Michal Ajvaz

Die Reise in den Süden

2008 | Druhé město

Erster Teil

Zwei Brüder

Das Libysche Meer I

1. Loutro

Ich nahm aus der kleinen Tasse einen Schluck starken griechischen Kaffee und schaute auf die Wasseroberfläche des Libyschen Meeres, vor einem Augenblick war die Sonne hinter dem Felsen verschwunden, der am westlichen Ende der kleinen Bucht die Wasserfläche zerschnitt und jetzt aussah wie ein Haufen rotes Gestein, das jemand ins Meer gekippt hatte; noch ließ der rote Lichtschein seine Umrisse verschwimmen, als lodere dahinter ein stilles Feuer. Der albanische Junge, der mir Kaffee brachte, hatte die blauweiß gestreifte Markise noch nicht eingerollt, die seit dem Morgen die Gäste der Taverne vor der glühend heißen Sonne schützte, ich hörte das leichte Knattern des Stoffsaums im Windhauch, der sich vom Meer her erhoben hatte und jetzt auf seiner metallisch glänzenden Oberfläche sorgfältig niedrige Wellen mit scharf gezähnten Kämmen modellierte. Die unsichtbare Sonne sandte dem Gipfel der Klippe auf der Ostseite der Bucht ein letztes orangefarbenes Licht, in dem die dunklen Schatten in den zickzackförmigen Klüften deutlich hervortraten. Die weißen Tavernen und Pensionen auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht waren bereits in einem bläulichen Zwielicht versunken, auch wenn ihre Wände noch bis weit in die Nacht Wärme ausatmen würden. […]

2. Martin

Und dann lösten sich sozusagen von einem Moment auf den anderen alle entfernten Umrisse auf, auf die Bucht und die Felsen senkte sich die Nacht herab, von der Flut aus Licht, von der mir immer noch die Augen schmerzten, waren nur flimmernde Pünktchen am Himmel übrig geblieben, die blinkende rote Lampe des nahen Leuchtturms auf der kleinen Felseninsel, das Kollier aus Laternen, das entlang der Bucht lag, zitternde Lichtstreifen auf dem Wasser und im Osten ein unbeweglicher Schwarm aus Lichtern, der funkelte wie Goldstaub auf schwarzem Samt und von dem ich wusste, dass es sich um die entfernten Lichter von Chora Sfakion handelte. Ich blickte mich um und sah, dass an den meisten Tischen der Taverne Gäste saßen; mir wurde bewusst, dass ich schon eine ganze Weile das Stimmengewirr gehört hatte, das sich mit dem Plätschern der Wellen mischte; aus ihm tauchten Bruchstücke von englischen, französischen, deutschen und griechischen Sätzen auf, ich roch den Duft des auf den Spieß gefädelten Fleisches, den eine elektrische Vorrichtung langsam über einer Blechpfanne mit Holzkohlenglut drehte.

Zwischen den Tischen erschien mein Bekannter von vorgestern, unter dem Arm hatte er ein dickes Buch. Als er an mir vorbeikam, grüßte er mich mit einem fast nicht wahrnehmbaren Kopfnicken; ich sah, dass er einen Moment stockte, er überlegte, ob er sich nicht dazusetzen sollte, aber schließlich nahm er am Nachbartisch Platz. Noch einmal lächelte er mir zu, blätterte eine Weile in seinem Buch, doch dann legte er es geöffnet auf die weißblaue Tischdecke und ließ seinen Blick so wie ich über die Lichter auf dem Wasser schweifen. Ich wusste bereits, dass er Martin hieß und ein passionierter Leser mit bemerkenswertem Literaturgeschmack war. Seine Bekanntschaft hatte ich dank meiner nicht kurierbaren Unsitte gemacht, die mich seit jeher zwang herauszufinden, was fremde Menschen lesen. Ich tat das überall und auf alle möglichen Weisen, die manchmal sogar die Grenzen anständigen Benehmens überschritten. […]

3. Woran Kant Schuld ist

Der dicke Band, der jetzt auf dem Tisch lag, war offenbar das letzte Buch aus dem Stapel auf seiner Strandmatte, das ich noch nicht kannte. Ich hörte, dass Martin sich überbackene Aubergine mit Feta bestellte; während er auf sein Essen wartete, blätterte er zerstreut in dem Buch. Mir fiel auf, dass ich ihn noch nie länger als ein, zwei Minuten lesen gesehen hatte; obwohl er so viele Bücher mit in Urlaub genommen hatte, konnte er sich offenbar überhaupt nicht aufs Lesen konzentrieren. Als Tanja den Teller mit den Auberginen, auf denen der weiße Schafskäse im heißen Olivenöl zerlief, und einen Messingkrug mit Hauswein vor ihn hinstellte, klappte er das Buch zu und ich schaute sofort auf den dunklen Buchdeckel; in seiner Mitte sah ich ein Oval, darin die silberne Silhouette eines Männerkopfes mit Perücke, deren Zopf aufwärts gebogen war, und darüber stand in halb verwischter silberner Schrift der deutsche Titel: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Wir erhoben unsere Gläser und tranken uns auf die Ferne zu. Der Kant auf dem Tavernentisch überraschte mich nicht, er passte ziemlich gut in die Gesellschaft der anderen Bücher von Martin; aber ich konnte mir nicht verkneifen, auf das Buch zu zeigen und zu bemerken: „Eine etwas seltsame Lektüre für den Urlaub.“

„Ich schreibe meine Dissertation über die Kritik der reinen Vernunft“, sagte Martin wie zu seiner Entschuldigung, „und ich muss einiges aufholen; in letzter Zeit habe ich mich nicht viel mit dem Schreiben befasst, seit Mitte September bin ich ständig auf Achse.“

Eine Weile schwieg er und fügte dann hinzu: „Und dabei … Wäre die Kritik der reinen Vernunft nicht gewesen, hätte ich mich nie auf Reisen begeben und würde jetzt nicht hier sitzen.“

Es war klar, dass Martin diesen Satz nur gesagt hatte, damit ich ihn fragte, was es denn mit dieser Reise auf sich hätte. Schon gestern hatte ich den Eindruck gehabt, dass er mir gerne davon erzählen wollte, aber gleichzeitig aus irgendeinem Grund Angst davor hatte. Höchstwahrscheinlich hatte er das Bedürfnis, irgendwelche Ereignisse zu verarbeiten, die ihm zugestoßen waren, und gleichzeitig hatte er Angst, zu ihnen zurückzukehren. Seltsam war auch, wie er über die Reise sprach. Es gibt viele Varianten, das Wort Reise auszusprechen, und Martin tat es so, als meine er ein langes abenteuerliches Herumstromern über mehrere Erdteile – dabei hatte er mir gesagt, er wäre erst vor zwei Wochen aus Prag abgereist; und dass er von Böhmen aus nach Kreta einen Umweg über andere Erdteile gemacht hatte, bezweifelte ich.

Es war offensichtlich, dass Martin den Drang verspürte, eine Geschichte zu erzählen, und dass er das Gefühl hatte, ich könnte ein recht guter Zuhörer sein. Ich konnte mich allerdings nicht entscheiden, ob ich zulassen sollte, dass die herrlichen Geräusche der kretischen Stille, denen ich die ganze Woche gelauscht und von denen ich immer noch nicht genug hatte, von den Worten einer langen Geschichte überlagert würden, und wäre sie noch bezaubernder und spannender als die Geschichte von Sindbad dem Seefahrer. Aber gleichzeitig spürte ich meine Neugier; abgesehen davon, dass mich der Ton, in dem Martin von seiner Reise sprach, beunruhigte, hätte ich auch ziemlich gerne gewusst, warum ihn die Reise, zu der er wegen seiner Dissertation aufgebrochen war, ausgerechnet an die Strände im Süden Kretas geführt hatte und nicht etwa nach Heidelberg oder Freiburg. Was hatte Loutro zwischen Felsen und Meer mit Kant zu tun, der bekanntermaßen Königsberg nie verlassen hatte? Dann fiel mir ein, dass das Dorf gar nicht so weit entfernt von der Universitätsstadt Rethymno lag, und ich fragte Martin, ob er nach Kreta gekommen sei, um irgendeinen hiesigen Kant-Experten aufzusuchen.

„Ich hatte überhaupt keine Ahnung, dass ich hier landen würde“, sagte er. „Ich bin eines Nachts am Prager Hauptbahnhof losgefahren, ich dachte, dass ich für einen Tag nach Bratislava fahren würde … Eigentlich habe ich mich ein bisschen unklar ausgedrückt. Ich habe gesagt, dass ich mich wegen der Kritik der reinen Vernunft auf Reisen begeben habe, aber ich hätte hinzufügen müssen, dass ich damit nicht das Buch gemeint habe.“

„Heißt denn so noch etwas anderes als das Buch? Hat etwa jemand einen Film nach Kant gedreht?“

Erstaunlicherweise hielt Martin meine Frage offenbar nicht für einen Witz. Er dachte nach, als wolle er sich entsinnen, ob er irgendwann einmal im Kino einen Film nach einem Werk von Kant gesehen hatte, und dann sagte er: „Ich glaube, die Kritik der reinen Vernunft hat niemand verfilmt. Aber nach ihr gibt es ein Ballett.“

„Haben Sie sich wegen eines Balletts auf Reisen begeben? Sie haben sich doch nicht etwa in eine Tänzerin verliebt und sie durch ganz Europa verfolgt?“, sagte ich vergnügt.

Auch jetzt lachte Martin nicht, er schüttelte nur den Kopf; scheinbar fand er, dass ihm so etwas gut passieren könnte. Er nahm einen Schluck Wein und sagte dann: „Ich habe mich aufgrund eines Verbrechens auf die Reise gemacht, das während einer Vorstellung des Balletts Kritik der reinen Vernunft geschehen ist.“

„Ein Verbrechen bei einer Ballettvorstellung? Wurde jemandem der Pelzmantel aus der Garderobe gestohlen?“

„Nein, es ging um einen Mord. Am Ende des zweiten Aktes wurde Petr Quas erschossen, Vorstandsmitglied der Phoenix Finance Group“, sagte er ganz ruhig.

„Und weiß man, wer der Täter ist? Das werden doch wohl nicht Sie sein? Haben Sie jemanden umgebracht und sind dann vor der Polizei durch halb Europa geflohen?“, fragte ich überrascht. Das wäre natürlich überhaupt die beste Version gewesen. Aber ich fand nicht, dass Martin aussah wie ein Mörder.

„Nein, ich hab ihn nicht umgebracht“, sagte Martin. „Der Mörder war Das Ding an sich.“

„Den Witz habe ich jetzt nicht verstanden.“

„Das ist kein Witz. Der Mörder war diejenige Person, die im Ballett die Rolle des Ding an sich getanzt hat.“

„Dann hatte die Polizei ja leichte Arbeit, sie brauchte nur im Theaterprogramm die Namen der Darsteller nachzulesen.“

„Leider war das nicht so einfach. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass die Rolle des Dinges an sich von einem Eindringling getanzt worden war, den niemand kannte.“

Nach wie vor begriff ich gar nichts. „Wenn er getanzt hat, dann war er doch auf der Bühne, und alle Zuschauer müssen ihn gesehen haben.“

„Allerdings ist, wie Sie vielleicht wissen, das Ding an sich bei Kant den menschlichen Sinnen und der menschlichen Erkenntnis vollkommen unzugänglich.“

„Ja und?“

„Die Verkleidung dessen, der diese Rolle getanzt hat, sah auch dementsprechend aus. Der Tänzer war von Kopf bis Fuß verhüllt und es war unmöglich, ihn zu erkennen.“

„Na gut, das würde ich verstehen. Und wie hängt Ihre Reise mit dem zusammen, was in dem Theater passiert ist?“

„Ich bin losgefahren, um den Täter ausfindig zu machen.“ Martin verstummte wieder für eine Weile, dann korrigierte er sich: „Eigentlich bin ich vor allem deshalb losgefahren, um den Täter eines anderen Mordes ausfindig zu machen, das Ganze ist ein wenig kompliziert …“

Inzwischen war meine Neugier stärker als der Wunsch nach den Stimmen der kretischen Stille. „Hätten Sie nicht Lust, mir die Geschichte Ihrer Reise von Anfang an zu erzählen?“, sagte ich. Martin hatte auf diese Aufforderung gewartet. Er nahm sich sofort seinen Weinkrug, setzte sich an meinen Tisch und begann, den Blick auf die dunkle Meeresoberfläche gerichtet, zu erzählen.

Tomáš und Petr II

1. Das Lied von der Leere

„[…] Vor zwei Jahren im Herbst hatte Tomáš den Roman fertig und Kristýna brachte ihn zu einem Verlag; dort lasen sie das Manuskript und nahmen es in ihr Programm auf.

Aber schließlich ging alles ganz anders aus. Kristýna warf sich vor, dass sie das, was passiert ist, durch eine einzige Frage, die sie Tomáš stellte, selbst verschuldet hat. Sie hat letzten Endes dazu geführt, dass der Roman bis heute nicht erschienen ist, dass Tomáš sie wegen einer anderen Frau verlassen hat und dass er schließlich in der Türkei ums Leben gekommen ist …“

„Und was hat sie Furchtbares gesagt?“, fragte ich.

„Kristýna hat mir erzählt, dass sie einmal mit Tomáš am Moldauufer spazieren gegangen ist, es war Dezember, ein kalter Wind wehte, den steinernen Kais war eine Eiskruste gewachsen. Unter der Eisenbahnbrücke fragte Kristýna Tomáš aus heiterem Himmel, wie das eigentlich mit der Untreue von Marius’ Frau gewesen sei, bevor der nach Parka abgereist war. Das ist alles. […] Als sie nach Marius’ Eheproblemen fragte, war das nur so ein Spiel, das nichts zu bedeuten hatte, und Tomáš nahm es auch als Spiel, er begann sich etwas auszudenken, aber auf einmal stutzte er und verstummte. Kristýna redete dann von etwas anderem weiter, aber sie sah, dass Tomáš ihr nicht recht zuhörte. Als sie vor dem Haus ankamen, wo er wohnte, erwartete sie, dass er sie zu sich einladen würde, aber er sagte, dass er zu Hause noch etwas zu erledigen habe, und verabschiedete sich von ihr.

Wenn sie in den darauf folgenden zwei Wochen bei ihm anrief, entschuldigte er sich jedes Mal, dass er zu tun habe. Und dann klingelte eines Morgens um sieben plötzlich ihr Telefon und er bat sie, zu ihm zu kommen. […] Als sie sein Zimmer betrat, sah sie, dass der Schreibtisch, der an dem von frostigen Mustern gesäumten Fenster stand, voll mit bedruckten Blättern voller Skizzen und Anmerkungen war, auf den Zetteln lag eine seltsame Konstruktion aus mit weißem Plastik bezogenem Draht. Das ganze Stillleben wurde vom ruhigen Strahlen des frisch gefallenen Schnees beleuchtet; Kristýna kam es vor, als betrachte sie ein Foto von Josef Sudek. Der Anblick der vollgeschriebenen Blätter beunruhigte sie; ihr kam der Gedanke, dass sich Tomáš an das Überarbeiten des bereits fertigen Buches gemacht haben könnte. Was die Drahtkonstruktion anging, wusste sie nicht, was sie davon halten sollte; möglicherweise war das irgendein Puzzle, mit dem sich Tomáš von der Arbeit erholte.

Tomáš kochte ihr einen Tee und fing auch gleich an zu erzählen, womit er sich in den letzten 14 Tagen beschäftigt hatte. Er begann damit, weitschweifig über seinen Roman zu sprechen. Er rief Kristýna in Erinnerung, wie er entstanden war: In einer weißen Leere war ein Stadtraum vor ihm aufgetaucht; aus dessen Straßen war eine Figur hervorgegangen; aus deren Blick auf die Stadt und aus dem Rhythmus ihrer Schritte begann sich die Handlung zu entwickeln; die wiederum verzweigte sich in mehrere Stränge, die sich weiter verzweigten, aneinander vorbeiliefen oder sich begegneten und die gleichzeitig miteinander in Verbindung blieben, jeder von ihnen antwortete auf die Appelle der übrigen Stränge, indem er Bilder aus sich hervorbrachte. Das Verzweigen fand langsam ein Ende und ging über in ein Stadium des erneuten Verbindens; was hervorgesprossen war, zog einen Bogen und kam erneut mit dem ursprünglichen Ast in Berührung; was sich aufgespaltet hatte, wuchs erneut zusammen. Als dieser Prozess von alleine zum Stillstand gekommen war, als alle Zweiglein und Auswüchse wieder in den Stamm hineingewachsen waren, war das Buch fertig. […]

Kristýnas Frage nun hatte Tomáš ermöglicht, seine Gefühle zu begreifen. Es ging darum, dass ihm bei all dem Aufdröseln und Verflechten der Handlungsstränge ihr Ursprung ein wenig in Vergessenheit geraten war, die Tatsache, dass alle angefangen hatten, sich als allmählich gerinnende Ausflüsse aus dem Nichts zu entwickeln. Aufgrund der Vielzahl von Geschichten, die in seinem Buch auftauchten, hatte er vergessen, wovon sein Buch eigentlich handelte. Feuchte Wände war ein Buch über die Leere, ein Buch vom Nichts. Die Leere war Inhalt, Sinn und eigentlich auch Autor der Feuchten Wände. […], all die Figuren waren Worte, die die Leere äußerte, waren das Gemurmel des Nichts; Tomáš schrieb nieder und fragte nicht, was die Leere ihm damit sagen wollte. Tomáš’ Buch war ein Ausfluss der Leere, ein Lied vom Nichts. Dadurch unterschied es sich von allen Büchern, die er kannte; keines von ihnen handelte ausschließlich von der Leere und vom Nichts, auch wenn sich darin vielleicht die Wörter Leere oder Nichts auf jeder Seite fanden. Jedes dieser Bücher wollte etwas sagen; Tomáš bewunderte viele von ihnen, er beneidete die Autoren um ihre Begabung und die Unmenge von Ansichten und Gedanken, die sie alle hatten, aber er spürte, dass ihre Bücher in eine andere Welt gehörten und dass ihn eigentlich keines von ihnen besonders interessierte. Mit gewissem Stolz sagte er zu Kristýna, dass von allen Schriftstellern, die er kannte, er allein absolut nichts zu sagen habe.

Tomáš’ Unzufriedenheit hatte ihre Ursache darin, dass das von ihm verfasste Buch nicht mit seinem Sinn übereinstimmte, dass es die Leere abfälschte, die es ausdrücken wollte, der es seine Existenz verdankte und aus der es seine Kräfte schöpfte. Bücher, die von etwas handelten, konnten eine oder mehrere Geschichten erzählen, und das war auch in Ordnung so. Für ein Buch, das von nichts handelte, war das nicht in Ordnung, ein Buch über das Nichts konnte sich nicht mit ein paar Geschichten zufrieden geben. Das Nichts war so reich, dass es nur durch ein endloses Wuchern von Geschichten ausgedrückt werden konnte, durch eine niemals endende Kaskade von Handlungssträngen, in denen aus jedem Satz, jedem Raum und jeder Geste weitere Handlungsstränge hervorsprudeln und aus deren Räumen, Dingen und Gesten wieder neue. Tomáš fühlte, dass nicht einmal der gesamte Kosmos ausreichte, um das Nichts auszudrücken; zum Ausdrücken der Leere würde man eine unendliche Anzahl von Kosmen benötigen.

Tomáš’ Buch hatte seinen Ursprung im Hervorsprudeln des Nichts, aber irgendwie hatte es ihn mit der Zeit vergessen, es hatte sich vom Sprudeln der Leere abgetrennt, aus dem es hervorgegangen war, und hatte sich in sich selbst eingekapselt. Es wurde der Leere nicht gerecht, obwohl es ihr seine Existenz verdankte. Kristýnas Frage hatte Tomáš wieder an den Raum erinnert, der seine Geschichten umgab, den Raum der surrenden Leere, dem der Roman abtrünnig geworden war, womit er seinen wahren Sinn verschleiert hatte. Jetzt konnte Tomáš das Tosen aller im Leeren verborgenen Geschichten und Wörter plötzlich wieder hören. Und das Buch glitt sofort sanft zurück in den heimatlichen Raum der Leere, der ein endloses Wuchern von Geschichten war, deren Wörter einander übertönten und wie ein stilles Rauschen klangen. Als das geschah, nahm Tomáš eine Seite seines Romans in die Hand; augenblicklich erkannte er, dass das Buch wieder aufgelebt war, dass durch seine Lettern erneut der Leben spendende Strom des Nichts floss, der die ausgetrockneten Wörter durchtränkte und belebte.“

2. Das Diagramm

„Tomáš verspürte den Drang, alle neuen Geschichten aufzuschreiben, die begannen, aus dem wieder von der Leere durchdrungenen Roman hervorzusprießen, aber sofort unterdrückte er ihn wieder. Er wusste bereits, dass die Sehnsucht der Worte nach der Muttermilch der Leere nicht dadurch erfüllt werden konnte, dass er sich mit dem Schreiben eines endlosen Buchs erschöpfen würde und dass er alle Möglichkeiten einfangen könnte, die um die Geschichte herumschwirrten. Er war zwar nach wie vor davon überzeugt, dass dem Sinn des Buches treu zu bleiben, seinen Bezug zum Nichts zu reinigen, in seiner Geschichte die Leere aufscheinen zu lassen, die die Bilder zum Strahlen bringen würde, nur möglich sei, indem sich seine Handlung als Bestandteil eines unendlichen Wucherns von Bildern und Geschehen zeigte – doch ihm wurde klar, dass der Urwald aus wachsenden Bildern nur auf eine einzige Art und Weise im Buch anwesend sein konnte: durch sein stilles Rauschen, das die Buchstaben umgab, ein Rauschen, durch das er sich ins Bewusstsein bringen würde, ohne sich in Worte zu verwandeln oder zu Bildern heranzureifen.

Es war nötig zu zeigen, dass das Buch nicht allein dastand, dass es – genau wie all seine Teile, Geschichten, Bilder, Wörter und Buchstaben – Bestandteil eines unendlichen Netzes war, einer großen Galaxie aus Bildern, von denen einige ganz in der Nähe waren, andere unermesslich weit weg, wieder andere sogar im Innern, in den Welten ihres Innenlebens. Das waren Bilder, mit denen es durch Tausende Goldfäden verbunden war, die durch jedes Wort, jede Silbe, jeden Buchstaben verliefen; diese aus der aufgeplatzten Leere herauswachsenden Fäden durchflochten die ganze Welt mit erstaunlichen Zusammenhängen, oder eher: sie selbst flochten das Gewebe der Welt. Er sah, dass jedes Bild, jedes Wort und jeder Buchstabe des Buches ein Licht verstrahlte, das ein Abglanz der Strahlung aller sich formenden, geborenen, untergehenden und verschwundenen Wörter und Bilder war, die im Universum der Veränderungen kreisten. Eine Galaxie aus Bildern war unmöglich darzustellen, ein Werk ließ sich nur so in sie eingliedern, dass aus dem Nebel, der sich um das Buch herum ausbreitete und der der Mutterstoff aller Bilder war, einige wenige Werke erstanden, die gemeinsam mit dem ursprünglichen Buch ein Gestirn bildeten. Solch eine Verbindung würde verhindern, dass sich ein Buch in sich selbst verschloss, würde nicht zulassen, dass sich seine Verankerung im fruchtbaren Nichts lockerte, würde seine innere Unruhe aufrecht erhalten und sicherstellen, das sein Leben nicht verlosch; dieses würde dank der Tatsache, dass alle Sätze des Buches vom Mutter-Nichts durchweicht blieben, Bestand haben. Und jene Werke, die das Buch umgaben, würden gleichzeitig über sich selbst hinaus weiter in den Kosmos der Möglichkeiten verweisen, eine angerissene Linie von Zusammenhängen mit nicht entstandenen Bildern und nicht geschaffenen Werken, deren Lichtmaterie allerdings bereits wirkte und Anteil an der gegenwärtigen Geburt der Worte hatte.

Tomáš war auch sofort klar, dass die Werke, die er aus seinem Roman emporwachsen ließ, zu verschiedenen Genres gehören sollten: Der Reichtum des Nichts konnte sich nicht mit nur einer Form zufrieden geben. Sorgfältig betrachtete er alles, was aus seinem erneut vom Nichts befruchteten Werk herauszusprießen begann; vorläufig gab er die größten Chancen der Geschichte des Mannes und der Frau, die sich auf einem schwebenden Sitz hoch oben in der Lesehalle des Mausoleums von Fernando Vieta begegnen, dessen Buch aus Draht an den Wänden dort befestigt war (dies könnte eine Novelle werden, sagte er zu Kristýna), der Sammlung von Prosagedichten, die Henriette Fox alias Vulpécula verfasst hatte, und dem Ausstellungskatalog zu Leos Gemälden im Palacio de Bellas Artes in Mexiko-Stadt; er dachte daran, dass auch jener Roman ein Teil des Gestirns werden könnte, den Leo in einer Buchhandlung in Mexiko-Stadt entdeckt hatte und dessen Autorinnen Vanessa und Kate waren. Er sagte sich, dass er die Bilder und Handlungsskizzen vorerst noch heranreifen lassen und sie anschließend durchgehen und die am weitesten gereiften von ihnen ernten würde.

So begann das Netz-Werk das Licht der Welt zu erblicken. Auch wenn es Tomáš ganz gut gelang, das Wuchern der Bilder und Geschehen zu dämpfen, war doch das neue Wachstum des Buchs nach wie vor ziemlich unübersichtlich und Tomáš passierte es oft, dass er sich in neuen Handlungslinien, die sich auf alle erdenkliche Weise kreuzten und aneinander vorbeiliefen, verirrte. Er erzählte Kristýna, dass er versucht hatte, diese Schwierigkeit zu lösen, indem er sie als Schema auf ein Stück Papier gezeichnet und es sich ans Buchregal geheftet hatte; bald jedoch hatte sich herausgestellt, dass ihm ein zweidimensionales Bild in dem komplizierten Netz aus Bezügen nicht recht weiterhalf. Dann war ihm Fernando Vieta und sein Buch aus Draht eingefallen und er hatte sich gesagt, dass er auch zu diesem Hilfsmittel greifen könnte; in einer Eisenwarenhandlung hatte er sich dünnen, mit weißem Plastik isolierten Messingdraht und eine Kneifzange gekauft und ein dreidimensionales Schema des Buches geschaffen. Und nun nahm Tomáš die Drahtkonstruktion vom Tisch und reichte sie Kristýna. ‚Ich nenne es Diagramm‘, verkündete er. Verblüfft drehte Kristýna das Ding, das sie in der Hand hielt, hin und her; es erinnerte an das Modell eines eigenartigen Baumes, dessen Äste sich nicht nur immer weiter verzweigten, sondern sich auch kreuzten, wieder zusammenwuchsen oder in den Hauptstamm zurückkehrten.

Während Kristýna das Drahtgebilde betrachtete, erläuterte Tomáš, dass das Netz-Werk vor einigen Tagen noch eine wichtige Wandlung durchlaufen hatte. Als er den Katalog zu Leos Ausstellung geschrieben hatte, hatte er sich gefragt, warum er eigentlich über Leos imaginäre Bilder schrieb, wenn er sie doch auch gleich selber malen könnte. Und er hatte gespürt, dass das mehr als nur ein kurioser Einfall, eine bizarre Laune war: Um den Reichtum des Nichts auszudrücken, reichte die Vielzahl unterschiedlicher literarischer Genres nicht aus, es war nötig, dass das Netz Werke verschiedener Kunstgattungen umfasste. Und so kaufte Tomáš sich farbige Kreide und begann, jenes Pastell zu schaffen, das Leo in der Cantina gegenüber seinem Hotel gemalt und welches Tomáš in seinem Buch beschrieben hatte. Als das Bild fertig war, signierte er es unten mit Leos Namen.“

3. Das Netz-Werk

„Tomáš nahm ein Blatt Papier vom Tisch und las der überraschten Kristýna eine Aufstellung von Werken vor, die die Bestandteile des Netz-Werks bilden sollten:

1. der Roman von Vanessa und Kate Das Wolkenschiff

2. die Gedichtsammlung von Henriette Fox Der verlassene Platz

3. der Comic über die Abenteuer von Vulpécula

4. Leos im Palacio de Bellas Artes ausgestellte Gemälde

5. eine Sammlung lygdischer Mythen

6. ein Kapitel aus der lygdischen Grammatik über die Substantivdeklination

7. das Ballett Kritik der reinen Vernunft, zu dessen Premiere Leo für Vanessa jenes verräterische Kleid entworfen hatte

8. Sylvas Skizzierblock, den sie im Krankenhaus Hector gezeigt hatte

9. die Zerrissenen Sonette, jene Novelle über die Begegnung auf dem Sitz im Mausoleum; er betonte, dass er sie möglicherweise zu einem Theaterstück oder einer Oper umarbeiten würde.

Und Tomáš begann sogar eine Melodie vor sich hinzubrummen, vielleicht eine Arie aus einer im Entstehen begriffenen Oper. Während er sprach, hatte ihn Kristýna die ganze Zeit wortlos angestarrt. Seine Ausführungen über das Nichts, über goldene Fäden und das Netz überzeugten sie nicht recht, sie befürchtete, dass Tomáš’ komplizierte Erläuterungen tatsächlich nur eins zu bedeuten hatten: dass seine Kinderkrankheit zurückgekommen war, die in der Unfähigkeit bestanden hatte, auch nur eine einzige Möglichkeit aufzugeben im Drang danach, sie alle zu besitzen; sie hatte Angst, dass Tomáš trotz des Diagramms wieder im Dschungel der Möglichkeiten, der sich vor ihm auftat, umherirren würde, sie fürchtete, dass die wilde Vegetation dieses heimtückischen Urwaldes und die unbekannten wilden Tiere, die darin lebten, auch das wieder vernichten würden, was er bereits geschaffen hatte. Und sie spürte, wie in ihr Zorn aufstieg; zum ersten Mal, seit sie Tomáš kannte, wurde sie sauer auf ihn. Noch konnte sie sich beherrschen und sagte Tomáš, er möge sich alles gut überlegen, ihrer Meinung nach hätten die Feuchten Wände überhaupt keine Ergänzungen nötig; sie gab zu bedenken, dass es wahrscheinlich sehr lange dauern würde, ehe er alles, was er geplant hatte, auch fertig geschrieben, gemalt und komponiert hätte. Tomáš sagte, dass er darüber bereits nachgedacht hätte und davon ausginge, das Netz-Werk innerhalb von fünf Jahren fertigzustellen. Und er fügte hinzu, dass das Werk natürlich als Ganzes erscheinen müsse; er hätte bereits beim Verlag angerufen und darum gebeten, die Veröffentlichung der Feuchten Wände so lange auszusetzen, bis es fertig sei. Als Tomáš sah, wie wütend Kristýna durch seine Worte geworden war, beruhigte er sie: Marcel Proust hätte mit der Veröffentlichung der Suche nach der verlorenen Zeit ebenfalls auf den Augenblick gewartet, da er die letzte Zeile des letzten Teils vollenden würde.

In diesem Moment war Kristýna mit ihrer Geduld am Ende und tat etwas, das ich mir nur schwer vorstellen kann, denn Kristýna ist das zurückhaltendste Mädchen, das ich kenne. Aber nach Tomáš’ Ansprache erhob sie sich ohne ein Wort vom Sofa und öffnete das Fenster – dabei bauschten sich die Vorhänge auf wie weiße Flügel, Schnee wehte ihr in die Augen und die Blätter, die auf dem Tisch lagen, flogen durchs Zimmer –, sie holte ordentlich aus und warf das Diagramm in den Innenhof, so weit sie nur konnte. Dann schloss sie das Fenster und begann Tomáš anzuschreien, er komme ihr vor wie ein Drogensüchtiger, der nach dem erfolgreichen Absolvieren einer langjährigen Entziehungskur wieder anfängt, mit Drogen zu experimentieren, und dabei behauptet, sie könne ihm nichts mehr anhaben. Tomáš konnte sich zu keiner Antwort durchringen, eine Weile lang stotterte er etwas und wurde dann still. Kristýna hatte sich wieder ein wenig beruhigt, sie ging nach draußen und sah sich nach Tomáš’ Spielzeug um. Sie sah, dass es in eine Wehe aus zusammengefegtem Schnee gefallen war, aus dem Schnee ragte eine Stelle heraus, an der sich mehrere weiße Drähte vereinigten. Sie hob das Diagramm auf und schaute es sich an, dann hob sie den Kopf und betrachtete das Viereck aus grauem Himmel zwischen den grauen Wänden mit den schmalen schwarzen Fensterlöchern und den verschneiten Simsen, große Flocken schwebten herab, der Draht, an dem der Schnee klebte, wurde kalt in ihrer Hand. Sie hatte sich damit abgefunden, dass sich Tomáš auf eine riskante Reise begab, die wer weiß wie ausgehen würde. Aber vielleicht war es solch ein Risiko wert, vielleicht würde er sich nicht im Dschungel verirren und es gelänge ihm, etwas Neues zu schaffen. Sie ging wieder hinein, Tomáš stand immer noch wie versteinert am selben Fleck, wie eine Figur aus einer schlechten Komödie, die Verblüffung ausdrücken soll. Kristýna legte das Diagramm wieder auf den Tisch – der Schnee daran taute schnell und es tropfte auf ein vollgeschriebenes Blatt Papier – und begann sich mit Tomáš über seine neuen Pläne zu unterhalten, als wäre überhaupt nichts passiert …

Tomáš stürzte sich in die Arbeit an allen neun aus der ultravioletten Strahlung der Feuchten Wände geborenen Teilen gleichzeitig; und drei Monate später verließ er Kristýna. Er rief sie nicht einmal an, sie bekam von ihm lediglich einen Brief, in dem stand, er habe sich in eine andere Frau verliebt. Kristýna erfuhr nicht einmal ihren Namen, er verriet über sie nur, dass sie Bildhauerin sei, und bat Kristýna, nicht mehr zu ihm zu kommen und ihm zu verzeihen. […]

Für Kristýna brach damals eine Welt zusammen. Sie hat Tomáš nie wieder getroffen; sie machte einen Bogen um die Straßenbahn-Endhaltestelle, das gläserne Türmchen dort, in dem Tomáš als Dispatcher gearbeitet hatte, hat sie seitdem nicht wieder gesehen, zumal sie kurze Zeit später mit ihren Eltern nach Letná umzog. Im Herbst kam dann die Nachricht, dass man Tomáš’ Körper mit dreizehn tiefen Dolchstichen im Meer an der türkischen Küste gefunden hatte. Und im Frühling des darauf folgenden Jahres hatte Kristýna an einer Mauer das Plakat gesehen, das Tomáš’ Ballett Kritik der reinen Vernunft ankündigte, einen Teil des verlorenen Gestirns, in der Version des Ensembles Flamingo. Tomáš hatte an dem Ballett gearbeitet, kurz bevor er Kristýna verlassen hatte; er war sich seiner kompositorischen Fähigkeiten nicht allzu sicher gewesen und hatte zu Kristýna gesagt, er beabsichtige, das Werk einem entfernten Onkel, der Komponist war, zur Beurteilung vorzulegen; von dem wiederum waren höchstwahrscheinlich Libretto und Partitur des Balletts an das Ensemble Flamingo gegangen. Kristýna hatte mehrere Vorstellungen besucht; bei der letzten war sie Zeugin des Mordes an Tomáš’ Stiefbruder geworden.“

Zweiter Teil

Städte und Züge

Die Erzählung von der Reise nach Gavdos

6. Gavdos

„Nehmen Sie mir’s nicht übel“, sagte ich, „aber das, was ich heute von Ihnen gehört habe, würde ich so zusammenfassen, dass Sie einen unerhörten Schatz gefunden haben und dass Sie Schiffbruch erlitten haben, dass Sie sich mit dem Wichtigsten im Leben beschäftigt haben und dass Sie Zeit vergeudet haben mit dem Spielen oberflächlicher Spiele, dass Sie zu einer wichtigen Erkenntnis gekommen sind und dass Sie über nichts irgendetwas wissen, dass Sie Kristýna verraten haben und dass Sie auf dem besten Wege sind, sich ihr anzunähern und ihr zu helfen, dass Sie zufrieden Ihren Urlaub am warmen Meer genießen und dass Sie von absoluter Zerrüttung gebeutelt sind.“

Martin dachte einen Moment nach und dann sagte er: „Ja, das ist ziemlich genau. Aber meine Reise ist noch nicht zu Ende und so allerlei kann sich noch ändern.“

Erstaunt sah ich ihn an. Wo wollte er noch hin?

„Sie wissen doch, dass diese Reise begonnen hat als Reise dem Geheimnis des Todes zweier Brüder hinterher, doch dann hat sie sich zu einer Reise in den Süden verwandelt. Also muss das Begonnene zu Ende gebracht werden, darüber haben wir schon gesprochen, und ich habe Ihnen dazu sogar Aristoteles zitiert. Es ist nötig weiterzureisen, es ist noch genug Zeit zum Nachdenken und für weitere Verwandlungen. Kristýna hat mich angerufen, morgen kommt sie, und dann werden wir weiter nach Süden fahren.“

Und er machte eine Handbewegung in Richtung des Horizonts überm Meer. Das begriff ich anfänglich so, dass er an Afrika auf der anderen Seite dachte, also bemerkte ich lediglich: „Libyen ist nicht in der EU, und soweit ich weiß, haben Sie kein Visum.“

„So weit will ich gar nicht. Vielleicht komme ich irgendwann einmal nach Afrika, aber diese Reise jetzt ist eine Reise durch Europa, europäische Städte haben sich uns gegenseitig weitergereicht, immer weiter in Richtung Süden, und der Süden ist der Ort, wo man darüber nachdenken muss, was uns diese Städte unterwegs mitgeteilt haben.“

Und mir wurde klar, dass Martin auf die Insel gezeigt hatte, die im grellen Dunst verschwommen am Horizont zu sehen war. „Wollen Sie nach Gavdos?“, fragte ich.

Martin nickte. „Kap Tripiti auf Gavdos ist der südlichste Punkt Europas – 34 Grad 48 Minuten 2 Sekunden nördliche Breite, heute früh habe ich mir das im Internet angeguckt. Wo sonst sollte eine Reise in den Süden enden? Gavdos wird die zehnte und letzte Station unserer Reise – nach Bratislava, Budapest, Ljubljana, Pula, San Benedetto, Rom, Mykonos, Chania und Loutro.“

„Und auf Gavdos werden Sie herausfinden, wozu ihre ganze Reise war?“

„Das werden wir sehen. Vielleicht ja, vielleicht wird dort in einem Kessel aus Gefühlen und Gedanken etwas gekocht; es ist auch möglich, dass dort alles endgültig auseinanderbricht. Oder ich werde dort Gleichgültigkeit finden, alles wird mir egal sein; das wäre auch nicht schlecht. Oder es stellt sich heraus, dass die Frage selbst schon die Antwort war und der Zustand, in dem alles auseinanderbricht, ist die schönste Harmonie. Und vielleicht erwarten mich auf Gavdos nur ein paar Tage angenehmer Urlaub, hier sind ja doch immer noch ziemlich viele Leute … Vielleicht werde ich dort verstehen, was Kristýna für mich bedeutet hat, vielleicht höre ich auf, an sie zu denken … Aber ich glaube, dass ich eigentlich weiß, auf was ich am Ende der Reise treffen werde. Soll das ruhig sein, was es ist, es wird höchstwahrscheinlich irgendeine Form der Leere sein, jener Leere, die Tomáš Kantor an jenem Wintervormittag erschienen war, als er begonnen hatte, die Feuchten Wände zu schreiben, und aus der sein Werk und dann auch sein Tod hervorgegangen waren.“

„Also haben Sie eine so lange Reise unternommen, um am Ende auf nichts zu treffen?“

„Genau. Das ist doch ein ganz gutes Reiseziel, finden Sie nicht?“

Nach einem Moment des Schweigens sah ich, dass Martin noch etwas sagen wollte, wahrscheinlich wollte er auch noch das in Frage stellen, was er zuletzt gesagt hatte, so wie er an jenem Tag nach und nach alle seine Behauptungen über die Reise in Frage stellte, aber dann kam es ihm wohl sinnlos und peinlich vor, andauernd sein Nichtwissen und seine Verwirrung vorzuführen, und so winkte er nur ab und schwieg weiter. Auch ich sagte nichts mehr, wir zwei tranken noch ein paar Gläschen Ouzo, dann verabschiedete sich Martin mit einem Kopfnicken, wie das so seine Angewohnheit war, und verschwand. […]

 

© Übersetzung aus dem Tschechischen: Mirko Kraetsch, 2011