt, damit die anderen es nicht merken … In diesem Moment rannte ein kleines Männlein in Schlabberhosen mit seiner Schulter volle Kante in mich rein. „Sohri!“, schrie er. Ich ächzte und tauchte wieder ein in den Strom. Erneut machte ich einen Bogen um das Grüppchen jodelnder Models.

Das Mäusegässchen unterhalb der Theinkirche war definitiv verstopft. Dort stauten sich Dutzende von Reisegruppen und positionierten ihre Videokameras. An den Ständen wurden Mützen, Marionetten, Schnickschnack, Tassen, Touri-Scheiß und Matrjoschkas verkauft. Ich schob mich an der Wand entlang und stieg über phantasmagorisch aufgezopfte Jugendliche hinweg, die auf der Erde saßen und ihre Beine in die Gasse hinausgestreckt hatten um deutlich zu zeigen, wie eezee sie drauf waren. Von allen Seiten ertönte Geplapper und Gelächter.
Mitten auf dem kleinen Platz in der Týnská-Gasse stand reglos ein ältlicher Typ mit Schnauzbart und hielt die aufgeschlagene Speisekarte von irgend so einem neu eröffneten Restaurant vor sich hin. Er hielt sie so, dass sommersprossige dickärschige Matronen mit kurzen Hosen in Begleitung von bleichen Zwei-Meter-Greisen, dass zugedröhnte spanische Jugendliche, japanische Omis mit Hüten auf dem Kopf und kreischende rothaarige Angelsächsinnen mal schauen konnten, was sie wohl so für einen roten Heller gern essen würden. Der Typ stand da, starrte vor sich hin, und die Menge stieß immer wieder an ihn an.
Und als ich das alles um mich herum so sah, diese Konsequenz der Tourismusindustrie, diese fröhliche, unschuldige, nach Deodorant duftende, kindlich neugierige Menge, der es wurscht war, dass die Welt sich gerade daran machte unter ihren Hintern auseinanderzufallen, denn das würde ja nicht mehr heute passieren und auch nicht morgen, und weil es sein konnte, dass das nicht einmal übermorgen passieren würde, wurde mir schwarz vor Augen.
Ich ging zu dem Mann hin und sagte: „Dass Sie sich nicht schämen?!“
Er sah mich mit seine grauen Augen an. Sein Gesicht war voller winziger Fältchen. Er hatte ergrauende, nach hinten geklatschte Haare. Geheimratsecken. In seinen Pupillen reckte sich die Theinkirche in die Höhe, die aussah wie ein startklares Sternenschiff, wie der Raumtransporter Nostromo, der durch fremde, leere, schwindelerregend weit entfernte Gefilde des Weltalls rast. Die Türme ragten zum Himmel voller bewegungsloser Wolken auf wie zwei riesige leergeschriebene Eddings.
„Na klar schäm ich mich“, antwortete er.
„Aha“, sagte ich. „Dann möchte ich mich natürlich entschuldigen.“
„Das brauchen Sie nicht“, antwortete der Mann und hielt weiter seine aufgeschlagene Speisekarte vor sich hin.
Ich überflog die Preise: 499,– … 548,– … 829,– …
„Na dann, tschüs“, sagte ich und ging.
„Issit gudweh tu vissit dis big tschertsch?“, trat mit einem Lächeln ein unglaublich gut aussehendes asiatisches Mädchen mit Brille an mich heran. Hinter ihr in Deckung standen noch fünf weitere, absolut identisch gut aussehende Mädchen mit Brille, und alle lächelten sie.
„Yes, it is“, wedelte ich mit meiner Hand und versuchte sie ebenfalls anzulächeln.
Die Mädchen verbeugten sich leicht und auch ich verbeugte mich leicht. Eine Sekunde lang schaute ich den sechs festen, zielbewussten Popos und den sechs Paaren weißer Adidas-Turnschuhe hinterher, die in Richtung Theinkirche davongingen, die von hier aus noch viel stärker an ein moosbewachsenes, von Meteoriteneinschlägen verbeultes Raumschiff erinnerte, bestückt mit Dutzenden von Antennen, die in Flugrichtung positioniert waren, hinein ins eiskalte Weltall.
Ich drehte mich um und hetzte weiter. Auf dem Bordstein vor dem Café, in dem ich verabredet war, der „Týnská kavárna“, lag irgendwelche Kacke in Form einer schlafenden Schönen. Obwohl sich dadurch meine Verspätung unerträglich weiter erhöhte, musste ich doch wieder Halt machen. Ich stand da und betrachtete dieses Ding. Es war kaum zu glauben! Die Ähnlichkeit mit einem menschlichen Körper war schon fast erschreckend perfekt. Einen Meter von meiner Schuhsohle entfernt ruhte auf dem Pflaster eine kleine, verträumte, matt glänzende Huri mit lasziv vorgestreckter Hüfte. Eine nackte Odaliske mit einem riesigen, glatten, aufs Schönste gespaltenen Hinterteil und einem kleinen geneigten Kopf.
Als ich zwanzig Sekunden später die Klinke herunterdrückte und ins Café hineinlief, stellte ich fest, dass Tomáš dort in aller Seelenruhe auf mich wartete, ein Bein über das andere, trank er ein Bier und las irgendein dickes, in eine Zeitung eingeschlagenes Buch.
Aus: “O létajících objektech” (Von Flugobjekten)
© Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch, 2005
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