1. Kapitel: Das Buch mit dem violetten Einband
 
Im Antiquariat in der Karlova schlenderte ich die Bücherreihen entlang, zuweilen sah ich durch das Schaufenster nach draußen: mittlerweile schneite es stark, mit einem Buch in der Hand beobachtete ich, wie die Schneeflocken vor der Mauer der Salvatorkirche wirbelten, wandte mich wieder dem Buch zu, atmete seinen Duft ein, ließ meinen Blick über die Seiten schweifen und las hier und da ein aus dem Kontext gerissenes Satzfragment, das geheimnisvoll und gleißend aufleuchtete. Ich war nicht in Eile, sondern froh, in einem Raum zu sein, wo es angenehm nach altem Papier duftete, wo es warm war und still, wo die Seiten raschelten, wenn sie gewendet wurden, so als ob sie im Traum seufzten, ich war froh, nicht in die Dämmerung und den Schneesturm hinaus zu müssen.

Langsam ließ ich den Finger über die Wellen der Buchrücken im Regal gleiten; plötzlich versank er in einem dunklen Spalt zwischen einem französischen Wälzer über Volkswirtschaft und einem deutschen Buch mit dem Titel Geburtshilfe bei Rind und Pferd auf dem eingerissenen Rücken und ertastete am Grund der Lücke einen ungewöhnlich weichen Buchrücken. Gewaltsam zog ich ein Buch in einem dunkelvioletten Einband – ohne Autor und Titel – aus den Tiefen des Regals hervor und schlug es auf: die Seiten waren in einer mir unbekannten Schrift bedruckt; flüchtig blätterte ich es durch, betrachtete die verschlungenen, wie Schnee wirbelnden Arabesken auf dem Vorsatzblatt, schloss das Buch wieder und schob es mit Mühe zwischen die gelehrten Abhandlungen zurück, die zwischenzeitlich aufgeatmet und die entstandene Lücke geschlossen hatten. Ich ging weiter das Bücherregal entlang, hielt jedoch inne, kehrte zurück, griff erneut nach dem Buch in violettem Samt und zog es aus der Reihe der Bücherrücken schräg zu mir. Nichts wäre einfacher gewesen, als das Buch wieder ins Regal zu schieben und sich wie sonst auch weitere Bücher anzuschauen, in den Sturm hinauszutreten, den Weg durch die Gassen fortzusetzen, nach Hause zu gehen. Es war doch nichts geschehen, woran man sich erinnern oder was man vergessen sollte. Dann wurde mir bewusst: die Schrift in dem Buch war nicht von dieser Welt. Aus dem Spalt lockte mich ein beängstigender Hauch; noch immer hätte ich einfach an ihm vorbeigehen und ihn dem wuchernden Gewebe von neu entstehenden Zusammenhängen überlassen können. Es war nicht meine erste Begegnung dieser Art, wie jedermann war ich schon oft – in kühlen Fluren fremder Häuser, in Höfen, am Stadtrand – an angelehnten Türen vorbeigegangen, die woandershin führten. Die Grenze unserer Welt ist nicht fern, sie liegt nicht am Horizont oder in den Tiefen; sie schimmert in nächster Nähe, an den halbdunklen Rändern unseres engen Lebensraums – aus den Augenwinkeln blicken wir ständig, ohne es zu merken, in die andere Welt. Stets gehen wir am Ufer, am Urwaldrand entlang, unsere Gesten scheinen zu den verleugneten Räumen zu gehören, sich aus ihnen zu erheben und auf seltsame Weise deren geheimnisvolles Leben zu offenbaren; Wellengetöse und Tiergeschrei begleiten unsere Worte und beunruhigen uns, doch nehmen wir es nicht wahr (obwohl unsere Sprache vielleicht heimlich gerade im Meer oder Urwald geboren ist), die glitzernden Juwelen im unbekannten Land der Nischen und Winkel beachten wir nicht, für gewöhnlich kommen wir im ganzen Leben kein einziges Mal vom Wege ab. Zu welchen Goldtempeln würden wir gelangen? Mit welchen Tieren, welchen Ungeheuern würden wir kämpfen, auf welchen Inseln unsere Pläne, unsere Ziele vergessen? Vielleicht war es der faszinierende Tanz der Trugbilder aus Schnee hinter dem Glas, vielleicht die ironische Liebe zum Schicksal, die aus den Niederlagen der letzten Jahre erwachsen war – die alte Angst vor der Grenzüberschreitung meldete sich jedenfalls nur schwach, wie aus Gewohnheit, und verstummte bald. Ich zog das Buch heraus und schlug es noch einmal auf, betrachtete die gleichmütigen Buchstaben, sie waren rundlich und dennoch voller scharfer Kanten, ich sah in sich verschlossene oder sich gerade verschließende Formen, sie krampften sich zusammen und sträubten sich zugleich nach außen, an vielen Stellen scheinbar gewaltsam mit spitzen Keilen aufgerissen, die in ihr Inneres drangen; dann wieder klafften die wulstigen Buchstaben wie unter dem Druck expandierender innerer Kräften auseinander. Ich bezahlte das Buch an der Kasse, steckte es in die Tasche und verließ den Laden. Draußen war es inzwischen völlig dunkel geworden, der Schnee taumelte im Licht der Straßenlaternen.

Zu Hause knipste ich die Lampe auf dem Tisch am Fenster an, setzte mich und begann, das Werk zu studieren. Langsam wendete ich die Seiten; im Lichtkegel der Lampe trat ein Blatt nach dem anderen hervor, so als tauchte es aus einem dunklen Tümpel auf; wie magische Perlencolliers lagen die Reihen rundlicher und stacheliger Buchstaben auf den Seiten. Ihr Atem schwebte darüber und finstere Begebenheiten bebten darin, die in der Wildnis und in weitläufigen, verworrenen Städten spielten. Bisweilen schien ein Bild aus diesen Geschichten aufzublitzen: das böse Gesicht eines fanatischen Anhängers einer fantastischen Irrlehre, der leise Schritt eines Raubtiers tief im nächtlichen Palast, die ominöse Handbewegung in loser Seide, ein Stück bröckelnde Brüstung zwischen Gartenbüschen. Ich entdeckte einige Kupferstiche. Die erste Illustration zeigte einen großen leeren Platz mit perspektivisch verengtem Schachbrettpflaster von melancholischer Wirkung, beherrscht durch eine gewisse Traumsymmetrie; mitten auf dem Platz ragte ein Obelisk empor, seinen Sockel bildete ein Vieleck aus poliertem Stein; zu beiden Seiten des Obelisken erhoben sich dreistufige Fontänen, doch das Wasser, das auf dem Bild aus einer Schale in die andere floss, sah hart und unbeweglich aus. Palastfassaden mit hohen, monotonen Säulengängen über regelmäßigen Treppenfluchten begrenzten den Platz von drei Seiten. Den kurzen scharfen Schatten nach zu urteilen schien sich all dies irgendwo im Süden an einem heißen Sommermittag abzuspielen. Zunächst dachte ich, der Platz sei völlig verlassen, erst nach einer Weile fielen mir einige zierliche Gestalten auf – sie schienen unverhältnismäßig klein neben den gigantischen Gebäuden, ihre Umrisse verloren sich in der dichten Schraffierung, die den Schatten in den Kolonnaden der sich gegenüberliegenden Paläste darstellte. Auf dem Marmorpflaster an der Mauer des linken Bauwerks lag ein junger Mann, er streckte die Arme von sich, ein Tiger beugte sich über ihn, drückte ihn mit seiner mächtigen Pranke nieder und hatte die Zähne in seinem Hals vergraben. Dunkles, dilettantisch gezeichnetes Blut schoss aus der Wunde und ähnelte einem geöffneten Fächer. Am Fuß einer der Palastsäulen auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes fläzten sich einige Männer, rauchten Pfeife und spielten Karten; was auf der anderen Seite geschah, wussten sie nicht oder es kümmerte sie nicht. Etwas abseits zwischen den Säulen standen ein Mann und eine Frau: der Mann zeigte mit einer ausladenden Geste über den leeren, glühend heißen Platz auf den Tiger im Blutrausch, die Frau rang die Hände und streckte sie dem entfernten Kassettengebälk der Kolonnade entgegen. Auf dem zweiten Kupferstich war der anatomische Schnitt einer Perlenauster auf dem Schlammboden zu sehen, die dritte Illustration zeigte eine Maschine, deren Teile durch kompliziertes Bandgetriebe und viele ineinander verzahnte kleine Räder mit sorgfältig schraffierten Zähnen verbunden waren.

Ich ließ das Buch aufgeschlagen auf dem Tisch am Fenster liegen und ging schlafen. Als ich die Augen schloss, flimmerten die rundlichen und stacheligen Buchstaben im Dunkeln, ihre Reihen drehten und wanden sich, sie verwandelten sich in Schneegestöber, das im Licht der Laterne taumelte. Mit Unbehagen dachte ich an das unbekannte und unberechenbare Etwas, das ich wie das Ei einer schwarzen Henne in meine Wohnung gebracht hatte. Meine Unruhe sei vielleicht unnötig, sagte ich mir, das Buch werde, wie so viele andere Dinge, die einst in unser Leben hereingebrochen waren und uns zunächst geängstigt hatten, ruhig und unauffällig in den vertrauten Raum hineinwachsen und dessen Säfte aufsaugen.

Mitten in der Nacht wachte ich auf; als ich die Augen öffnete, sah ich über den Buchseiten einen schwachen, grünlichen Schimmer wabern. Ich stand auf und ging zum Tisch: die Buchstaben im Buch flimmerten und auch die Schneeflocken, die auf der anderen Seite der Fensterscheibe langsam auf das Fensterbrett fielen, schimmerten grünlich.
 

2. Kapitel: In der Universitätsbibliothek
 
Ich beschloss, die Universitätsbibliothek aufzusuchen und einen Experten zu Rate zu ziehen. Man schickte mich zu einem wissenschaftlichen Angestellten, der im Dachgeschoss in einem niedrigen, länglichen Raum residierte. In den schrägen Lichtstreifen wirbelten Staubkörner und auf den Tischen und dem Boden türmten sich bedenklich krumme Bücherstapel. Ich schlängelte mich zwischen den Türmen hindurch, die im Rhythmus meiner Schritte erzitterten; hinter den Büchern auf dem Schreibtisch tauchte das glatte, rundliche Gesicht eines etwa vierzigjährigen Mannes auf.

Ich zeigte ihm das Buch aus dem Antiquariat. Nachdenklich blätterte er lange darin, gab es mir wieder zurück und sagte: „Leider kann ich diese Schrift nicht lesen und weiß auch nicht, welches Volk sie benutzt. Aber ich habe diese Buchstaben schon einmal gesehen. Als ich nach meinem Studium in der Universitätsbibliothek zu arbeiten begann, wurden mir Bücher aus Schenkungen und Nachlässen zugeteilt. Einmal im Frühling sollte ich eine große Bibliothek in einer Wohnung sichten, deren Besitzer ohne Erben verstorben war. Ich bekam die Hausnummer am Smetanakai mitgeteilt sowie den Namen, den ich auf der Tür suchen sollte, und machte mich abends nach der Arbeit dorthin auf. Mit dem mitgebrachten Schlüssel schloss ich auf und trat in eine leere Wohnung; bereits im Flur schlug mir der Geruch von abgestandenem Luxus entgegen. Ich ging durch die großen Räume, überall standen winzige Statuetten nackter Frauen, Windhunde- und Pferdefigurinen aus Metall herum, dazwischen überall welke Kissen; Rüschen und Fransen hingen wie nass herunter, die losen Polsterbezüge warfen Falten. In einem Raum waren die Wände vom Boden bis zur Decke mit verglasten Bücherregalen verkleidet. Durch das geöffnete Fenster blickte ich auf Bäume in weißer Blüte am dunklen Petřín-Hang; neben dem Aussichtsturm ging gerade die Sonne unter, das violette Licht des Abendhimmels ergoss sich über das Glas der Bücherwand. In einer dunklen, unverglasten Nische im Bücherschrank gegenüber dem Fenster stand ein Jugendstil-Spiegel mit einem sonderbaren figuralem Metallsockel: eine lachende, sich sinnlich räkelnde Frau mit wehendem, in den Raum abstehenden Metallhaar hielt das Spiegeloval in den ausgestreckten Händen; sie saß rittlings auf dem gekrümmten Rücken eines Delfins, der aus der erstarrten Metallwelle sprang. Neben dem Spiegel stand ein Glaskolben mit einer durchsichtigen Flüssigkeit auf einem Dreifuß.“

Der wissenschaftliche Mitarbeiter begleitete seine Erzählung mit einer ausladenden Gestik, die die Bücherdünen auf dem Schreibtisch gefährlich in Bewegung brachte. Als er von der Frau auf dem Delfin sprach, versuchte er ihre ungefähre Haltung vorzuführen, dabei streifte er mit den Fingerspitzen den Bücherstapel: dieser begann zu schwanken, berührte leicht die benachbarten Büchertürme und erweckte auch in ihnen eine benommene Schwingbewegung; zum Glück gelang es dem Forscher nach einer Weile, den erwachenden Tisch zu beruhigen. „Im Dämmerlicht des Raumes leuchteten in den letzten Sonnenstrahlen die in einen Ledereinband eingelassenen Rubine hinter dem Glas auf. Ich berührte die Scheibe, woraufhin die Sonne hinter dem Petřín verschwand und die matt glänzende Bücherwand sich schlagartig verdunkelte. Ich schob das Glas über die flache Nut zurück und nahm das rubinbesetzte Buch heraus. In der Wohnung war der Strom bereits abgeschaltet worden, darum trat ich mit dem Buch an das geöffnete Fenster, um das letzte Tageslicht zu erhaschen. Das Buch wurde von einer ziselierten Metallspange in Form einer sich windenden Schlange mit Edelsteinaugen zusammengehalten. Als ich die Spange öffnete, blitzte am dunklen Petřín-Hang ein helles grünes Licht zwischen den Bäumen auf. Das ist bestimmt nur Zufall, dachte ich, doch als ich die Spange zuschnappen ließ, erlosch das Licht sofort wieder. Erneut öffnete ich die Spange, das grünliche Licht blitzte abermals auf. Wie eine gesenkte Lanze strahlte es ins halbdunkle Zimmer hinein, spiegelte sich im Glas der einander gegenüberstehenden Bücherschränke ins Unendliche und bildete starre, befremdliche Reihen schiefer grüner Linien; in der Tiefe des Raumes fiel es in die Mitte des Spiegelovals, den die Schöne auf dem Delfin hielt, wurde zurückgeworfen und ging genau durch die Mitte des gläsernen Kolbengefäßes hindurch, das so in einem giftigen Metallglanz erstrahlte. Mir war, als hörte ich ein leises Gurgeln aus dem Gefäß, doch das Buch in meiner Hand faszinierte mich so sehr, dass ich mich um das, was in dem Gefäß vor sich ging, nicht kümmerte. Ja, ich blickte auf die gleichen Buchstaben, die sich auch hier in diesem Buch befinden, das Sie mitgebracht haben. Staunend wendete ich die Seiten mit den unbekannten Zeichen und achtete nicht auf den süßlichen Duft, der sich im Raum ergoss. Bald begannen die Buchstaben sich seltsam zu wandeln. Immer stärker pulsierte eine Art Strom in ihren Linien, die Buchstaben erstrahlten rhythmisch und erloschen wieder wie glimmende Kohlen, in die jemand gleichmäßig bläst. Bei jedem Aufleuchten ergriff mich eine unbekannte, wachsende Wonne; die Zeichen pulsierten immer schneller, schwindelerregend, doch plötzlich erlosch alles, wie widerliche tote Käfer lagen die Buchstaben auf den Seiten, das Glücksgefühl wich Ekel und Grauen. Ich hörte ein dumpfes Grollen, sah aus dem Fenster und erblickte hinter Petřín eine Tsunamiwelle, ungefähr einen Kilometer hoch. Sie näherte sich langsam, überrollte den Petřín-Hügel und zerstörte dabei den Aussichtsturm. Ich schloss die Augen und wartete auf die fürchterliche Wucht des Wassers. Das Getöse wurde lauter, verstummte jedoch plötzlich. Eine Weile stand ich mit geschlossenen Augen da und horchte in die seltsame Totenstille hinein, öffnete die Augen und sah: die dunkle Wasserwand stand unbeweglich eine Handbreit entfernt vor dem Fenster. Ich lehnte mich hinaus und tauchte meine Finger in das kühle Nass.“

[…]
 

20. Kapitel: Der Urwald
 
Was das Mädchen über den Schiffbruch zwischen den Bücherregalen erzählt hatte, erinnerte mich an die Worte des wissenschaftlichen Angestellten im Klementinum, die er über die dunklen Winkel der Bibliothek verloren hatte. Am nächsten Tag besuchte ich ihn ein zweites Mal in seinem Büro, erzählte ihm von der anderen Stadt, meinem Umherirren und bat ihn, mich in die Tiefen des Büchermagazins zu führen. Das gefiel ihm nicht besonders; man sah ihm an, dass er schon vor langer Zeit die Lust daran verloren hatte, die obskuren Ränder unseres Lebensraumes aufzusuchen und dort nach den versteckten Grenzen zu suchen.

„Ich denke, Sie sollten Ihre Exkursionen nunmehr lassen“, sagte er. „ Sie verwandeln sich ja selbst allmählich in den Bewohner einer wunderlichen Stadt. Wenn Sie aber um jeden Preis in die andere Stadt gelangen wollen, rate ich Ihnen, sich einen anderen Weg zu suchen. Der Weg durch die Bibliothek ist gefährlich. Der Ort ist tückisch. Am Anfang der Regale fällt oft noch Tageslicht durchs Fenster auf die Buchrücken, man hört den Straßenlärm, zwei Bibliothekarinnen, die hier zufällig aufeinander treffen, unterhalten sich über das gestrige Fernsehprogramm – und am Regalende wallen im Halbdunkel Nebelschwaden, aus den Büchern hängen übelriechende Algen, böse knurrt ein Tier. Manchmal überschätzt auch ein erfahrener Bibliothekar seine Kenntnisse der Bibliothek und bricht auf, um in einem wenig erforschten Bereich ein Buch zu suchen: seine Kollegen warnen ihn, er solle dort nicht hingehen, doch er lächelt nur und sagt, er arbeite seit dreißig Jahren in der Bibliothek und kenne jede Ecke. Wenn er nicht mit sich reden lässt, laufen die übrigen Bibliothekare zum Leser und flehen ihn an, er möge seine Bestellung stornieren; sie türmen wunderschöne Bücher vor ihm auf – Bücher mit funkelnden, in den Einband eingelassenen Edelsteinen und mit den edelsten Parfüms des Orients durchtränkt, Bücher mit dreidimensionalen Illustrationen aus weichem Samt und feinem Sand, essbare Bücher mit Lotusgeschmack, die der Leser gleich nach der Lektüre verspeisen kann, Bücher aus Seide, die man ausbreiten, als Hängematte oder, an windigen Tagen, als Luftfahrzeug benutzen und mit dem man hoch über der Landschaft schweben kann, Bücher mit berauschenden erotischen Geschichten, die sich des Nachts auf Marmorterrassen unter einer Zypresse am Meeresufer abspielen. Die Seiten dieser Bücher sind mit Haschisch getränkt, der Leser fängt nach einiger Zeit an zu halluzinieren, wird Teil der Handlung und badet in seiner Vision mit wunderschönen Mädchen im warmen nächtlichen Meer. Doch der sture Leser würdigt die ihm gebrachten Bücher keines Blickes, sondern besteht darauf, sein Buch zu wollen, ein Buch über die Wartung von Automobilen oder über das Einlegen von Gurken, er verlangt danach, weil er es bestellt hat, und findet, es sei die Pflicht des Bibliothekspersonals, ihn zu bedienen. Zur schönen Tochter des unglückseligen Bibliothekars, die in der Zwischenzeit jemand angerufen hat und die dem Leser anbietet, ihm wie Scheherazade nächtens Geschichten zu erzählen, sagt er nur: „Sehen Sie, mein Fräulein, wir zwei werden überhaupt nicht miteinander reden, ich will mein Buch über die Wartung von Automobilen (das Einlegen von Gurken)“ – und so umarmt der Bibliothekar seine Tochter und begibt sich in das Innere der Bibliothek, alle starren ihm nach, in der Biegung des Ganges dreht er sich noch einmal um und verschwindet dann hinter den Regalen. Niemand wird ihn jemals wiedersehen, der Leser wartet vergeblich auf sein Buch; sein schlechtes Gewissen beginnt an ihm zu nagen, er fragt stündlich nach, ob der Bibliothekar schon wiedergekommen sei, schließlich wartet er den ganzen Tag bei der Bücherausgabe, morgens tritt er bereits ab fünf Uhr vor der verschlossenen Tür des Klementinums von einem Fuß auf den anderen und singt dabei schwermütig schleppende Lieder. Jedes Jahr verschwinden so etliche Bibliothekare in den Tiefen der Bibliothek, ohne dass von den Bibliotheksakademien genügend neue Absolventen nachkämen. Jemand hat den verschwundenen Bibliothekaren ein Denkmal zwischen den Regalen errichtet, die Bronzestatue eines Bücherdieners im Arbeitskittel, der vor Erschöpfung auf einer Bücherhalde stirbt. Bis zum letzten Augenblick umklammern seine Finger pflichtbewusst den Bestellzettel für das Buch Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. Ich weiß nicht, welches Ende die Bibliothekare nehmen, ob sie sich in den unendlichen Gängen zwischen den Bücherregalen verlaufen, verhungern und verdursten oder ob sie den in den Tiefen der Bibliothek lauernden Tieren zum Opfer fallen. Vielleicht wohnen wilde Stämme dort, die Jagd auf die Bibliothekare machen und sie womöglich fressen: manchmal ist aus den Tiefen der Bibliothek ein fernes Trommeln von Tamtams zu hören, einige Bibliothekarinnen behaupten, das bemalte Gesicht eines Wilden gesehen zu haben – am Ende des Ganges oder in der Lücke, die ein herausgenommenes Buch hinterlassen hat. Möglich ist aber auch, dass die Wilden verwilderte Nachfahren der Bibliothekare sind, die nicht mehr aus der Bibliothek herausgefunden haben. Bestehen Sie immer noch darauf, in das Innere der Bibliothek geführt zu werden?“

“Vielleicht werde ich auch verwildern und zwischen den Büchern zu Trommeltönen tanzen, vielleicht wird mein Gesicht am Ende des Ganges die Bibliothekarinnen erschrecken, doch jetzt ist es zu spät, ich muss weitermachen. Ich habe mich zu nah an die Grenzen der anderen Stadt gewagt, was von dort hinüberwehte, hat bereits die restlichen Gewohnheitsnetze zersetzt, in deren Kettfäden all unser Handeln eingewebt ist. Ohne diese Hilfe zerfallen die einfachsten Tätigkeiten in dutzende Teilhandlungen, diese müssen dann alle einzeln aus dem Nichts von Grund auf zusammengesetzt und aufeinander abgestimmt werden, man muss tausende mögliche Beziehungen durchdenken, die hier entstehen, und so erinnert ein Mittagessen in einem Restaurant oder ein Einkauf an die Arbeiten des Herakles. Ich muss weiter in die andere Stadt. Unsere alte Ordnung ist irreparabel, sie war schon immer voller Löcher, schon immer schimmerten die Rhythmen einer Art Urströmung durch sie hindurch. Diese Ströme fließen höchstwahrscheinlich aus der anderen Stadt zu uns, in deren Mitte ich hoffentlich die Quelle, den Anfang unserer Ordnung, finden werde – sie als einzige könnte diese erneuern. Es nützt alles nichts, ich muss in die Bibliothek. Ich weiß nicht, welchen Ungeheuern ich begegnen werde, aber ich denke, es kann nicht schlimmer werden als das Leben in meiner Stadt. Außerdem bin ich auf den Weg gut vorbereitet.” Ich öffnete meinen Rucksack und zeigte ihm meine Essensvorräte, zog eine Taschenlampe hervor und schwang eine Machete über dem Kopf.

Der wissenschaftliche Angestellte seufzte. „Gut, wenn Sie nicht in einem Restaurant zu Mittag essen möchten, führe ich Sie jetzt in die Bibliothek. Aber ich begleite Sie nur zur Grenze der gefährlichen Zone, von dort aus müssen Sie allein weitergehen. Sollten Sie nicht zurückkehren, erwarten Sie nicht, dass Sie jemand suchen wird.“

Wir gingen an endlosen Bücherregalen entlang, zunächst durch gerade und gut beleuchtete Gänge, vorbei an sorgfältig aufgereihten Buchrücken, doch als wir tiefer in die Bibliothek vordrangen, begannen die Bücher allmählich zu zerfallen, zerrissene Seiten quollen aus ihnen hervor; es glühten immer weniger Birnen, bisweilen gingen wir im Dunkeln. Wir kamen an eine Stelle, an der sich mehrere Wege kreuzten. Über der Wegkreuzung glomm eine Birne; die Wegmündungen, die tiefer in die Bibliothek hinein führten, waren dunkel, ein schwerer Duft alten Papiers wehte uns entgegen. Mein Begleiter blieb stehen. „Hier beginnt der Urwald“, beschied er ernst und deutete auf die dunklen Gänge zwischen den Regalen. „Hier muss ich Sie verlassen. Viel Glück, passen Sie auf sich auf.“ Er schüttelte mir die Hand und verschwand.

Ich trat in einen der engen Gänge. Bald befand ich mich im Dunkeln, nur an einigen Stellen schimmerten die faulenden Bücher. Ich knipste meine Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel über die Regale schweifen. Durch die Feuchtigkeit wellten und kräuselten sich die Buchseiten, sie quollen auf, zerfaserten und verpulpten, sie dehnten sich aus und drückten von innen auf die Bindung, sprengten sie und drängten durch die Löcher nach außen. Die Bindungen zerfielen, die Blätter fielen heraus, sie hingen aus den Büchern wie müde Zungen, glitten zu Boden, wo sie sich mit den Seiten der anderen Bücher vermischten, faulten und eine dicke Schicht eines nässenden, fluoreszierenden und stinkenden Komposts bildeten, den ich durchwaten musste, während ich manchmal bis zur Hüfte versank. In der feuchten Schwüle verzogen sich die Holzregale und rissen. Im faulenden Buchinneren, in den dunklen Keilen zwischen den Seiten fingen sich Pflanzensamen, sie keimten in der klammen Dunkelheit, schlugen feine Wurzeln im Papier und trieben zu den Buchrändern hin aus, wo ihre munteren Spitzen nach außen hervorsprossen; manchmal verwandelten sich die Triebe in Lianen, sie hingen, unentwirrbar verflochten, an den Bücherregalen, heraus tropfte klebriger Saft. Andernorts verwandelten sie sich in Ausläufer, die über die Regale krochen und mit Gewalt in andere Bücher eindrangen, sie schoben sich zwischen die zusammengedrückten Seiten und drängten sich in die Buchmitte, um hier ihre Wurzeln zu schlagen. Schäfte wuchsen aus dem Buchinneren, auf manchen reiften schwere, fade schmeckende Früchte. Doch nicht das Wissen um die seltsam zufällige Katastrophe, bei der die wuchernde Natur die Früchte des menschlichen Geistes verschlang, verursachte in dieser Schwüle und diesem Gestank das größte Unwohlsein; die Beklemmung rührte vielmehr daher, dass sich die Bücher – wie in einem Traum – in eine gefährliche und gleichgültige Vegetation verwandelten und jene bösartige Krankheit bloßlegten, die in jedem Buch und jedem Zeichen, die vom Menschen je geschaffen worden sind, versteckt wuchert. Irgendwo habe ich einmal gelesen, Bücher handelten nur von anderen Büchern, Zeichen verwiesen wieder auf andere Zeichen, das Buch habe nichts mit der Wirklichkeit zu tun, vielmehr sei die Wirklichkeit selbst ein Buch, weil sie durch Sprache erschaffen werde. Diese Theorie war deprimierend, weil sie die Wirklichkeit hinter unseren Zeichen verschwinden ließ. Aus der faulenden Bibliothek wehte mir jedoch eine weitaus dunklere Erkenntnis entgegen, nämlich, dass die Bücher und Zeichen – ganz im Gegenteil – in die Wirklichkeit hineinwachsen und von deren unbekannten Strömen beherrscht werden, dass unsere Begriffe und Mitteilungen in ein Sein eingebettet sind, das sich selbst, seine geheimen Rhythmen bezeichnet, und dass dieses ursprüngliche Bezeichnen, dieser dunkle Urglanz des Seins, unsere Vorstellungen am Leben erhält und zugleich unaufhörlich droht, sie wieder zu verschlingen und in sich aufzulösen. In dieser urwaldgleichen Bibliothek wurde ich gewahr, dass die Buchstaben in den zerrissenen Bänden wie auch in jedem neuen Buch auf dem Ladentisch einer Buchhandlung nur einige jener Flecken sind, mit denen das wuchernde Sein die Oberfläche der Dinge schmückt und durch die es monoton und unverständlich flüstert.

In dieser feuchten Welt der zerfallenden Formen lebten verschiedene Tiere: als ich in den Büchern blätterte, begegnete ich flachen Schnecken, die zwischen den Seiten saßen und sich diesen so sehr angeglichen hatten, dass man sie nur schwer erkennen konnte. Meist entdeckte ich die Schnecken erst dann, wenn sich das, was ich für ein Blatt gehalten hatte, bei der Berührung plötzlich kringelte und in die Dunkelheit davonschlängelte. Bisweilen zerstob das ganze scheinbare Buch – in Wirklichkeit nur eine Kolonie aneinander festgesaugter Schnecken. Die Tiere schienen sich ständig zu vermehren, doch ich hatte nur gelernt, die Mimikry zu erkennen, dank derer sie zunächst für mich unsichtbar gewesen waren. Dieses Tarnmanöver war oft perfekt, wobei sich die Natur an den Körpern großer Molche selbst übertroffen hatte: die schwarzen Buchstaben auf ihrer weißen Haut sahen aus wie die Buchstaben des Alphabets, wenn der Molch also auf dem Haufen aus Buchseiten lag, war er fast unsichtbar. Die Buchstaben waren meist zu unsinnigen Verbindungen gruppiert, manchmal jedoch erschien zufällig ein sinnvolles Wort oder sogar ein sinnvolles Satzstück, aufgeladen mit einer gewissen Bedeutung: Ich las die Worte lasziv, verblassend und Arbitrage auf der Haut der Molche, auf dem Schwanz eines Tieres: das Glas verwünschte die Königin.

Die vermorschenden und sich verziehenden Regale, die aufquellenden Bücher, die aggressiv wuchernden Pflanzen, die reifenden und faulenden Früchte und das Gewimmel der Tiere – dieses rege Treiben und unaufhörliche Gären in der Bibliothek hatte zur Folge, dass sich die Bücherregale dehnten, blähten und die Gänge sich verengten: ich musste mir den Weg durch die engen Kluften bahnen und mir mit der Machete einen Weg durch die wuchernden Bücher schlagen. Manchmal wuchsen zwei gegenüberliegende Bücherreihen zusammen, die erblühten Bücher und die Schäfte, die aus ihrem Inneren hervor wuchsen, verflochten sich zu festen Brücken, die auch den Schlägen der Machete widerstanden; dann musste ich durch lange enge Tunnel unter den zusammengewachsenen Bücherregalen kriechen. Manchmal fletschte mir in einem solchen Tunnel im Licht der Taschenlampe, dicht vor meinen Augen, eine Tierfratze ihre Zähne aus dem Morast entgegen, die Kreatur stieß einen durchdringenden Schrei aus und biss sich in meinem Gesicht fest, ein anderes Mal kroch ein Tier durch den Tunnel in der gleichen Richtung wie ich und hatte es offensichtlich schrecklich eilig – ich hörte ein ungeduldiges Schnaufen und Grunzen hinter mir, das Biest biss mich in die Ferse, ich solle mich doch beeilen, schließlich kletterte es über mich drüber und drückte mich mit seinem Gewicht in den Morast, während es weiterhin verärgert brummte.

Je tiefer ich in das Innere der Bibliothek vordrang, desto schwieriger waren die Buchseiten von den Pflanzenblättern und das Regalholz von den Baumstämmen zu unterscheiden, die hier aus dem fruchtbaren Bücherkompost wuchsen, alles verschmolz in diesem Urwald, wucherte, faulte und stank in einer unerträglichen Hitze und Feuchtigkeit vor sich hin. Ich erreichte das Ufer eines trüben, langsam fließenden Flusses, ähnlich breit wie die Moldau in Prag. Mir kam die Idee, ein Floß zu bauen. Dazu fischte ich einige umgestürzte Baumstämme aus dem Schlamm, band sie mit Lianen zusammen und fand einen Regalboden zum Rudern. Ich ließ das Floß zu Wasser und paddelte in die Mitte des Flusses, dann ließ ich mich mit der trägen Strömung treiben und leuchtete mit der Taschenlampe abwechselnd das eine, dann das andere Ufer an – doch im Lichtkegel war nur das Dickicht der verwachsenen Bibliotheksregale zu sehen, das sich über die Wasseroberfläche neigte und sie mit seinen herabhängenden Zweigen kräuselte. Von Zeit zu Zeit ertönte der Schrei eines Vogels oder eines anderen Tieres, in dessen Fleisch sich scharfe Zähne gebohrt hatten. Nach und nach erhoben sich Reihen hoher Säulen an beiden Ufern aus dem Gestrüpp, sie ragten in die Dunkelheit und Leere und wurden von Ausläufern umschlungen, die sich bis zu den reich verzierten, jedoch leeren Kapitellen rankten. Ich sah Außenmauern von Gebäuden mit eingestürzten Stockwerken, undurchdringliches Gesträuch wucherte in ihrem Inneren. Hatte mich der Strom in ein unbewohntes und verfallenes Viertel der anderen Stadt gebracht oder befand ich mich zwischen den Ruinen der Metropole eines untergegangenen Reiches, die noch älter war als die Stadt, die ich suchte? Ich trieb an langen Palastfassaden vorbei, aus deren schwarzen Fensterlöchern sich Sträucher herausdrückten, an weitläufigen Plätzen voller Unkraut, das aus den Fugen zwischen den Granitplatten hervorquoll, an Plätzen mit gewaltigen Reiterstatuen, die von den Wurzeln der Kletterpflanzen zerfressen wurden, und an Plätzen mit Springbrunnen aus Metall: im ersten Augenblick dachte ich, trübes Wasser darin zu sehen, doch in den Springbrunnenschalen wuchsen nur dichte Kletterpflanzenschleier, die über die Ränder fielen. Schließlich versank die letzte einstürzende Mauer im Buschwerk, einige verlassene Säulen leuchteten noch kurz auf – danach säumte wieder nur noch endloses Dickicht die Ufer.

Ich hörte entferntes, anschwellendes Dröhnen. Der Fluss strömte immer schneller, offensichtlich zog mich ein mächtiger, im Dunkeln lauernder Wasserfall an. Mithilfe des Regalbodens versuchte ich mit aller Kraft, ans Ufer zu paddeln. Nun toste das fallende Wasser nicht mehr – es brüllte fürchterlich. Immerzu riss der Strom das Floß in die Flussmitte, erst im letzten Moment gelang es mir, eine Luftwurzel zu fassen, die bis über die Wasseroberfläche vorstand, und so ans Ufer zu klettern. Das Wasser trug das Floß mit all meinen Habseligkeiten fort, wehrlos stand ich ohne Taschenlampe und bei völliger Dunkelheit im tiefen Urwald.

Ich tastete mich den steilen, verwachsenen Hang hinunter, bahnte mir meinen Weg durch das Dickicht, neben mir stürzte das Wasser mit ohrenbetäubendem Getöse in die Tiefe. Unten angelangt, spürte ich Sand unter meinen Füßen, ein schmaler Sandstreifen trennte das Wasser vom dichten Urwald. Eine solche Müdigkeit übermannte mich, dass ich mich an das feuchte Ufer legte; über mir toste der unsichtbare Wasserfall. Kurz darauf schlief ich ein.

Als ich aufwachte und die Augen öffnete, schrie ich verwundert auf. Den Urwald auf dem gegenüberliegenden Ufer hatte ein Feuer ergriffen, die Flammen schlugen gleißend in die Höhe und ließen die tosende Wand des fallenden Wassers, so hoch wie ein zehnstöckiges Gebäude, in einem rötlichen Licht leuchten – eine Geisterorgel der Nacht. Lange stand ich am Ufer und betrachtete das feuerrot fallende Wasser.

 

Aus dem Tschechischen von Veronika Siska

Diese Übersetzung wurde vom tschechischen Kulturministerium gefördert.