Viktorie Hanišová

Die Pilzsammlerin

2018 | Host

01

Ich hasste das. Das altrosa Kleid mit den Volants kniff in der Taille, die Zehen drückten in den weißen Lackballerinas, ich saß auf einem Polsterstuhl, den Rücken kerzengerade, und wenn ich nur ein bisschen in den Schultern zusammensackte, bekam ich einen Knuff zwischen die Schulterblätter: „Sitz gerade!“

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass auch meine Brüder die Nase rümpften, lästerten und hier und da ein Schimpfwort fallen ließen. Auf die Oper freuten sie sich ungefähr wie ein Schwein aufs Kastrieren, viel lieber wären sie ins Kino gegangen oder hätten zu Hause ferngesehen. Auch eine Vorstellung im Marionettentheater wäre ihnen wohl recht gewesen, aber so etwas kam gar nicht in Frage. Wir mussten ins Große Theater gehen, das einzige „echte Theater in Plzeň“. Eine richtige Bühne mit großem Orchester und bis ins letzte Detail durchdachter Ausstattung. Klassische Autoren, Prokofjew, Verdi, Smetana. Meine Mutter hatte eine Vorliebe für Klassik.

Ich konnte kaum erwarten, dass die Lichter im Saal ausgehen und das Publikum still wird. Kaum schnitten sich die ersten Geigentöne in die Stille, zog der älteste Bruder unauffällig seinen Discman aus der Tasche, steckte sich einen Hörer ins Ohr und gab den anderen seinem jüngeren Bruder. Auch mein Vater, der auf dem Beistellhocker saß, machte es sich in der dunklen Loge etwas bequemer. Ließ die Schultern hängen, lehnte den Kopf an die Wand und schlug manchmal die Beine übereinander. Ich bewegte die Schultern Millimeter um Millimeter herab, näherte mich mit dem Kinn dem Balkongeländer, bis ich endlich den Kopf in die eine Hand stützen konnte, und mit der anderen fischte ich das Opernglas aus der Handtasche. Es machte mir mehr Spaß, die Zuschauer zu beobachten, als die Handlung auf der Bühne. Abwechselnd kamen mir Damen mit lilafarbenen, toupierten Haaren, junge Männer, in deren Händen die Displays der Handys leuchteten, und Touristen in Jeans, die nach jedem Solo eifrig klatschten, vor die Linse.

Das Interessanteste spielte sich jedoch hinter meinem Rücken ab. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so gierig auf das war, was sich auf der Bühne abspielte. Manche Zuschauer in meinem Opernglas hielten den Atem an, manchen kamen sogar die Tränen, aber gegen ihren Auftritt war das alles gar nichts. Mutter saß auf dem Beistellhocker, der Rücken wie ein Lineal, die Hand auf die Brust gedrückt, der Mund leicht geöffnet. Sie sah aus, als ob jemand eine Teufelsaustreibung mit ihr vornehmen würde. Ihr Gesicht schwang mit jedem Wort auf der Bühne, jedem Aufstampfen auf dem hohlen Fußboden mit, bei jedem lauteren Ton zuckte sie zusammen, riss die Augen auf oder kniff sie leicht zu. Bei Liebesszenen brannten ihre Wangen, und wenn auf der Bühne etwas Unangenehmes passierte, bedeckte sie die Augen mit den Händen und verfolgte die Handlung durch die Finger hindurch. Ich könnte schwören, dass ich ihr Herz schlagen hörte. Ich konnte sie die ganze Vorstellung hindurch ungestört beobachten, ich hätte sie wohl ins Bein kneifen können – sie hätte es überhaupt nicht bemerkt.

Meine Mutter war eine Zuschauerin, wie sie jedes ordentliche Theater verdient. Sie gehörte genauso zum Großen Theater wie die Platzanweiserinnen mit den Programmheften und die sorgfältig gemalten Kulissen. Sie war sogar mehr als das. Mutter war die beste Schauspielerin im Theater. Ihr Auftritt verdiente lange Ovationen im Stehen. Bravo! Das war der Moment ihres Ruhms. Mein Vater, Familienoberhaupt und einziger Ernährer, sah neben ihr wie ein einfaches Anhängsel aus, Schauspieler in einer Nebenrolle, die nur den eigentlichen Star unterstützte. Mutter war eine Künstlerin, die sich so in ihre Rolle einlebte, dass sie sie auch nach der Vorstellung nicht schaffte abzuschalten.

Und so konnte ihr niemand verübeln, dass sie die großen theatralischen Gesten auch auf das Sterbebett mitnahm. Ihre letzte Stunde erinnerte an eine antike Tragödie, für die sich nicht einmal Sophokles schämen müsste.

Kurz nach sechs Uhr morgens wurde ich angerufen, ich solle so schnell wie möglich kommen. Mutter soll sehr schwach sein, sie fürchten das Schlimmste. Ich zögerte eine Weile, die Sonne draußen lockte mich in den Wald, aber dann rappelte ich mich mühevoll aus dem durchgelegenen Bett hoch, zog mich hastig an und machte mich zum Bahnhof auf.

Ich kam erst gegen zehn im Krankenhaus an.

Beide warteten schon vor ihrem Zimmer. Evžen stand aufrecht, mit den Händen hinter dem Rücken, und schaute aus dem Fenster. Der um einen halben Kopf kleinere Milan lehnte an der weiß gestrichenen Wand. Er nickte leicht zur Begrüßung und lächelte vorsichtig, aber als er sah, wie sich Evžen mit säuerlichem Gesichtsausdruck zu ihm umdrehte, ließ er schnell die Mundwinkel hängen.

„Was willst du hier?“, blaffte mich Evžen an.

Ich antwortete nicht und ging lieber direkt in Richtung Tür, aber da packte Milan mich schon bei der Schulter.

„Warte mal, Sisi, wir dürfen da noch nicht rein.“

Er räusperte sich in die geballte Faust, die Knöchel waren weiß angelaufen, und sah dann auf den Boden. Die Muskeln in seinem Gesicht waren angespannt und auf seiner Stirn glänzten Schweißtropfen.

Schweigend setzte ich mich auf die Kunstlederbank neben dem Zimmer. Erst ein paar Minuten später begriff ich, warum ich nicht hinein durfte. Die Tür zu Mutters Zimmer öffnete sich, und eine Schwester mit blauen Gummihandschuhen trat heraus, vor sich einen Wagen mit Wasserschüssel und Lappen. Sie nickte uns zum Zeichen, dass sie fertig war, zu.

„Ich werde Sie nicht stören“, flüsterte sie und schob den Wagen in Richtung Schwesternzimmer. Die Wagenräder quietschten wie eine Maus in der Falle.

Ich ging als letzte ins Zimmer. Ich war kein bisschen nervös, ich war völlig sicher, dass es sich wieder um blinden Alarm handelte. Schließlich konnten beim besten Willen nicht einmal Evžen und Milan ihren Unmut verbergen. Es war nämlich nicht das erste Mal, dass wir uns umsonst herbemühten, allein im letzten Monat zitierte uns Mutter zweimal zu sich.

Sowie ich aber ihr aschfarbenes Gesicht und die trüben Augen mit dem giftig gelben Augenweiß erblickte, war sofort klar, dass sie uns diesmal nicht an der Nase herumführte.

Mutter, in der Zwischenzeit von der Schwester von allen unangenehmen Gerüchen befreit, lag theatralisch ausgebreitet auf dem Krankenhausbett, die weiße Decke in Falten über ihren Körper drapiert wie auf einem Rubens-Bild. Unter dem Stoff lag allerdings kein üppiger junger Körper. Die ausgeleierte Haut ihrer rundlichen Arme bildete an den Unterarmen und unter den Achseln unansehnliche Falten, die ausgewachsenen, ungekämmten Haare standen zu allen Seiten ab, in den Mundwinkeln klebte getrockneter, gelber Speichel. Die Luft im Raum war schwer von Alter, Desinfektion und Pathos.

Mutters gerötete Augen glitten über die Zimmerdecke und es sah nicht so aus, als wäre ihr bewusst, dass wir da waren. Eine Weile traten wir auf der Stelle herum, Milan trat näher an sie heran, berührte leicht ihre Hand und begrüßte sie, aber seine Worte durchdrangen Mutters verwirrten Gesichtsausdruck nicht, sie glitten ab wie Tropfen an der Scheibe. Er zuckte die Schultern, schob die Unterlippe vor und kam zu uns zurück.

Wir setzten uns alle drei auf das freie Bett neben ihr. Keinem von uns war zum Reden zumute. Milan spielte mit dem Handy, Evžen starrte gleichgültig aus dem Fenster und ich schaukelte unter dem hohen Kopfende mit den Beinen. Nicht einer von uns wollte dem Tod ins Gesicht schauen. Wir saßen nebeneinander wie drei Personen, die zufällig eine Parkbank teilten, kaum jemand würde uns wohl für Geschwister halten.

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, vielleicht ein paar Stunden, aber eher wohl ein paar Minuten. Schließlich bewegte sich Mutter auf dem Bett ein bisschen und drehte den Kopf leicht in unsere Richtung. Die Trübung war aus ihren Augen verschwunden. Sie sah uns an.

„Kinder“, röchelte sie. Der riesige Kropf unter der gelblichen Haut erzitterte. Ich bemerkte, dass sie sehr flach atmete. Der Monitor über ihrem Kopf begann zu blinken.

Mutter schluckte schwer, blinzelte ein paar Mal, breitete die Arme aus und öffnete die Handflächen. Wir begriffen, dass sie die letzten Augenblicke ihres Lebens vereint mit ihren Nächsten verbringen wollten.

Zwei Hände, drei Kinder. Selektion auch auf dem Sterbebett. Wir tauschten unsichere Blicke, keiner wollte als erster vortreten. Milan rieb sich unentschlossen das Kinn, Evžen biss sich auf die Lippe, ich starrte lieber auf meine ausgetretenen Wanderschuhe.

Ene mene bu…

Von Anfang an war klar, wer raus ist. Evžen sah sich ein paar Mal um, rutschte vom Bett und näherte sich dann unsicher Mutters rechter Hand. Gleich danach begann sich Milan einen Weg zwischen den Schläuchen vom Tropf, den Elektroden und Kabeln vom Monitor zu bahnen. Er stieß leicht an den Urinbeutel, stieß ein schuldbewusstes „oh“ aus und nahm schließlich erfolgreich den Platz zu Mutters Linker ein.

Mutter drückte beiden Söhnen die Hand und krächzte wieder etwas. Die langsam hervorgebrachten Worte waren von trockenem Husten unterbrochen. Die Brüder schauten ihr in die Augen und nickten zum Einverständnis mit dem Kopf. Ich saß zu weit von ihnen entfernt, um Mutters Worte verstehen zu können. Für einen Moment dachte ich daran, mich ihnen anzuschließen, Mutter zu umarmen und auf die Stirn zu küssen, ich war doch auch eine von ihnen, Mutters einzige Tochter, ihr Mädelchen, aber ich wollte die perfekte Symmetrie nicht stören. Auch so war an ihrem Bett nicht genug Platz für mich. Evžen streichelte über Mutters Haar, beugte sich hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Mutter hob kurz die Mundwinkel und ihre Augen strahlten kaum merklich auf. Auch Milan beugte sich zu ihr hinunter und klebte sein Gesicht an ihrs. Mir schienen sie in dieser engen Verbindung versteinert zu sein. Das Bild berührte mich stark. So muss man sterben, in den Armen der Familie, so soll eine echte Tragödie zu Ende gehen. Eine Katharsis mit allem Drum und Dran. Die erhabene Atmosphäre störte nur ich, die Voyeurin, für die keine Hand mehr übrig war.

Die Brüder verharrten in der engen Umarmung mit Mutter ein paar Minuten. Mutter brabbelte hin und wieder noch etwas. Ich schaute aus dem Fenster auf die in der Sonne glänzenden Dächer. Lieber wäre ich wieder im Böhmerwald.

Als ich sie wieder anschaute, war schon alles vorbei. Der Monitor über Mutters Kopf lärmte, eine Schwester kam ins Zimmer gelaufen, diesmal ohne Gummihandschuhe. Sie riss die ganze großartige Draperie von Mutters Körper, presste ihr beide Hände auf die wächserne Haut und schrie die Brüder an, sie mögen zur Seite treten. Sie gehorchten mit ängstlichem Blick.

Sie reanimierten nur kurz, nur damit keiner etwas sagen konnte, es hatte keinen Sinn. Das Liebesdreieck aus Mutter und ihren beiden Söhnen war auf immer auseinandergerissen.

„Der Tod trat um 13.56 Uhr ein…“

Keiner von uns glitt vor Verzweiflung auf die Knie oder raufte sich die Haare. Wir drei, die wir in dem Zimmer übriggeblieben waren, bemühten uns, uns nicht anmerken zu lassen, was wir in diesem Moment fühlten. Erleichterung.

Wir schlossen die breite Tür, ließen die Mutter mit dem weißen Tuch über dem Gesicht für immer hinter uns. Traurig lächelten wir uns an und gaben uns die Hand.

„Wir geben dir Bescheid, wann die Beerdigung ist. Wir wollen dich mit nichts belasten, wir klären alles für dich, Schwesterchen“, sagte Evžen zum Abschied. Milan gab mir die Hand und dann noch einen brüderlichen Klaps auf den Rücken. Ich blieb stehen, wo ich stand, und sah den beiden hinterher, wie sie den Krankenhauskorridor entlanggingen. Evžen schritt aufrecht aus, würdig. Milan ruderte mit den Armen, um Schritt halten zu können. Vor dem Treppenhaus drehte er sich kurz zu mir um und winkte.

 

02

Die Beerdigung fand eine Woche später statt. Fast hätte ich es nicht geschafft. Der Zug blieb auf der Strecke zwischen Mileč und Nepomuk stecken, wieder so ein Selbstmörder, der auf andere keine Rücksicht nahm. Nach einer halben Stunde gab ich das Warten auf und versuchte es per Anhalter, weil ich für ein Taxi kein Geld mehr hatte. Auch in Plzeň erging es mir nicht besser. Am Bahnhof stieg ich aus Versehen anstatt in den Bus zum Zentralfriedhof in den Bus zum Einkaufszentrum, und so musste ich den ganzen Berg wieder herunterlaufen.

Ich kam als eine der Letzten in die Feierhalle, mein Rollkragenpullover klebte mir verschwitzt am Rücken. Vielleicht war das nur mein Gefühl, aber sowie ich die Schwelle übertreten hatte, wurde es im Saal laut. Als ob eine Wespe sich in den Bienenstock eingeschlichen hätte.

Fast alle Bänke im Krematorium waren besetzt, auch an den Saalseiten drängten sich die Menschen. Ihre Zahl war beeindruckend.

Es gelang mir, in der letzten Reihe einen Platz zu bekommen. Die stark parfümierte Vierzigjährige zu meiner Rechten warf mir feindselige Blicke zu. Vergeblich bemühte ich mich, in meinem Gedächtnis einen Namen zu dem Gesicht zu finden. Aber an die ablehnenden Blicke hatte ich mich längst gewöhnt.

Die Türen schnitten uns von Sonne und frischer Luft ab, das Gesumme im Saal wurde durch gedrückte Stille überlagert, nur unterbrochen von gedämpftem Husten. Nach einer Weile drängten die ersten Töne von Beethovens Mondscheinsonate in den Saal. Alle standen wie auf Befehl auf und die abgedunkelte Aula erblühte in einem Meer weißer Taschentücher. Die Musik endete und alle setzten sich wieder. Der erste Redner betrat das Podium, Vaters langjähriger Kollege aus der Fakultät und gleichzeitig ein Freund der Familie. Er trat ans Pult, legte die beschriebenen Papiere zurecht und begann: „Liebe Trauergäste…“ er sprach lange über harte Arbeit, Ehre und traditionelle Werte, zwischen den einzelnen Worten machte er bedeutungsvolle Pausen.

„Sie war die Frau eines großen Mannes“, wandte er sich vielsagend an den Saal, schaute von den Papieren auf und nickte.

Seine Rede verwirrte mich. Er hatte zwar Recht, weil Vater Mutter in mehrerlei Hinsicht überragte. Mutter konnte mit ihrer nicht vorhandenen Bildung und Praxis und auch ihrer Herkunft Vater nicht das Wasser reichen, außerdem war sie fast zwei Köpfe kleiner. Aber das war doch ihre Beerdigung, um Vater ging es hier überhaupt nicht, sein letzter Ruhm war schon zwei Jahre lang vorbei. Ich wäre gern aufgestanden, um den Redner darauf hinzuweisen, dass nicht Vater, sondern meine Mutter im Sarg zu seiner Rechten lag. Ich schaute mich im Saal um, aber die Gäste um mich herum zerknüllten nur mit Blick auf den Redner gehorsam ihre Taschentücher. Dem Foto der Mutter gönnten sie keinen Blick.

Ich begriff, dass all die Leute nicht hergekommen waren, um meiner Mutter die letzte Ehre zu erweisen, sondern um sich vor ihm zu verneigen – meinem Vater, und damit auch seinem ältesten Sohn. Um Evžen, der vom Vater nicht nur das Aussehen und das Auftreten sondern auch einen Teil des Einflusses geeerbt hatte, ihre Loyalität gegenüber unserer Familie zu bezeugen. Das Begräbnis meiner Mutter war nur ein Vorwand.

„Wir verabschieden uns von einer wundervollen Ehefrau, Mutter und Freundin“, sagte der Redner zum Abschluss, und die Stimme brach ihm gehorsam.

Ich hätte ihn fast angeschrien: Und von Magdalena Tichá, geborene Mináčová, wollen Sie sich nicht verabschieden?

Die Leute standen wieder auf. Wieder erklang Musik, diesmal leiser und wehmütiger. Ich versuchte über den Rückenbergen, den Kränzen und Blumensträußen einen Blick auf Mutters Sarg zu werfen, aber so richtig gelang es mir nicht.

Ich überlegte, was sie zu dieser pompösen Zeremonie gesagt hätte. Ob sie nicht wenigstens einmal, zum letzten Mal, gern von der großen Bühne abgetreten und durch den Seiteneingang nach Hause verschwunden wäre? Vielleicht hätte sie lieber eine einfache Trauerfeier, vielleicht irgendwo zu Hause, im Dorf unterhalb der Tatra gehabt. Eine Handvoll Verwandter um ihren Sarg, angeführt vom Pfarrer, eine dreiköpfige Kapelle und dann ein Plätzchen in der heimatlichen Erde neben der alten Mutter und dem Vater. Stattdessen verbrennen sie sie und schütten ihre Asche in eine würdige Messingurne.

Die Gäste reihten sich auf, standen Schlange vor meinen Brüdern, den Hauptdarstellern dieser Tragödie, die den Gästen in den perfekt sitzenden Anzügen und gewienerten Schuhen die Hand schüttelten und Phrasen mit ihnen austauschten. Sie schienen außer der Ähnlichkeit im Gesicht nichts Gemeinsames zu haben. Obwohl sie nur zwei Jahre trennten, sah Milan um zehn Jahre jünger aus. Keine Falte auf der Stirn, aus den gegelten Haaren hatte sich eine Strähne gelöst und hing ihm in die Stirn. Ich bemerkte, dass sein oberster Hemdknopf offen stand und hinten unter dem Sakko der Saum hervorschaute. Evžen dagegen wirkte perfekt zurechtgemacht und steril. Bei jedem Dank für das aufrichtige Beileid vertiefte sich die Furche zwischen seinen Augenbrauen.

Das konnte ich mir nicht entgehen lassen und so trat ich direkt an den Sarg. In dem überfüllten Saal sah er ganz einsam aus.

Ich fragte mich, warum die Brüder einen geschlossenen Sarg gewählt hatten. Mutters Körper war sicher gut erhalten und der Bestattungsdienst kann heutzutage Wunder mit dem Gesicht bewirken. Das Gesicht des Verstorbenen kann man mit Schminke so zukleistern, dass der unbewegliche Körper kaum an eine Leiche erinnert. Vielleicht schämten sie sich, allen Mutters aufgedunsenes Gesicht und den dicken faltigen Hals zur Schau zu stellen. Schließlich war auch neben dem Sarg ein riesiges Foto aus einer Zeit aufgestellt, als Mutter noch schön war.

Innendrin hätte jemand Beliebiges sein können, aber ich spürte ihre Anwesenheit trotzdem intensiv. In meinem Körper begann es zu kribbeln, der bloße Gedanke an den toten Körper unter dem Deckel rief Angst und Scham in mir hervor. Aber irgendwo unter dem abgelagerten Hass, dem Widerwillen und den drückenden Erinnerungen spürte ich tiefe Zärtlichkeit. Dieser tote Berg aus Fleisch und Knochen war einmal meine Mama. Ich streichelte den Sarg dort, wo ich unter dem mit Intarsien versehenen Pappelholz, mit dem sie sie bald in den Ofen schieben würden, ihr Gesicht vermutete. Ich beugte mich zum Sarg, schloss die Augen und atmete ein. Jetzt kam der Augenblick, auf den ich mich lange vorbereitet hatte.

Da prallte jemand von hinten gegen mich. Pardon, sagte ein verschwitzter Glatzkopf und zeigte entschuldigend hinter sich. Ich begriff, dass ich im Weg stand, die Schlange hatte sich von meinen Brüdern zum Sarg verschoben. Ich trat eine Weile auf der Stelle herum, aber es hatte keinen Sinn, der Glatzkopf hatte mir alles verdorben. Ich ließ den Sarg Sarg sein und verließ schnell den Saal.

Ich lief die Treppe hinunter nach draußen und versteckte mich im Schatten eines Frauenreliefs mit Fackel. Ich schaute auf die Uhr. Wenn ich spätestens in einer halben Stunde losgehe, schaffe ich es pünktlich zum Zug nach Horažďovice. Ich mache einen Abstecher in die Hütte, ziehe den Rollkragenpullover aus, die schweren Schuhe an, und gehe noch in den Wald.

Stattdessen stand ich da wie angenagelt. Mit der Schuhspitze trat ich gegen eine rote Friedhofskerze, die mir vor den Füßen herumlag. Die Kerze kullerte auf den sonnenbeschienenen Weg in Richtung unseres Familiengrabs. Bald würden sie die Urne mit Mutters Asche auf den mächtigen Grabstein stellen.

Ein Schubs in den Rücken riss mich aus meinen Gedanken. „Hallo, Schwesterchen“, ließ sich Milan hören, „schön, dass du gekommen bist.“ Er zog blaue Gauloises aus der Jackettasche, klopfte von oben auf die geschlossene Schachtel, zog dann die mittlere Zigarette heraus und fuhr mit der Zunge darüber, bevor er sie sich in den Mund steckte. Genauso macht es so ein Tagedieb, der in Sušice immer vor der Weinstube beim Marktplatz steht. Der glaubt auch, dass sei leger und sexy. In der Stadt nennen sie ihn Dreckschwein oder Stadttrottel, je nachdem. Als Milan fertig geraucht hatte, bot er mir an, mich zum Bahnhof zu fahren. „Dann musst du dich nicht mit dem Öffentlichen rumquälen, Sisi“, sagte er, aber darum ging es hier nicht.

Ich wollte schon zustimmen und mich bedanken, aber auf einmal sträubte sich etwas in mir. Bin ich etwa nicht eine der drei nächsten Verwandten? Stand mein Name etwa nicht gleich hinter dem meiner Brüder auf der Traueranzeige?

„Ich fahre mit euch“, gab ich zurück, und Milan kratzte sich unsicher den Kopf.

„Wenn du meinst…“

Die Gäste kamen langsam aus dem Saal, die Frauen bei den Männern eingehängt, auf die Gesichter dezente Trauer geklebt, die Männer schwiegen würdevoll. Nur die warme Frühlingssonne störte das perfekte Bild, Regen hätte besser hierher gepasst.

Wir stiegen in Milans schwarzen BMW und reihten uns ganz am Ende in die Autoschlange ein. Auf dem Weg rauchte mein Bruder eine Zigarette nach der anderen, wühlte in seinen gegelten Haaren herum und schwieg. „Verdammt“, zischte er, als er sah, dass die anderen Autos ihm die Garageneinfahrt versperrten.

Er parkte einen Block weiter, schaute mich nicht einmal an sondern lief eilig zum Haus. Ich hatte zu tun, um ihn einzuholen.

Vor unserem Zaun überfiel mich ein altbekanntes Gefühl. Die Knie begannen mir vor diesem majestätischen Schatten zu zittern. Aber ich hielt mich auf den Beinen.

Unsere zweistöckige Villa ist eines der schönsten Häuser in Bezovka. Die Eltern gehörten nicht zu den neuen Bewohnern des Pilsener Stadtteils Bory, zu den Neureichen, die sich hier eine Wohnung anschafften, um den neu erreichten sozialen Status auch auf den Visitenkarten gedruckt zu sehen. Der Vater war alteingesessen, verwurzelt am Ort genau wie die hundertjährige Eiche im Garten, die Villa hatte er als erstgeborener Sohn von seinem Vater geerbt und der wieder von seinem. Mein Urgroßvater, ein bedeutender Stadtrat, hatte sie in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erbaut. Er ließ es sich angelegen sein, dass sie prachtvoll wirkte, aber dabei nicht zu protzig. In ihrer architektonischen Ausführung und der Größe passte sie sich genau in die umgebende Bebauung ein, sie überragte die anderen Häuser nur um eine Haaresbreite. Auch heute, nach fast hundert Jahren, ruft unsere Villa Bewunderung hervor. Während die umgebenden Häuser die Zähne der nagelneuen Dachausbauten fletschen, sich in Polystyrol kuscheln, lachend giftige Farben zeigen und in ihren Fenstern neue Plastikrahmen glänzen, ist auf unser Haus Verlass, dass es immer so bleibt. Die sandgelbe Fassade, die durch die Zweige der mächtigen Eiche zu sehen ist, wirkt immer noch zurückhaltend und gleichzeitig elegant. Nur ein kompletter Kleinigkeitskrämer würde bei detaillierter Betrachtung feststellen, dass die Farbe an den Ecken abplatzte und die Risse in der Fassade schwarz verschimmelt waren.

Wir gingen durchs Tor und stiegen die Stufen zur intarsienverzierten Tür empor, die in der Ausführung Mutters Sarg nicht nachstand. Aus dem Flur traten wir direkt in das größte Zimmer des Hauses, das Wohnzimmer, das wir Repräsentationszimmer nannten. Hier wurden seit Ewigkeiten die Besucher mit einem Glas echten Champagners empfangen und der Kaffee in Goldrandtassen mit silbernen Löffelchen umgerührt.

Ich sehe das wie heute. Vaters Kollegen aus der Fakultät und verschiedene Sponsoren nehmen auf der Ledercouch und den Sesseln Platz, debattieren über Politik, Kultur und Fußball, ein Glas teuren schottischen Whisky – „wo haben Sie den bekommen?“ – vor sich auf dem Konferenztischchen, die Hand mit der Zigarette auf die Armlehne der Ledercouch gestützt.

„Und was ist Ihre Ansicht dazu, Herr Tichý?“

Vater stützt sich im Sessel ab, nimmt einen Schluck und schaut aus dem Fenster in den englischen Garten. Er gibt genau Acht, dass die Pause nicht zu lang, aber auch angemessen dramatisch ist. Die Gäste nicken schon, bevor er anfängt zu sprechen.

Milan verlor sich in der Menschenmenge, ich blieb auf der Schwelle stehen und betrachtete das Geschehen im Wohnzimmer. Die schwarz gekleideten Gäste standen und saßen im Zimmer, eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein in der Hand, tauschten Erinnerungen an meine Eltern aus und betrachteten alte Fotos.

Wie lange konnte es her sein, dass ich zum letzten Mal hier war? Dass ich von hier fortgelaufen bin, um niemals wieder herzukommen? Sieben Jahre schon. Seitdem hat sich nichts geändert. Überhaupt nichts. Die Möbel standen noch genauso, an den Wänden die altbekannten Bilder und in die Nase stieg mir der bekannte Geruch. Nur thronte Evžen anstelle des Vaters im Paradesessel. Er war ihm unfassbar ähnlich. Er war genauso groß, hatte dieselbe schlanke Figur mit dem etwas vorgewölbten Bäuchlein. Auf seiner Stirn bildeten sich Geheimratsecken, er hatte fast so wenig Haare wie Vater, als er starb. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen, in einer Hand hielt er ein Gläschen, die andere lag auf seiner Brust, das Gesicht machte einen würdig gedrückten Eindruck. Ich konnte aber gut sehen, dass er aus dem Augenwinkel verfolgte, was sich um ihn herum abspielte.

Er konnte zufrieden sein, es war gelungen, auf der Bühne eine perfekte Trauerstimmung herzustellen. Alle geladenen Gäste flüsterten ehrfurchtsvoll und schauten sich die an den Wänden und in den Vitrinen ausgestellten Fotografien an. Niemand wollte es sich mit Evžen, dem einflussreichen Pilsener Unternehmer und funkelnagelneuen Stadtvertreter, durch Lachen oder lautes Schluchzen verderben. Dabei sah es lange so aus, als würde Evžen nicht in Vaters Fußstapfen treten. Als er für Jura nicht angenommen wurde, überschüttete ihn Vater mit einem Haufen Vorwürfe und Beschimpfungen. Evžen, die „Schande der Familie“, packte lieber seine Sachen und ging nach Prag in die technische Hochschule, aber auch dort reichte es nur zum Bachelor. Als ich aus dem Haus ging, suchte der nicht fertig studierte Ingenieur schon seit ein paar Monaten erfolglos eine anständige Arbeit. Erst nach meinem Absturz begann es ihm offensichtlich gut zu gehen. Er kehrte nach Pilsen zurück, gründete eine IT-Firma und das Geschäft fing an zu brummen. Dann schloss ihn offensichtlich auch der Vater wieder in sein Herz.

Sowie ich ein paar Schritte machte, traten die Trauergäste wie eine Schafsherde auseinander. Einen Moment lang bedauerte ich, nicht gleich nach der Beerdigung zum Bahnhof gegangen zu sein. Ich goss mir Tee aus der Kanne ein, ging zwischen den Gästen umher, grüßte absichtlich die, die ihr Gesicht von mir abwendeten, und gab anderen, die auf ihre Schuhspitzen starrten, die Hand. Und als mir das Teilen der Menge keinen Spaß mehr machte, ging ich hinaus in den Flur und über die hölzerne Wendeltreppe in die erste Etage. Ich wollte noch einmal durch mein ehemaliges Heim gehen, die Vergangenheit berühren, die Erinnerungen streicheln.

Ich ging langsam, ohne Eile, kostete jeden Schritt aus. In dem kleinen Flur in der ersten Etage standen flache IKEA-Kisten. Regale, Schränke, ein Tisch. In der Woche seit Mutters Tod hatte Evžen viel geschafft. Oder war er schon vorher hier eingezogen, als sie im Krankenhaus lag? Ich fuhr mit dem Zeigefinger über die Klinke der dritten Tür.

Mein Zimmer war zwar von allen drei Zimmern das kleinste, gefiel mir aber am besten. Auch nach all diesen Jahren war es immer noch mein Zimmer. Das Parkett knarrte, das Knarren breitete sich bis zu den nackten Wänden aus und weil es nichts zum Abstützen hatte, prallte es dort ab und machte sich wieder auf den Rückweg. Evžen hatte alle meine Möbel und die Vorhänge entfernen lassen, das Zimmer war bereit, gemalert zu werden. Und bereit, Evžens ersten Nachkommen aufzunehmen, den er sicher bald produzieren würde. Es wird ein Sohn, was sonst. Ich legte mich aufs Parkett, schloss die Augen und bemühte mich, die Überreste der Gerüche einzuatmen, an die ich mich erinnerte. Durch das geöffnete Fenster drang der Straßenlärm herein. Für einen Augenblick versetzte ich mich in die Zeit, in der ich hier am glücklichsten war. In die Zeit vor meinem zehnten Geburtstag. Ich wusste, dass ich nie wieder hierher zurückkehren würde.

Als ich die Treppe hinunterkam, trat ein behaarter Vierziger auf mich zu, dem ein Fotoapparat mit großem Objektiv am Hals baumelte. Er würde jeden Gast bitten, sich fotografieren zu lassen und ein paar Worte in das Kondolenzbuch zu schreiben, für die Familie zur Erinnerung. Ob er mich auch bitten dürfte? Und wer ich eigentlich sei?

Ich schaute ins Wohnzimmer. Der hochverehrte Evžen saß in Vaters Paradesessel noch in derselben Position, nur war jetzt das andere Bein übergeschlagen. Hinter ihm stand seine Frau, die Hand auf seine Schulter gelegt. Beide starrten mich an.

„Ich bin niemand, ein komplettes Nichts, ich gehöre überhaupt nicht hierher“, antwortete ich, den Blick immer noch auf Evžen gerichtet.

„Und was machen Sie dann hier?“

Ich zuckte nur die Schultern, winkte mit der Hand, segelte durch das Zimmer und ging durch die geöffnete Eingangstür hinaus.

Bevor ich das Tor öffnete, schaute ich mich noch ein letztes Mal um. In den letzten Jahren verfolgte mich ein hartnäckiger Traum, dass ich hier einmal anklopfe, Mama, Papa und die Brüder die Tür weit öffnen, wir uns alle die Hände schütteln und umarmen und auf die Wange küssen. Wir erklären einander alles, weinen gemeinsam ein bisschen und lassen die Vergangenheit vergangen sein. Was passiert ist, war nur ein gewöhnliches Missverständnis, eine kurze Episode, die sich ausbügeln lässt. Dieser unerfüllbare Traum war so verlockend, dass mich sein Duft auch jetzt nach ihrem Tod wieder in der Nase kitzelte.

Auf der Treppe fiel mir der erste Regentropfen auf die Stirn. Ich konnte das Tor auch beim dritten Versuch nicht schließen, die Angeln hatten sich gelockert und der Metallrahmen schleifte am Ziegelpfosten, ich hatte keine Kraft es zuzuschlagen. Evžen wird es reparieren lassen müssen.

Nach Dvorce kam ich kurz nach elf. Für ein Abendbrot blieb keine Zeit, ich aß nur ein paar Nüsse aus dem Glas und hüpfte direkt ins Bett, ohne mich zu waschen oder Zähne zu putzen, nur im Unterhöschen und Hemdchen. Erst gegen Morgen konnte ich einschlafen. Im Schlaf drückte mich der Gedanke, dass ich es nicht gepackt hatte. Ich hatte es nicht geschafft, der Mutter durch das dicke Pappelholz ins Ohr zu flüstern, was ich wollte.

Ich verzeihe dir.

Abe auch war es besser als beim letzten Mal gelaufen. „Das ist deine Schuld“, sagten mir die Brüder auf Vaters Begräbnis. Diesmal begnügten sie sich mit Schweigen.

 

03

Jeden Tag ziehe ich mir in der Frühe im Flur Vaters lederne Wanderschuhe an, nehme den Korb mit dem Geschirrtuch und mache mich auf den Weg.

Meine 25km-Trasse ist perfekt durchdacht. Ich weiß, in welchem Wald es viele Pilze gibt, und wo ich nicht mal einen ungenießbaren Pilz finden würde, durch welche Lücke ich am besten in die dichten Neupflanzungen eindringen kann, wo ich gut über den Fluss komme und wie ich mich durch die eingezäunten Kuh- und Schafsweiden schlängele.

Es könnte sich jemand meinen Weg wie einen schmalen Trampelpfad durch einen dunklen, geheimnisvollen Wald vorstellen, wo ich meine Füße in taufeuchten Wiesen benetze, über schnell dahineilende Bergbächlein springe, an Felsen emporklettere und über tiefe Abgründe balanciere, die voller vom Sturm umgeworfener Bäume liegen. Der würde sich aber täuschen. Am Rand des Böhmerwalds sind die lichten Wälder mit Wiesen, Wochenendsiedlungen und Campingplätzen durchsetzt, und es wimmelt nur so von Einheimischen und Touristen. Das ist weit entfernt von jungfräulicher Natur. Aber ich komme mir auf meinem Pfad wirklich wie ein einsamer Reisender in der Wildnis vor. Wenn ich in die Nähe der Autocamps komme, habe ich das Gefühl, als ob ich den steilen Gipfel eines hohen Berges bezwungen hätte. Beim Schneiden von Fahrradwegen gelange ich in feindliches Gebiet voller hungriger Wölfe, die auf ihr Opfer lauern. Und auf dem Weg über die Asphaltstraße, die ich nicht umgehen kann, werde ich zum Pilger, der sich auf seinem Tausende Kilometer langen Weg nach Compostela am Fuße der Berge entlang windet. Deswegen schaue ich auf meinem Weg auch mit heiliger Ehrfurcht auf die Erde. Mir liegt nichts daran, zufällig Vorübergehenden ins Gesicht zu schauen. Vor allem möchte ich aber nicht, dass jemand mich sieht. Ich bin lieber ein Schatten, der durch den Wald schleicht.

Wenn mich auf meiner Trasse doch einmal jemand bemerkt, sieht er nur ein Dutzendmädchen, gekleidet in ein ausgeleiertes Sweatshirt von undefinierbarer Farbe. Mein Gesicht ist fade, die Haare weder kurz noch lang, die Farbe nicht zu bestimmen. Ich maskiere mich wie die schmackhaftesten Pilze. Unmöglich, sich an mich zu erinnern.

Meine Tage haben eine unveränderliche Ordnung. Wenn ich kurz nach sieben Dvorce verlasse, kitzelt es angenehm in meinen Fußsohlen. Mit den ersten Funden zwischen Stráž und Nuzerov steigt die Spannung von den Füßen höher, in Krušce fangen mir die Waden an hart zu werden und die Oberschenkel steif, also lege ich lieber einen Schritt zu, um den ganzen Marsch zu bewältigen. In Hartmanice halte ich mich nicht lange auf, schaue nur unter ein paar Fichten, drehe ungeduldig nach Osten ab und gehe durch den Wald von Kundratice zum Angriff über. Bei Vatětice kribbelt und sticht es mir im Unterbauch, mein Ziel, der Nadelwald bei Annín, ist fast nur noch einen Steinwurf entfernt. Ich weiß genau, unter welcher Fichte ich Steinpilze finde und an welcher Stelle im Gras die höchsten Schirmpilze wachsen. Papa hat mir das beigebracht und ich bin ihm bis heute dankbar. Ich laufe von Fleckchen zu Fleckchen, vom Rotfußröhrlingshang zur Schirmlingswiese, vom Pfifferlingsfleck zum Herbstrotfußmoos, durchsuche den Täublingshort und die Rotkappenecke. Ich beuge mich zu den Fruchtkörpern herunter und beschaue mir ihre auffälligen und weniger auffälligen Kappen, die über dem Pilzstamm aufragen. Je länger und stärker der Stiel ist, desto besser. Ich umfasse den Stiel mit der Hand, schließe die Finger und ziehe einen Pilz nach dem anderen aus der Erde. Ich beuge mich zu den Wurzeln der Bäume und richte mich schnell wieder auf, unter den Fichten sticht es in meiner Seite, bei den Lärchen hüpfe ich freudig, bei den Kiefern schlägt mir das Herz bis zum Hals.

Wenn ich mich durch den ganzen Wald gekämpft habe, stöhnt mein Körper vor Schmerz und im Unterbauch kribbelt es. Die Sachen kleben mir verschwitzt am Körper. Ich gehe gebeugt unter der Last des Korbs und schnappe nach Luft. Am Abhang beim Fluss setze ich mich endlich unter einer gebeugten Kiefer auf einen doppelten Baumstumpf und lasse meine aufgequollene Lunge und die gereizten Organe sich erholen. Ich setze den Korb ab, stütze die Ellbogen auf die Beine, lege die heißen Wangen in die Handflächen und atme tief. Genauso wie die abgeschnittenen Pilze im Korb zu meinen Füßen sitze ich ein paar Minuten unbeweglich, bis mein Puls auf die normale Höhe zurückkehrt und das Plätschern des Baches den rasenden Atem übertönt. Dann stehe ich langsam auf, strecke meinen schlaffen Körper und gehe in Richtung Sušice. Wenn ich auf dem Weg nach Norden das Flussbett der Otava entlang gehe, schleppen sich meine Beine nur noch müde dahin. Aber trotzdem lässt es mir keine Ruhe und ich mache noch hier und da einen Abstecher in den Wald, der von scharfem Brombeergebüsch oder hohen Brennnesseln begrenzt ist, und lege noch etwas in den Korb. Gegen fünf klopfe ich schon an die Hintertür des Restaurants Fliegenpilz und gebe meinen Fang ab. Einen Teil des verdienten Geldes stecke ich in die innere Tasche des Portemonnaies und von einem Teil kaufe ich mir etwas zu essen und schlurfe dann nach Hause. In Dvorce komme ich normalerweise gegen sieben an, verschlinge mein Abendessen und schlage die Zeit bis zum Moment des Schlafengehens tot.

So geht das ab April, wenn noch ein paar Ritterlingsverwandte wachsen und Morcheln und Verpeln neu dazu kommen, bis zum November, wenn ich mit ein bisschen Glück auf Hallimasch und Schnecklinge treffe. Die Trasse ändere ich im Grunde nicht, ich wandle sie nur ein bisschen je nach Jahreszeit ab. Im Frühjahr, wenn die Natur im Böhmerwald noch züchtig verhüllt und zart ist, weiche ich aus dem Wald auf sonnige Weiden und Wiesen aus, wo ich nach Mairitterlingen und Schwindlingen suche, im Laubwald wiederum auf Verbeln und Stockschwämmchen lauere. Nach jedem Ausbruch kehre ich aber immer wieder auf meinen Weg zurück, der schon ungeduldig nach meinen Schuhen Ausschau hält.

April und Mai sind nur ein einfaches Vorspiel vor dem, was im Sommer kommt. Im Juni, wenn Pfifferlinge und Flockenstieliger Hexen-Röhrling wachsen, weiche ich schon keinen Fußbreit mehr von meiner Trasse ab. Ich gehe bis zum Oktober immer den gleichen Weg, bis zum November, wo ich wieder in den Laubwald ausweichen muss, um Herbstpilze zu holen, damit ich nicht mit halbleerem Korb ins Restaurant komme.

Ende November beginne ich spleenig zu werden. Die Tage werden kürzer, ich muss später aufbrechen und nach Sušice kehre ich gewöhnlich nur mit ein paar übrig gebliebenen Pilzen zurück. Um die Zeit im Wald sinnvoll zu verbringen, versuche ich dem Wald meine Dankbarkeit für alles, was er mir in den letzten Monaten geschenkt hat, zu bezeugen. Ich stecke mir große Abfalltüten ein und sammle dann Plastikflaschen, Flachmänner und Chipstüten hinein. Anstelle mit einem vollen Pilzkorb komme ich mit vollgestopften schwarzen Säcken nach Sušice. Ich ziehe sie wie Kadaver hinter mir her.

Im Dezember bricht eine depressive Zeit an. Ich lebe von Konserven, Kompott, gekochten Kartoffeln und Reis, aber auch so gehen die Vorräte zur Neige und im März habe ich kaum noch etwas zu essen. Ich fühle, wie mein Körper vom Nichtstun schwach und weichlich wird. Oft stehe ich am Küchenfenster und starre in Richtung Wald. Die eingemummelten Bäume drücken sich aneinander, umfassen sich bei den Schultern und drehen mir den Rücken zu. Manchmal gehe ich aus Gewohnheit meinen Weg und bleibe an Stellen stehen, wo ich unter den Schuhen das gefrorene Myzel spüre. Endlich setze ich mich auf den doppelten Stamm unter der Kiefer, wo das alles begann. Und im April schnappe ich wieder den Familienkorb und gehe das Terrain begutachten.

„Du warst schon in den Pilzen, als du selbst noch im Myzel warst!“, sagte Papa einmal und wies mit dem Finger auf das Foto, das noch heute zwischen den Küchenfenstern hängt – Mama steht da mit einem vollen Pilzkorb und Papa und die Brüder zeigen mit dem Finger lachend auf ihren großen Bauch. Sie sehen wie eine glückliche Familie aus. Und wenn ich damals nicht zur Welt gekommen wäre, hätte das vielleicht so bleiben können.

Auch meine erste Erinnerung betrifft Pilze. Ich sitze auf der Holzbank vor der Hütte in Dvorce und baumele mit den Beinen, die noch nicht bis auf die Erde reichen. Von Mama sehe ich nur den schlanken Körper mit der karierten Schürze. Immerzu wedelt über meinem Kopf das Messer vorbei, mit dem Mama die Pilze von Nadeln und Moos reinigt. „Pilze sauber machen ist eine Arbeit für Frauen“, dringen Papas Worte zu mir. Mama nimmt einen großen Maronen-Röhrling, den ich ihr reiche, und lächelt mich sanft an.

[…]

14

In jener Nacht konnte ich nicht einschlafen. Wohl zum ersten Mal in meinem Leben. Es muss schon spät gewesen sein, da es trotz Sommersonnenwende dunkel war, und ich starrte immer noch an die helle Zimmerdecke. Das Zimmer unter dem aufgeheizten Dach war warm, aber durch das offene Fenster kroch langsam kühle Luft herein. Draußen braute sich das erste Sommergewitter zusammen, der nahe Wald rauschte. Der Wind drückte gegen die Fenstervorhänge und über die Wand geisterten die Schatten der Äste unseres Nussbaums, seine Klaue klopfte an mein Fenster. Nach zwei drei Stunden begann das Licht- und Schattenspiel an der Decke seine Funktion zu erfüllen. Langsam fielen mir die Augen zu, meine Arme und Beine wurden schwer. Doch auf einmal riss mich etwas aus dem Schlaf. Ich hörte jemanden husten. Der Husten hörte sich bekannt an. Aber immer noch es war dunkel. Damals kam er zum ersten Mal in mein Zimmer. In jener Nacht endete meine Kindheit. Ich zog nie mehr den kleinen Koffer mit meinen Schätzen unter dem Bett hervor. Fünfzehn Jahre lang legte sich Staub darauf.

 

Aus dem Tschechischen von Raija Hauck