Für alle Fräulein und Frauen Bibliothekarinnen


Kapitel 1

Es war ein leuchtender Herbstmorgen und unter dem Pass Zu den fünf Leichen bewegte sich irgendetwas Grünes. Es war weich, nicht sehr sauber und man würde es direkt auf dem Boden finden. Sicher fragt ihr Kinder euch, was das sein könnte. Das war kein Moos, weil sich das, wie ihr wisst, nicht bewegt. Das war auch kein Tierchen, denn die sind nicht grün. Höchstens wenn sie schon eine Weile tot sind und zu faulen anfangen. I wo. Bei näherer Untersuchung zeigte sich, dass das eine Trapperdecke war, ziemlich zerfranst und voller Flecken und reingebrannter Löcher – ein Graus.

Dann schaute gleich ein Auge heraus. Es war blutunterlaufen, voller Schlafsand und mürrisch. Es schielte nach oben, versicherte sich, dass das Wetter gut war, aber nicht einmal der funkelnde Morgen schien es erfreuen zu können. Feindselig glotzte es nach oben, und am liebsten hätte es sich wieder unter der Decke versteckt. Dann aber schlich sich etwas in seinen leeren Blick. Ein Gedanke, ein Traum oder eine Vorstellung. Das Auge fing energisch zu blinzeln an, unter der Decke schaute das zweite hervor, und dann knotige Klauen, die beide Augen rieben.

Zwei knorrige Gliedmaßen in zerfledderten Hemdsärmeln fuhren in die eiskalte Luft und dann begann sich der Körper eines Mannes hervorzuschälen. Und, das sage ich euch, das musste schon ein ordentlicher Gedanke sein, wenn er es schaffte, diesen Menschen zu einer schnelleren Bewegung anzutreiben. Neben der Decke lag nämlich ein Bündel Tierfelle, das davon zeugte, dass dieser Jäger schon mit der Arbeit fertig war. Es ertönte ein wildes Gähnen und dann schreckliches Knochenknacken, das sich anhörte, als würde eine hundertfünfzig Jahre alte Kiefer langsam brechen. Die Decke flog zur Seite und in den Herbstmorgen grinste Sakra-Verflixter Bill in seiner ganzen Schönheit.

Ja, Sakra-Verflixter Bill.

Jäger, Goldgräber und Abenteurer, von dem man sich im gesamten Wilden Westen erzählte.

Da kann man Gift drauf nehmen, dass Geschichtchen über ihn erzählt werden, wenn die Männer im Saloon zusammenkommen.

Er kratzte sich am Hals, wo ein Beutel mit ausgewaschenem Gold hing. Was wohl veranlasste diesen Trapper, der offensichtlich schon ausgesorgt hatte, zu schnellerer Bewegung? Er hatte wohl einen Plan. Vielleicht hatte er eine Verabredung mit jemandem, aber ganz bestimmt nicht mit Gevatterchen Tod, wie es den weniger geschickten Revolverhelden passiert…

Ein Grünschnabel würde jetzt am Morgen anfangen, seine Stiefel zu schnüren, was eine ätzende Arbeit ist, und weniger erfahrene Trapper brauchen manchmal den ganzen Tag, so dass sie, wenn sie fertig damit sind, wieder anfangen müssen, sie aufzuschnüren. Bill wusste sich aber mit allem zu helfen. Er ließ die Stiefel einfach zugeschnürt und schlüpfte nur hinein, das ging glatt wie ein Messer durch die Butter. Abends schlüpfte er wieder genauso hinaus, das ergibt Sinn.

Bill konnte auch Feuer machen, wenn er ausspuckte. So bitter und stark war seine Spucke. Heute hatte er aber keine Lust zu spucken – vielleicht weil der Morgen so schön war? Das wohl eher nicht, sonst würde er ja nicht fluchen: „Sakraverflixter Morgen!“

Er benutzte ein Zündholz, das er eigenhändig aus einem Zweiglein und Pech hergestellt hatte und mit seinem feurigen Blick entzündete. Und bald brannte im Mörder-Camp ein Feuerchen. Aber stellt euch unter dem Namen „Camp“ bloß nicht was Großartiges vor. Ein Trapper braucht nur ein paar Steine, aus denen er eine Feuerstelle macht – und sobald das Feuer brennt, ist er zu Hause. Und warum es Mörder-Camp heißt? Ja nun, wahrscheinlich hat da mal irgendein Mörder campiert, von denen trieben sich damals im Westen unzählige herum.

Bill zog das Kochgeschirr heraus, aber Kaffee schüttete er nicht hinein. Er war schon so viele Monate unterwegs, dass er ihm ausgegangen war. Wenn er nur an Kaffee dachte, lief ihm die Spucke im Mund zusammen – bitter, dick, nahrhaft. Euch kommt das vielleicht seltsam vor, dass die Erwachsenen Kaffee trinken. Ihr Krabben steht auf Süßes, hab ich Recht? Und mit dem Kaffee ist es ähnlich. Das ist so ein umgekehrter süßer Geschmack, dieser bittere Kaffee … Bitteres kann süß sein, genauso wie Böses gut sein kann. Aber darauf kommen wir noch zu sprechen.

Sakra-Verflixter Bill schüttelte Nadeln in das Essgeschirr, gab ein Kügelchen Pech hinzu und schüttelte noch etwas Schießpulver dazu. Der Kaffee war ihm definitiv ausgegangen. Aber heute, dort, am Ziel seiner Reise… Schnell blies er das Feuer an, damit es ordentlich brannte, und schüttete in das größte Kochgeschirr Speckwürfel. Er würde viel Kraft brauchen, um rechtzeitig anzukommen.

Erst jetzt fiel ihm ein, dass er unter seiner Jacke immer noch den Vielfraß hatte. Alle Tiere im Wald kannten Bills Zielgenauigkeit, und als Bill den Vielfraß fing und ihm erklärte, er würde ihn nicht erschießen, wenn er ihm die ganze Nacht die Nieren wärmte, hatte das Tier keine Einwände. Jetzt trollte es sich ins Fichtendickicht, immer noch schläfrig. Der Vielfraß hatte offensichtlich heute nichts Besonderes vor.

Sakra-Verflixter Bill dafür schon. Und bis zum Städtchen Sheydrem, wohin ihn sein Weg führte, waren es immer noch ordentlich ein paar Meilen.

Mit einem Blick prüfte er den Sonnenstand und damit die Zeit. Auch die war ihm nach den Monaten in der Wildnis ausgegangen – seine Uhr stand. Schnell stopfte er sich den wohlschmeckenden Vielfraßspeck rein. Bill wusste sich mit allem in der Wildnis zu helfen. Nur dieser Kaffee… er probierte irgendwelche Beeren, Vielfraßklauen, sogar Rehkötel, einmal in einer schwachen Stunde, aber er schaffte es nicht, Kaffee zu machen.

Heute würde er welchen trinken, so wahr er Sakra-Verflixter Bill heißt. Er aß auf, machte sich auf dem verglühenden Feuer ein bisschen Wasser warm, wusch damit das Kochgeschirr aus und packte in Windeseile seinen Tornister. Er warf sich das Bündel Felle auf den Rücken, wog das Beutelchen mit dem Gold, das er um den Hals trug, in der Hand und griff sich gleich darauf seine Winchester Änni. Sein Colt Pete hing ihm am Gürtel, weil er ihn zur Sicherheit nachts nicht ablegte. Nur die Patronen nahm er heraus, damit die Waffe nicht aus Versehen losging, sollte er sich auf sie wälzen. Das hätte ihm der Vielfraß nicht verziehen.

„Sakraverflixter Weg“, sagte Bill und ihr wisst jetzt bestimmt schon, welches Wort er sakraverflixt gern mochte. Aber irgendetwas in seiner Stimme verriet, dass das mit dem Weg schon nicht so schlimm sein würde. Wahrscheinlich deswegen, was ihn am Ziel erwartete. Der Weg kann voller Wurzeln und Dreck sein, aber wenn es etwas gibt, worauf man sich freuen kann, genießt man ihn. Das ist ein bisschen wie mit dem Kaffee, der so bitter ist, dass er eigentlich süß ist.

Sakra-Verflixter Bill schritt aus und ließ den Pass Zu den fünf Leichen hinter sich, der in dieser Nacht keine sechste hinzubekam, und das Mörder-Camp, wo auch niemand sein Leben lassen musste.

Und bis zum Städtchen Sheydrem blieben ihm nur ein paar sakraverflixte Meilen.

 

Kapitel 2

Wisst ihr, wenn man sagt „nur ein paar sakraverflixte Meilen“, können noch viel mehr übrig sein. In der Wildnis weiß man nämlich nie. Am Ende stellt man fest, dass es sakraverflixt mehr sakraverflixte Meilen sind.

Genau das dachte sich Sakra-Verflixter Bill, als er zum Hügel der Erfrorenen kam. Hinsichtlich Schnee und Eis war da nichts zu befürchten, schließlich war es noch Herbst, aber… Vom Hügel der Erfrorenen hatte sich ein Felsen gelöst, war nach unten gerutscht und versperrte den Pfad, der hier entlang nach Sheydrem führte. Vor den Trapperstiefeln türmten sich Felsblöcke auf, und das soweit das Auge reichte.

Wenn er darüber klettern sollte, würde ihn das schrecklich aufhalten, und umgehen konnte man sie nicht. Unten floss der wilde Fluss der Ertrunkenen und oben? Da müsste er einige Höhenmeter überwinden und da oben in der Höhe, da waren Schnee und Eis, darauf hätte er sein ganzes Gold, das ihm am Hals baumelte, verwetten können.

Bill war aber kein Grünschnabel. Bill war… Trapper, einer, über den man im ganzen Wilden Westen sprach. Er wusste gut, warum er rechtzeitig in Sheydrem sein musste, sagte sich aber nur: „Sakraverflixte Arbeit.“

Und dann war ein weiterer seiner legendären Witze dran, von denen man in allen Saloons noch eine hübsche Reihe an Jahren sprechen würde.

Was glaubt ihr, was passiert, wenn ein Trapper sich die Hose einreißt? Glaubt ihr, dass seine Mama die zunäht? Aber woher denn, die ist zu Hause geblieben. Außerdem hatte der Abenteurer nach den paar Monaten auf dem Trail alle Fäden verbraucht und alle Nadeln abgeschliffen, wie er sich die bisherigen Löcher repariert hatte. Allerdings wusste Bill Rat.

Er konnte schließlich spitze Fischgräten, Dornen von den Büschen und kleine Hölzchen, die er mit seinem Blick schliff, benutzen. Anstelle des Garns konnte er mit Tiersehnen und auch Fäden vom Altweibersommer Vorlieb nehmen. Auch sein eigener, fester Schopf könnte ihm dienen.

Aber was wollte Bill denn reparieren?

Haha!

Er warf die Tierfelle zu Boden – es waren ziemlich viele Vielfraßfelle dabei, deswegen war der Vielfraß in der Nacht zuvor auch nicht dagegen, ihn zu wärmen – gleich darauf fuhrwerkte er mit der Fischgräte-Dorn-gespitztem Holzstück herum, und bevor du bis drei zählen konntest, hatte er alles zusammengeheftet.

Dann quetschte er sich hinein. Die Füße steckte er in große Pfoten, bis zur Erde – und stellte sich breitbeinig hin. Dann glitt er in die Ärmel und breitete die Arme aus. Der zusammengenähte Körper um ihn herum erhob sich majestätisch.

Vor dem Steinfeld stand ein riesiger Vielfraß und schwankte leicht im Wind. Bill machte einen Schritt… und der große Vielfraß legte eine Pfote auf die Felsblöcke, als wären es Steinchen auf dem Weg. Das, was für Bill eine Bergsteigerqual gewesen wäre, war für den riesigen Vielfraß eine Kleinigkeit. Noch ein Schritt, noch ein weiterer und Bill stand auf der anderen Seite.

Er packte die Felle zusammen und schritt scharf aus, um den Zeitverlust aufzuholen.

Oh weh! Der Bach des Erschlagenen verstellte ihm den Weg, ein Zufluss des Flusses der Ertrunkenen. Dort oben in den Bergen musste etwas passiert sein, denn der Bach, den man normalerweise trockenen Fußes überqueren konnte, war voller Wasser. Und Bill konnte den Trick mit dem großen Vielfraß nicht mehr benutzen, denn die Felle durften nicht nass werden. Allerdings wusste sich der alte Trapper Rat.

Er legte die Hände an den Mund und brachte das sehnsuchtsvollste Rufen hervor, das eine Hirschkuh dem Hirsch schicken kann. Und ein paar Minuten später stand ein ordentlicher Sechzehnender vor ihm. Noch bevor das verblödete Tier bemerkte, dass keine Hirschschönheitskönigin vor ihm stand, sondern ein heruntergekommener Kerl, sprang Bill auf seinen Rücken. Er stellte sich hin, packte den Hirsch bei den Hörnern wie einen Lenker und lenkte ihn in Richtung Bach.

Das Wasser stieg dem Hirsch bin an die Knie. Das ginge ja noch. Das Wasser stieg bis an den Bauch. Das ginge auch noch. Dann floss es ihm über den Rücken. Das Wasser stieg und stieg, jetzt kühlte es schon Bills Knie. Was würdet ihr wohl dazu sagen? Hilfe!? Bill hielt sich zugute, in der absoluten Wildnis überleben zu können, und die nächste Hilfe gäbe es erst in Sheydrem, ein paar hübsch sakraverflixt sakraverflixte Meilen. Und die Zeit lief und wurde noch schneller, während das Wasser Bills Halfter mit Pete kitzelte.

Und Bill? „Sakraverflixte Arbeit“, sagte er nur und legte wieder die Hände an den Mund.

Ein weiterer verwirrter Hirsch brach aus dem Wald zum Wasser, Bill streckte sich nach ihm aus und stellte ihn auf den Rücken des ersten. Dieser Hirsch war nur ein Zehnender, aber er ließ sich immer noch gut am Geweih lenken. Bill lenkte ihn zum anderen Ufer.

Nur stieg das Wasser auch dem zweiten Hirsch bis zu den Knien, die Schenkel hinauf und floss dann über seinen Rücken. Das wurde langsam eng. Zur Sicherheit vollführte Bill ein weiteres seiner Kunststückchen. Das Wasser durfte ihm weder in Pete noch in Änni fließen. Vor allem nicht in den Lauf laufen. Das löste er einfach. Er steckte Pete mit dem Lauf in den Lauf von Änni und dichtete so beide Waffen perfekt ab. Gleich darauf reichte ihm das Wasser bis zum Bauch.

Die vom Nadelgehölz gepeitschten, von Dornen zerstochenen und giftigen Schlangenzähnen zerbissenen knorrigen Finger hoben sich wieder an die verbissen zusammengepressten Lippen. „Sakraverflixtes Wasser“, quetschten die Lippen hervor, und gleich darauf erklang wieder ein sehnsuchtsvoller Hirschruf.

Der dritte Hirsch war ein Siebenender, weil er sich ein Geweih abgebrochen hatte, allerdings achtete Bill schon nicht mehr auf Eleganz. Er stellte den Hirsch auf den unteren und ergriff das Geweih wie einen Steuerknüppel.

Am Ufer gestattete er den Hirschen, auf die Erde zu springen, denn aus der Höhe herunterzufallen, war das Letzte, was ihm noch fehlte. Die Tiere widmeten ihm einen vorwurfsvollen Blick, gingen ein Stück den Strom hoch und stiegen in den Bach des Erschlagenen. Weil es da eine Furt gab, machten sie sich kaum die Knöchel nass. Bill betrachtete das als Boshaftigkeit der Hirsche, die er ihnen sicher eines Tages heimzahlen würde, und machte sich nach Sheydrem auf. Die Zeit wurde knapp.

Habt ihr bemerkt, Kinder, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man keine hat? Die Zeit rannte jetzt doppelt so schnell, so dass das, was eine Stunde gedauert hätte, innerhalb einer halben Stunde komplett war. Das ist wie mit dem Kaffee. Der kann bitter sein – und dabei süß. Bill konnte jetzt nicht süß träumen – er musste bitter rennen. Und als er aus dem Wald in die Savanne kam, die sich nach Sheydrem hinzog, wusste er, dass er es nicht schaffen würde

Nur musste er rechtzeitig da sein.

Wisst ihr, Bill war zwar Goldgräber, aber das glänzende Metall sagte ihm nicht viel. Er wusste, was wirklich wertvoll war. Mut. Ausdauer. Freundschaft, auch wenn er das als Abenteurer und Einzelgänger nicht so recht anwenden konnte.

Unter dem schmutzigen, zerrissenen, angebrannten, herumgeschleuderten und angeknabberten Mantel aus Hirschleder schlug aber trotzdem ein normales menschliches Herz. Und Bill wusste gut, dass die Leute Gold mögen. Schließlich konnte er sich jedes Mal davon überzeugen, wenn er es in Sheydrem gegen Geld eintauschte. Er sah das Aufblitzen in den Augen des Goldschmieds Morgenstern, sowie er das Gold vor ihm ausschüttete. Morgenstern kaufte das Gold nicht für sich – er schickte es irgendwohin in eine Bank – aber trotzdem leuchteten seine Augen angesichts der Klumpen immer sehnsüchtig auf.

Bill setzte einfach auf dieses menschliche Sehnen, knöpfte sich den Beutel vom Hals – und warf ihn, so weit er konnte.

Gleich darauf meldete sich aber in seinem Inneren die gut bekannte Eigenschaft des Menschen. Und Bill lief dem Beutel hinterher, so schnell er konnte. Obwohl, wie ihr wohl erraten könnt, liebe Kinder, niemand in der Savanne war, der ihm das Beutelchen hätte stehlen können. Tiere zeigen kein besonderes Interesse an Goldklumpen.

Er kam zum Beutel gelaufen, bückte sich, richtete sich auf und holte wiederum aus.

Über der Savanne flog in weiten Bögen ein Beutel dahin und hinterher stürmte ein keuchender Trapper. Es gelang ihm, die Zeit einzuholen, so dass die Stunde wieder eine Stunde dauerte. Er wurde sogar noch schneller – am Ende schaffte er es, seine eigene Zeit zu überholen, die auf der Uhr gestoppt war.

Beim letzten Beutelwurf fiel sein Blick auf Sheydrem, und nun sprintete Bill schon. Wir wissen doch alle, wie viele Diebe es unter den Menschen gibt. Vor allem in Sheydrem.

Die Felle hüpften auf seinem Rücken, Änni stieß ihn in die Seite und Pete hielt sich am Abzugshahn im Halfter, um nicht herauszufallen. Der Hirschledermantel gab einen Ton von sich, als stürmte eine ganze Herde Hirsche dahin. Unter dem fettigen Hut schauten gierige Augen hervor. Sie schielten nicht mehr, sie schauten nicht mehr misstrauisch, nein woher denn. Bill war sich sicher.

Jetzt schafft er das.

 

Kapitel 3

Durch die Straßen des Städtchens Sheydrem zog ein seltsamer, schlucksender Laut. Es klang, als würde jemand klagen. Vielleicht jemand in den letzten Zügen, mit wie ein Sieb durchschossener Lunge, jemand, der nicht mehr genug Kraft hatte, um ordentlich Atem zu holen, und sowieso wäre das bei dieser Verletzung sinnlos…

Jemand, der versucht bis zum Sheriff zu kriechen, um ihm den Namen seines Mörders ins Ohr zu flüstern…

Diesen Laut machten des Sakra-Verflixten Bills Schnürstiefel. Daraus, in welchem Tempo sie durch die Straßen trotteten, könnt ihr erkennen, dass der Sakra-Verflixte Bill es geschafft hatte. Zu seinem geheimnisvollen Stelldichein kommt er rechtzeitig. Er schritt in der Mitte des menschenleeren Boulevards von Sheydrem aus und atmete langsam.

Er zog zur Sicherheit noch seine Zwiebel hervor und musste lächeln. Sie ging wieder, allerdings hoffnungslos nach. So schnell war Bill hier angestürmt gekommen. Er ging bis in die Mitte der Hauptstraße… Aber stellt euch keine gepflasterte oder asphaltierte Straße vor. Das war nur Sand gemischt mit Staub, der war es, der das eindrucksvolle Schlucksen von Bills Sohlen bewirkte. Und ringsherum keine Seele. In dieser Stille ertönte eine Harmonika, und gleich darauf das Knarren eines Schaukelstuhls.

Auf der Veranda des Saloons Zum treffsicheren Korn saß nämlich sein Besitzer, der Genaue Jack. Der Saloon sollte gerammelt voll von Cowboys sein, aber wie ihr seht, war es nicht so. Der Genaue Jack schaute dem näher kommenden Fremdling zu und hoffte schon nicht mehr, dass er zu ihm abbiegen würde. Er hatte nämlich in der Stadt unbarmherzige Konkurrenz. Spötter sagten, dass das treffsichere Korn nur noch ein gammliges Korn wäre. Das was einem manchmal in der Küche so passiert, wenn da nicht so viel Betrieb ist. Heiterer Schusswechsel, wie es sich gehört, ertönte aus dem treffsicheren Korn schon lange nicht mehr.

Der melancholische Harmonikaspieler täuschte sich nicht. Der Sakra-Verflixte Bill ging an seinem Saloon vorbei und einfach weiter. Er blieb vor der verglasten Auslage eines anderen Lokals stehen und erschauerte traditionsgemäß.

Er sah sich nach einer Reihe von Monaten zum ersten Mal.

Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll – aber wenn ihr euch einen Hügel irgendwo in den Bergen, bedeckt mit Felsbrocken, windschiefem Gebüsch und vertrockneten, vom Sturm umgeworfenen Bäumen vorstellt – so ungefähr wirkte Bill. Natürlich, am Anfang hatte er sich noch in den Bächen gewaschen. Aber dann verwilderte und verwahrloste er so, dass das Wasser sowieso nur noch so an ihm herabfloss, und ließ es.

Er seufzte und griff sich über die Schulter. Er suchte keinen Kamm oder eine Zahnbürste – das alles hatte er während seiner Expedition verloren. Er fasste dorthin, wo etwas Naturgeschaffenes sein konnte.

Und wirklich, er angelte sich eine Schaufel aus dem Hirschgeweih. Zuerst kämmte er seinen Bart durch. Es erschien eine Prozession kleinerer und größerer Insekten, die auf die Erde stürzten. Als die Käfer sich von der unerwarteten Störung erholt hatten, versammelten sie sich, erörterten die Richtung und machten sich auf den Rückweg in die Berge. Bill wünschte ihnen mit einem Blick viel Glück und kämmte sich Moos, Vielfraßhaare und Pechkügelchen aus dem Haar.

Dann begann er mit dem Schäufelchen auf den Hirschledermantel zu schlagen, überall, wo er ankam. Das war nicht ganz erfolglos, weil in einem Halbkreis rund um ihn herum goldener Staub auftauchte, der sich während des energischen Goldwaschens in seiner Kleidung festgesetzt hatte. Bill rückte sich endlich den Hut zurecht, der verblasst war vom Sonnenschein und ausgeblichen von unzähligen Regengüssen, und beendete seine Vorbereitungen, indem er sich den Hemdkragen richtete.

Dann räusperte er sich. Monatelang hatte er kein einziges Wort gesprochen. Die Vielfraße reden nicht so viel.

Als Bill die Tür öffnete, erklang das Glöckchen über ihm.

Was denn? Kein Quietschen der Schwingtüren und dann gleich der Lärm lauter Stimmen? War Bill wirklich in eine Wirtschaft in einem Trapper-Städtchen gekommen?

Doch, so war es. Das Glöckchen läutete, und Bill roch sofort den Geruch, auf den er sich so freute. Das Aroma frisch gemahlenen Kaffees. Wasser lief ihm im Mund zusammen, so freute er sich auf das Bittere, das so süß sein konnte.

Außerdem umgab ihn eine eigenartige Wärme und Stille, so eine Sofakissenstille. Als ob ihn die weichen Kissen von allen Seiten umarmen wollten. Kurz gesagt genoss Bill die unverfälschte, heimelige Atmosphäre dieses Lokals.

Nur ertönte dann ein anderer Laut.

Ein gespannter Hahn klickte und etwas fiel auf den Boden. Bill musste nicht einmal hinschauen um festzustellen, was das war. Weißer Hauer hatte den Rest einer zerkauten Zigarre ausgespuckt.

„Einen sakraverflixten guten Tag“, sprach Bill mit pechschwarzer Stimme und schaute in die Mündung von Hauers Pistole. Ihr Besitzer war ein vierschrötiger Kerl, der am ganzen Körper tätowiert war, mit einem ausgedünnten Gebiss, nichtsdestotrotz einem Dauerlächeln. Das leuchtete jetzt Bill über der Pistolenmündung entgegen. Weißer Hauer machte im Lokal den Rausschmeißer.

„Hier ist voll“, teilte er mit und die Pistolenmündung wanderte zwischen Bills lebenswichtigen Organen hin und her.

„Ich habe reserviert“, brachte Bill hervor. Pete zuckte im Halfter an seiner Seite, Änni in Bills Linker machte sich gerade. Aber jetzt war keine Zeit für Spielchen. „Zu vier Uhr“, fügte Bill hinzu und die Wanduhr fing an, ein Menuett zu spielen. Gleich ertönten vier Schläge.

„Hm“, quetschte Weißer Hauer durch die Zähne, dann griff er nach dem Buch auf dem Tischchen vor ihm. Es war in Vielfraß-Leder gebunden, auf das jemand mit indianischen Perlen gestickt hatte: Reservierungen. Weißer Hauer öffnete es, schaute mit einem Auge hinein, während das andere an der Zielvorrichtung seiner Pistole blieb.

„Diese sakraverflixte Reservierung habe ich hier wirklich. Schon seit dem Frühjahrstauwetter“, präzisierte Bill, aber da lächelte Weißer Hauer schon ein bisschen mehr. „Sakra-Verflixter Bill!“, las er laut vor. „Vier Uhr, Tisch für eine Person!“ Bill verzieh ihm diese Verzögerung, weil er wusste, wie gern Weißer Hauer sich mit seinen Lesekünsten hervortat. Noch vor kurzem war das nämlich ein überführter Verbrecher, der nicht sein eigenes Urteil lesen konnte. Die Mündung von Hauers Pistole zeigte zum Tischchen am Fenster.

Auf dem Tisch lag eine weiße Tischdecke und in der Mitte thronte eine Zuckerdose.

Eine sakraverflixt schöne Zuckerdose, Kinder, was soll ich euch sagen. Wie bitte? Im Wilden Westen? In der Revolverheldenstadt Sheydrem?

Sakraverflixt nochmal ja.

Über der Tür des Lokals hing nämlich die Aufschrift: Konditorei zum Schielenden Jim.

 

Kapitel 5

Ein Glöckchen ertönte und Stille trat ein. Das war so eine Stille, dass Bill normalerweise „sakraverflixte Stille!“ sagen würde, aber bei dieser Stille traute er sich so etwas nicht.

Er machte sich nicht daran, den Hirschmantel abzulegen. Er stand nicht einmal auf. Bill schaute in dieselbe Richtung wie alle anderen.

Das Glöckchen klang in ihren Ohren wie eine Sirene, wie ein Alarm, wie Feldtrompeten, und das noch lange, nachdem es verklungen war. In der aufgepeitschten Stille hörte Bill ein rasendes Ticken. Seine Taschenuhr überholte vor Aufregung die Zeit.

Es trat nämlich Boženka ein.

Wie soll man sie beschreiben? Niemand von den anwesenden Trappern, liebe Kinder, wäre dazu in der Lage. Sie waren ja doch eher daran gewöhnt, mit einer Flinte, einer Axt, dem Messer und dem Kochgeschirr umzugehen, als mit Worten. Boženka… wenn ich an sie denke… da sitze ich auch nur still auf meinem Platz. Ich beschreibe sie so… dass ich mir die Beschreibung für später aufhebe.

„Guten Abend, die Herren“, sagte sie fein. So grüßte sie! Damals, als es üblich war, beim Eintritt in den Saloon hämisch zu wiehern, eine Ladung Kautabak vermischt mit Eichelhäherfedern, die da reingeraten sind, auf den Fußboden zu spucken, etwas über Feuerwasser zu brüllen… und genug. Dann nur noch mit der eigenen Pistole alle Mündungen kontrollieren, die sich auf einen richteten. Und der Wirt goss in der Zwischenzeit irgendein schreckliches Gesöff ein.

Hier nicht. Anstelle des Tons gespannter Hähne hörte man im Chor, ungeschickt und nicht abgestimmt: „Guuu-teeeeenn Tag, Fräulein Bibliothekarin.“

Boženka schritt durch ihre Mitte zu dem Tischchen, das gleich neben der Theke stand. Darauf war kein Reservierungsschild, denn hierher würde es sowieso niemand wagen, sich zu setzen. Sie setzte sich und alle schwenkten ihre starren Blicke zum Schielenden Jim, der in diesem Moment der ungekrönte König war, weil er als einziger fähig war, sich zu bewegen und zu sprechen. Er trat an das Tischchen.

„Einen Macchiato, Jim“, erbat sich Boženka. Sie konnte dieses verteufelte Wort aussprechen! Alle würden staunen, wenn sie dazu noch fähig wären.

„Und ein Stücken Kuchen für das Fräulein Bibliothekarin?“, fragte der Schielende Jim, als ob nichts wäre. Der Kerl war wohl aus Eisen.

„Ich sollte wohl nicht, wegen der Taille“, seufzte Boženka. Dutzende Trapperaugen verschlangen sie und versicherten ihr, dass ihre Figur völlig in Ordnung war. Sakra-Verflixter Bill kam sich vor, als wäre ihm im Mund so süßer Speichel zusammengelaufen, dass er angenehm bitter wurde. So sehr gefiel ihm Boženka. Und gleichzeitig wusste er, was kommt. Das wird nicht nur süß, nein, woher denn. Deswegen ist er aber hier.

„Eine Punschschnitte“, sagte Boženka und die Stille war endlich unterbrochen.

„Sie nimmt eine Punschschnitte!“ „Die kann ich essen!“, grölten begeisterte Trapperstimmen. „Ein Punschschnittchen!“ „Schön durchgezogen!“, brachen sie in Rührung über Boženkas Bestellung aus.

Der Lärm war für das Fräulein Bibliothekarin, die an Ruhe und Stille gewöhnt war, offensichtlich zu viel. „Ruhe bitte“, forderte sie freundlich, aber fest auf. „Wer erzählt uns denn, was er seit dem letzten Mal Interessantes erlebt hat?“, fragte sie, als wäre sie noch bei der Arbeit, sie war es nämlich gewohnt, aktiv mit den Lesern umzugehen.

Durch die Konditorei klang ein fürchterliches Prasseln, als die steifen, moosartigen Hälse der Trapper sich umdrehten. Die Augen, die sich vor Rührung über Boženkas Erscheinen mit Tränen gefüllt hatten, wurden trocken. Boženka war die einzige Frau in Sheydrem und im Umkreis von Hunderten sakraverflixten Meilen. Wohingegen jetzt sie sich auf etwas viel Alltäglicheres richteten, auf einen Kerl. (Wenn er auch ein außergewöhnlicher Abenteurer, Trapper und tüchtiger Schmuggler war.)

Es war Bill.

Und Bill wusste, dass es jetzt an ihm war. Jeder, der sich eine Weile nicht in der Konditorei zeigte, musste erzählen. Das war bitter und würde süß werden.

[…]

Aus dem Tschechischen von Raija Hauck