Irena Dousková

Die weißen Elefanten

2008 | Druhé město

Das Glück

Jirka saß hinter den Garagen auf dem Boden, der Beton war unangenehm kühl am Hintern. Zwar war die zweite Augusthälfte fast schon vorbei, aber die Ecke hier lag im Schatten. Außerdem hatte es die letzten drei Tage geregnet und es würde noch eine Weile dauern, bis sich alles wieder aufgewärmt hätte. Ihm blieb aber keine Wahl, wollte er nicht allzu sehr im Schussfeld sitzen, und hier konnte man ihn wenigstens nicht direkt vom Fenster aus sehen. Es waren drei Garagen, seitlich an den Wohnblock drangeklebt. Zwischen den Betonstreifen der Einfahrten wuchs kümmerliches Gras. Gedankenlos zupfte Jirka daran herum und immer wieder versuchte er, sich die Halme um die Finger zu wickeln. Erfolglos, sie waren zu kurz.

Die Nováková könnte ihn vielleicht sehen, die wohnt im zweiten Stock, aber da müsste sie sich schon weit aus dem Fenster lehnen. Und um die Nováková ging es schließlich auch gar nicht. Er wollte nicht, dass seine Eltern ihn sehen und vor allem nicht die Kynštekrová. Die hatte jetzt vom Erdgeschoss aus keine Chance. Die kann höchstens die Wäscheleine, den Sandkasten und das Haus gegenüber sehen. Und wenn sie ihm nicht gleich hinterhergerannt ist, dann wird jetzt wahrscheinlich auch nichts mehr passieren. Er allerdings hatte geglaubt, dass sie ihn jagen würde, sie hatte so schrecklich gemeckert. Ungefähr zehnmal hatte er sich umgesehen. Aber passiert war nichts. Er hatte sich also einfach nur hinterm Haus versteckt, bei den Garagen.

Die Sau, dachte er bei sich. Die kann mich nicht leiden, die fette Sau. Ansonsten würde die wegen einem Kohlrabi nicht so einen Aufstand machen. Keiner kann ihn leiden. Seine Lehrerin hatte ihn gleich am Anfang des Schuljahrs vertrimmt, als sie neu in ihre Klasse gekommen war. Er hat inzwischen vergessen, warum eigentlich. Seiner Meinung nach war das aber nichts so Schlimmes gewesen, dass sie ihn hätte schlagen müssen. Wahrscheinlich hatte er gelacht oder so. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Dafür wusste er noch genau, mit was für einer Wucht sie auf ihn eingehauen hatte. Wie verrückt geworden hatte sie ihn verdroschen. Als hätte er etwa zu ihr gesagt, dass sie eine blöde Kuh ist. Das ist sie auch, aber das hat er nicht zu ihr gesagt, bestimmt nicht. Vielleicht hatte er es seinem Banknachbarn Mirek zugeflüstert, dass konnte er nicht komplett ausschließen. Trotzdem – ihre Schuld! Wenn sie nicht so eine blöde Kuh wäre, würde das auch keiner zu ihr sagen. Eine blöde Kuh mit Raffzähnen. Ein Eichhörnchen, aber ein ekliges. Sie spricht furchtbar leise, man kann überhaupt nichts verstehen, und dann wundert sie sich, dass keiner aufpasst. Lauter kann sie nicht, außer wenn sie sich aufregt, und dann quiekt sie ganz widerlich. Dazwischen gibt es nichts.

Er blies seine Wangen auf und schob den Oberkiefer nach vorn. „Pffff…“, machte er. Und noch einmal: „Pffff…“ So redet das Eichhörnchen. Ganz genau so. Er musste lachen. Dann hob er den Kopf und sah, dass ihn das Mädchen aus dem Nebeneingang anguckt. Die mit dem idiotischen Namen. Kamila. Kamila Papadoulis. Leider hat sie ihn wahrscheinlich gesehen, als er die Backen aufgepustet hat.

„Was glotzt’n so?“, rief er ihr zu. „Glotz nicht so doof. Was is’n?“

Sie sagte gar nichts und ging weiter.

„Brillenschlange! Pappendeckel! Pappendeckel!“, rief er ihr noch hinterher. Was muss die auch so glotzen? Wahrscheinlich hat sie’s gar nicht mehr gehört, oder sie tat nur so, als hätte sie’s nicht gehört. Aber es stimmt doch. Die soll sich mal nichts einbilden. Er kann die überhaupt nicht leiden. Die ist total hässlich mit ihrer eckigen Hornbrille mit den dicken Gläsern. Und außerdem hat sie Sommersprossen. Als hätten sie die Fliegen vollgeschissen. Genau, musste er lachen, ganz genau. Ausgerechnet die mit ihren Fliegenschissen muss ihn anglotzen. Er hat überhaupt keine Sommersprossen, nicht eine einzige. Und eine Brille auch nicht. Gerade heute früh, nachdem ihm sein Vater eine runtergehaun hatte, da hatte er sich im Bad ziemlich lange im Spiegel angeschaut, hatte sich kaltes Wasser übers Gesicht laufen lassen und dann geguckt. Dabei musste er wieder an seine Lehrerin, die blöde Kuh, denken. Und auch an seine Großmutter.

„Heul nicht!“, sagt sie immer, wenn ihn sein Vater schlägt. „Was heulst’n rum? Du sollst eben hören!“

Hört er etwa nicht? Aber seinen Vater kotzt er trotzdem an. Und seine Großmutter wahrscheinlich auch und seine Lehrerin …

Danach hatte sie ihn nie wieder verdroschen. Sie hatte ihn damals in die Direktion geschleppt und sich über ihn beschwert. Die Direktorin hatte was zu ihr gesagt, irgendwas über seinen Vater. Er hatte gehört, wie sie „Funktionär“ sagte und irgendwas vom Rat der Gemeinde und so. Danach hatte sie ihn nie wieder angerührt, aber er sieht genau, wie sie ihn immer anguckt. Wie eine Kanalratte. Sein Vater guckt ihn auch so an.

Im Spiegel war nichts zu sehen gewesen. Keine Brille, keine Raffzähne und überhaupt keine Sommersprossen. Nur der Rotzefaden. Den hat er oft da hängen, das muss er zugeben. Da kann er sich noch so viel die Nase putzen und abwischen. Vielleicht kommt das davon. Aber er gibt sich Mühe, dass kann keiner bestreiten. Er hörte, wie im Erdgeschoss ein Fenster aufflog.

„Karel! Ivana! Kaffeetrinken!“

Die Kynštekrová. Alles in ihm krampfte sich zusammen. Vielleicht geht er doch lieber weg. Er könnte nach Hause zurück, aber er hatte keine Lust. Was sollte er dort? Er wartete, bis sie das Fenster zugemacht hatte, und schlich am Haus entlang. Er ging in Richtung Konsum und dann raus aus dem Dorf in Richtung Zdice. Na ja, dachte er bei sich, warum soll sie ihm auch hinterherrennen? Die geht das einfach sagen, und aus. Da muss sie sich nicht anstrengen. Vielleicht hat sie’s ja auch schon gesagt. Vielleicht hat sie schon längst bei seiner Mutter geklingelt. Während er sich ganz umsonst bei den Garagen versteckt hat. Bestimmt hat sie das gemacht. Oder sie wartet ab, bis sein Vater zurückkommt, die Sau. Er könnte ihm entgegengehen, wo er nun schon bis hierher zur Kirschplantage gegangen war. Sein Vater kommt heute mit dem Zug und von Zdice aus geht er zu Fuß. Der Škoda ist kaputt, er hat ihn zum alten Zach zur Reparatur gebracht. Er könnte ihm entgegengehen und es ihm selber sagen. Dass er den Kohlrabi gar nicht abreißen wollte, dass er nur gucken wollte, und dass er ihn erst dann abgerissen hat, weil er einen Schreck gekriegt hat, als sie ihn so angebrüllt hat. Er wird ihm sowieso nicht glauben, er wird ihm sowieso eine runterhaun, aber er könnte es ja vielleicht versuchen. Und wenn, dann ist das wenigstens gegessen. So sehr tut das nun auch wieder nicht weh. Und vielleicht könnten sie danach baden fahren, wenn die Wut von seinem Vater verraucht ist. Na ja, wohl eher nicht, das Auto ist ja beim Zach. Und sein Vater würde sowieso bestimmt nicht wollen, der will fast nie. Er hätte auf den Kohlrabi scheißen sollen. Er hat ihn ja schließlich doch liegen gelassen. Sollen die ihn doch selber fressen.

„Klauen, was? Das könnte dir so passen, du Mistkröte. Ganz genau, das könnt ihr! Das könnte euch so gefallen“, hatte sie auf ihn eingeschrien. Er hatte keine Ahnung, warum sie ihn in der Mehrzahl angesprochen hat.

Er wollte den Kohlrabi seiner Mutter schenken. Er hatte sich vorgestellt, wie er ihn in der Küche auf den Tisch legt. Nur so, ohne ein Wort. Einfach so eben. Er würde nichts sagen, aber seine Mutter vielleicht. Oder auch nicht, nur anlächeln würde sie ihn. Allerdings hat er’s versaut, so wie immer. Ihre beiden Bälger schreit die Kynštekrová nie an. Dabei sind die dick und haben rote Haare, so wie sie selber. Das mit seiner Mutter wird er seinem Vater nicht erzählen. Und er geht jetzt nach Hause, warum soll er ihm entgegengehen? Vielleicht ist er am Ende gar nicht mit dem Zug gefahren. Die würden nur wieder sagen, dass er sich irgendwo rumtreibt, wo er nicht darf.

Vom Hügel aus ging er wieder nach unten. Ab und zu grub er seine Fingernägel ins Baumharz. In der Plantage wuchsen fast nur Süßkirschen. Und mit denen war’s Ende August schon vorbei. Er sprang über den Graben, und kaum war er mit beiden Beinen auf dem Asphalt gelandet, da sah er das fantastische Motorrad vom Kynštekr, das gerade hinter einem Hügel auftauchte. Die vorabendliche Sonne machte durch das Plexiglas-Windschild aus dem Schornsteinfeger einen klasse himmlischen Reiter. Jirka Podzimek blieb wie vom Donner gerührt stehen. Also haben sie ihn jetzt doch! Petzen reicht denen nicht, ach wo, wie auch! Der wunderbare Anblick war aber stärker als der Schrecken.

Franta Kynštekr bremste direkt vor Jirka elegant ab. Und jetzt erst sah er es, und es war schlimmer als erwartet: Hinterm Kynštekr saß sein Vater. Der Schornsteinfeger setzte seine Füße auf den Boden.

„Ahoj“, sagte er, „ich bring dir deinen Vater. Ich war auch gerade in Zdice.“

„Ich wollte den Kohlrabi nicht klauen“, beeilte sich Jirka, „ich wollte ihn mir nur angucken, wie groß er ist und … Aber die Frau Kynštekrová hat mich gesehen und ich bin erschrocken und …“

Seinen Vater schaute er lieber gar nicht an.

„Wird Zeit, dass die Schule wieder losgeht, was? Ihr wisst vor lauter Flausen gar nicht mehr …, meine auch. Langeweile, was?“, lachte der Schornsteinfeger und seine Zähne blitzten weiß in seinem verschmierten Gesicht.

Jirka zuckte nur mit den Schultern, etwas zu sagen traute er sich nicht. Sein Vater stieg eilig ab.

„Dank dir, Franta, ich geh mit dem Kleinen den Rest zu Fuß.“

„Keine Ursache. Du, Kleiner, am Sonnabend ist in Zdice das Feuerwehrfest. Wie wär’s wenn ich dich da mit hinnehme? Ich meine, mit dem Motorrad. Meine sind nicht da, die fahren mit der Máňa zur Oma. Also, was denkst du, willst du mit?“

„Ja, gerne“, hauchte Jirka. Er brachte nicht einmal ein Dankeschön heraus.

„Also, abgemacht“, grinste der Schornsteinfeger noch einmal und dann trat er auf den Gashebel.

„Dir werd ich’s zeigen, von wegen Langeweile! Pass nur auf, von wegen Kohlrabi klauen oder was, du Lauser, du! Muss ich mich denn ewig so für dich schämen, hä?“

Die Ohrfeigen jetzt waren viel schlimmer als die beim Frühstück. Der Rotz flog nach allen Seiten davon. Mit dem Motorrad! Fasziniert malte er sich das aus. Mit dem Schornsteinfeger, nach Zdice, mit dem Motorrad … Heute morgen hätte er nie gedacht, dass dieser Tag so prima enden könnte.

Die Liebe

[…]

Der Weg durch den Wald war kürzer. Kürzer und auch schöner. Warum sollte sie denn Angst haben? Das Gras war erfüllt vom Summen lechzender Insekten. Als würde sich kein bisschen der Herbst nähern. Zwischen den Fichten knackte es trocken und unter den Füßen auch. Aber oben in der Biegung des Weges war von vorvorgestern eine riesige Pfütze übrig geblieben, sogar mit Teichläufern. Mit abgehackten Bewegungen glitten sie hin und her. Kamila Papadoulis kniete sich daneben. Auf der Wasseroberfläche zitterte undeutlich ihre Brille und darüber die rötlichen Haare von Oma Lopatková. Verdrießlich erhob sie sich. Georgios Papadoulis hatte auf dem Foto schwarze und dicke Haare, außerdem dichte Augenbrauen. Allerdings war Herr Papadoulis zurück in Griechenland. Angeblich. Herr Papadoulis stand momentan nicht zur Verfügung, wie die Oma immer sagt. Kamila konnte sich nicht erinnern, dass er es je gewesen wäre.

Kaum hatte sie den höchsten Punkt erreicht, sah sie in der Ferne vor sich die Türme von beiden Kirchen. Nur noch ein Stückchen durch den Wald, dann geht der Weg durch die Kirschplantage hinunter, am Transformator vorbei, über die Landstraße und zum Schluss durch die Felder bis ins Dorf. Sie würde bald da sein, Zeit war genug. Sie stieg auf einen Hochsitz, das hätte sie mit der Oma nicht gedurft. Es war ganz einfach, fast tat es ihr leid, dass niemand sie sehen konnte. Sie hingegen sah jetzt alles: einzelne Häuser, die Wohnblöcke und kleine Gebäude, einen Traktor auf dem Feld vor dem Dorf und zwei Autos auf der Landstraße von Křižatky. Sie bemerkte auch das Motorrad, das an einem Feldweg unter Kiefern geparkt war, mit der Schnauze im Gebüsch, aber die Sonne fand trotzdem das Windschild aus Plexiglas. Für einen Moment dachte sie, das Motorrad vom Kynštekr brennt.

Im hohen Gras zwischen den jungen Bäumchen bewegte sich zwischen weißen, in die Breite gestreckten Beinen ein großer, behaarter Hintern, völlig nackt. Kamila Papadoulis schloss schnell die Augen und hielt sich blind am Holzboden fest. Als sie sie wieder aufmachte, stand der Schornsteinfeger bereits und machte sich die Hose zu, während Frau Podzimková noch im Gras leuchtete.

„Steh auf, Schatz“, reichte er ihr die Hand.

Kamila beobachtete, wie das Motorrad durch die Kirschplantage hoppelte und wie unten am Transformator Frau Podzimková wieder absprang. Der Schornsteinfeger fuhr dann alleine weiter die Landstraße entlang. Erst danach stieg sie wieder vom Hochsitz. So lange hatte sie sich aufgehalten! Die Oma wird böse sein. Durstig kaute sie auf einem Sauerampferblatt herum. Zu meiner Mama hat der letztes Jahr auch „Schatz“ gesagt. Damals war sie mit ihr sogar dreimal im Freibad, zweimal im Zoo und einmal bei Špejbl und Hurvínek. Aber das ist schon lange her.

Sie trat aus dem Wald. Die Sonne hörte langsam auf zu brennen.

[…]

Die Puppe

Máňa Kynštekrová öffnete das Küchenfenster, dann das im Wohnzimmer und dann ging sie sich für draußen umziehen. Das war einfach: Statt der geblümten Kittelschürze von gestern zog sie das karierte Kleid an, auch ohne Arm und auch zum Knöpfen, aber immerhin doch ein Kleid. Das halbe Dorf wird da sein, alle Frauen. Das Wohnzimmer ließ sie, wie es war, und das Fenster in der Küche machte sie wieder zu. Lieber zog sie auch die Gardine vor. Bis neun war es noch eine Viertelstunde, aber in der Küche war schon wieder eine Hitze. Es wollte und wollte nicht abkühlen. Aus dem Augenwinkel sah sie die Podzimková mit einem Korb voll Wäsche. Eh die das alles aufgehängt hat, bleibt für die ’n Scheißdreck übrig. Vielleicht kriegen die ja was von woanders. Obwohl …, dass sich ausgerechnet der Podzimek um so was kümmern sollte?

Sie knallte die Tür zu, schmiss den Schlüssel in den Einkaufsbeutel und schlüpfte im Treppenhaus in ihre Clogs. Das tut gut, dachte sie bei sich, da muss man sich nicht bücken. Geschmeidig war sie schon noch, keine Frage, aber warum soll man sich unnötige Falten quetschen? Seit sie die Kinder hat, sind es mehr geworden. Dem Franta macht das zum Glück nichts aus. Dem gefällt das. Zufrieden lächelte sie. In manchen Sachen haben sie eben doch Glück. Die Lopatková, die hat doch neulich mal gesagt, dass der Podzimek nicht so scharf auf Fleisch ist. Worauf ist der aber überhaupt scharf, wenn man mal von den ganzen Versammlungen, Ansprachen und seinen ruhmvollen Funktionen absieht? Höchstens, dass er einem mit der Hausordnung auf den Geist geht, damit nicht zufällig durcheinanderkommt, wer aus dem Block wann mit Saubermachen dran ist, damit um Gottes Willen keiner vielleicht mal aussetzt. Damit der Ölsockel im Treppenhaus glänzt wie die Eier von ’nem Köter … Na ich bin vielleicht ordinär, musste sie laut lachen. Der Franta findet das gut.

Auf dem Hof zwischen den Wohnblocks kroch Eva Podzimková unter den Wäscheleinen herum. Schwerfällig bückte sie sich nach den Hemden und Unterhosen, sie zog sie angewidert aus dem Wäschekorb wie frisch geschossene Hasen. Als würde jedes von den Dederonhemden einen Zentner wiegen und sie mit diesem schrecklichen Gewicht am Boden festnageln. Es schien, als nehme sie nichts anderes wahr. Für Máňa war es überhaupt kein Problem, sich bis ganz dicht hinter ihren Rücken heranzuschleichen.

„Gib’s zu!“, schnauzte sie Eva an, „du kannst ihn nicht mehr leiden.“

Die Podzimková zuckte zusammen. Aus dem blassen Gesicht verschwand auch noch der letzte Hauch von Farbe.

„Keiner kann den leiden“, sagte sie ohne zu lächeln.

„Ach komm! Das war doch nur ’n Witz.“

„Klar doch, ich weiß. Meins auch.“

Eine seltsame Gestalt. Große Brüste, aber überhaupt keine Taille, auch keinen Arsch und Humor erst recht nicht. Na ja, das gehört zwar nicht hierher, aber trotzdem …

„Gehst du Fleisch holen? Der Schlachter kommt gleich.“

„Ja, ja, sicher doch.“

Sie wollte sich nicht mit ihr unterhalten, das war klar. Fast, als hätte sie einen Schreck gekriegt.

„Soll ich dir einen Platz freihalten?“, versuchte sie es noch einmal.

„Brauchst du nicht, danke. Mein Kleiner ist schon dort. Ich mach das hier fertig, und dann komme ich.“

„Na dann. Der Karel und die Ivana, die sind auch schon drüben. Also, Glück auf.“

Hauptsache, ich seh’ zu, dass ich verschwinde, was? Máňa Kynštekrová lachte kurz und ging. Eigentlich ist das ja gerecht, dass ausgerechnet die beiden die miesepetrigsten von allen sind. Ein bisschen Gerechtigkeit gibt’s eben doch noch. Obwohl die Eva wahrscheinlich gar nix dafür kann, vielleicht ist die gar nicht übel, es ist bloß nix los mit ihr. Aber mit wem wär schon was los, mit so einem! So ein Arsch, diese kommunistische Gipsfresse! Warum hat die den um alles in der Welt geheiratet? Bloß – wer weiß denn schon irgendwas über sie? Überhaupt nix. Nur, dass sie studiert hat. Angeblich Bibliothekarin oder so. Und dass er sie vor ein paar Jahren von irgendwo mit hierher gebracht hat. Jeden anderen würde in dieser Zeit das ganze Dorf kennen. Aber so war sie nun mal, die Podzimková. Podzimeks weiße Mumie. Da hat lieber keiner groß nachgeforscht.

Der Schlachter Nešleha schnitt und hackte, und wenn es nicht mehr ging, ließ er es für einen Moment bleiben und verscheuchte die Fliegen. Mit wildem Summen stiegen sie auf, nur um eine Minute später wieder zwischen den Blutpfützen zu sitzen. Das sehnige Zeug schmiss er auf beigefarbenes Packpapier, er sah selbst, wie das alles unappetitlich zusammenklebte, aber was sollte er denn tun? Alle machen es doch so. Zumindest lächelt er jede von den Frauen nett an. Und der Máňa Kynštekrová legt er ab und zu noch ein Stück Leber dazu. Der Franta hat sich’s verdient, und sie kann er auch gut leiden. Sie lacht gern, ein hübsches Lachen, jedes Mal hat er den Eindruck, dass sie sich gut verstehen könnten. Das alles ist einen Scheißdreck wert, aber wem hilft’s denn, wenn sie sich böse Blicke zuwerfen? Sie fühlt das ganz genauso. Außerdem ist sie gut gebaut, für unsereiner genau richtig. Sie gefiel ihm von allen Seiten her, aber es versteht sich natürlich von selbst, dass er sich nichts rausnahm. Sie gehört dem Franta, und den Franta hat er schon seit jeher bewundert. Ihm fiel nichts ein, was der Schornsteinfeger nicht könnte. Und blöd ist er auch nicht, keiner kann dem das Wasser reichen. Außerdem ein anständiger Kerl. Wie viele von denen gibt’s denn noch? Sich selbst zählte er so halb dazu.

Kaum war Máňa an der Reihe, packte er ihr die blutigen Batzen ein wie allen anderen, aber als er ihr das Päckchen gab, beugte er sich aus dem Fenster seines Verkaufswagens zu ihr hinunter und flüsterte: „Lende!“

„Also Pepa“, hauchte sie anerkennend zurück. „Das ist ja kaum zu glauben.“

Es lief schnell und unauffällig ab, falls in einer Fleischschlange so etwas überhaupt möglich ist, doch auch in diesem verschwörerischen Galopp registrierte er einen Hauch ihrer erlösenden Fröhlichkeit. Und er wusste, dass das nicht wegen des Fleisches war, dass sie, Gott sei’s gedankt, einfach so ist, wie sie ist. Das sie’s wert ist. Was eigentlich …? Zum Beispiel: ein bisschen schädlich zu sein.

„Also, was darf’s sein?“, grinste er die alte Lopatková an und scheuchte dabei einen Schwarm Fliegen auf.

Im Prinzip hatte er nur sehniges Vorderfleisch vom Rind, Beuschl, Bauchfleisch, ganze Hühnchen und Speckwürstchen. Aber fragen musste er schließlich.

„Was haben Sie denn?“, gab die Alte schnippisch zurück und zog von Anfang an eine unschöne Grimasse.

Ihr war das natürlich klar, so wie allen anderen auch, und Nešlaha zuallererst. Er konnte ihr das nicht verübeln und wunderte sich keineswegs, dass ihr das nicht passte. Ihm passte das doch auch nicht. Aber schließlich hatte sich den Sozialismus ja nicht er ausgedacht. Und nach Leber sah es nun wirklich nicht aus.

Eva Podzimková kam als letzte an die Reihe. Ihr liebes Söhnchen hatte ihr mal wieder hübsch eins ausgewischt. Er hatte nicht gewartet, hatte ihr keinen Platz besetzt, wie sie es von ihm verlangt hatte. Jirka wollte ja eigentlich, er wollte wirklich, aber es ging nicht. Eine Weile, ziemlich lange sogar, hatte er verlegen dort rumgestanden, noch bevor der Schlachter gekommen war. Dann hatten sich so nach und nach die Frauen eingefunden. Sie hatten sich unterhielten und gelacht und auf ihn gezeigt. Zumindest war es ihm so vorgekommen. Und ordinär waren sie gewesen. Jungs dürfen das. Jawohl, Jungs schon. Aber Frauen? Erwachsene, alte Frauen, die sagen: „Da ist der Junge vom Vorsitzenden, der hat eben nur so’n kleenes Würschtl“? Davon war ihm ganz anders geworden. Als ihn dann die Svobodová gefragt hatte, was der Papa macht, und er soll ihm ausrichten, wie das ganze Dorf ihn wirklich aufrichtig schätzt, da hatte er’s wieder mal nicht ausgehalten. Er war abgehauen wie ein Dieb, obwohl er wusste, dass sie beide was abkriegen würden, er und seine Mutter. Aber nicht sofort. Das war die Hauptsache. Bis dahin bricht vielleicht der Krieg aus, von dem die andauernd reden. Bis dahin ist vielleicht sowieso die ganze Welt im Arsch.

„Was darf’s sein?“, fragte Nešleha.

„Was haben Sie denn?“

Es hatte ihr überhaupt nichts ausgemacht Schlange zu stehen. Hauptsache, sie musste die Máňa nicht mehr sehen. Die ach so gerechte Máňa Kynštekrová mit dem teilnahmsvollen Blick. Eva war es nicht gewohnt, diejenige zu sein, die jemandem wehtut. Wenn sie einmal davon absah, wessen Frau sie war. Für sich selber. Es war fast nicht zum Aushalten.

So ein Busen und so ein Gesicht dazu. Nešleha musste unwillkürlich den Kopf schütteln. Sie sieht aus wie die schmerzensreiche Jungfrau Maria. Und warum kommt die überhaupt her? Das wissen doch sowieso alle, dass die alles vom Feinsten von woanders kriegen. Und zwar ohne Schlangestehen. Können die nicht drauf verzichten, uns hier so eine Komödie vorzuspielen?

„Nichts“, antwortete er ihr mit einem Lächeln.

Das hätte er nicht tun dürfen, das wusste er genau. Aber er konnte sie nun mal nicht ausstehen, vor allem seinetwegen, aber auch sie selbst provozierte ihn, doch gleichzeitig spürte er, dass sie nicht gefährlich war. Dass er sich das rausnehmen konnte.

„Nichts? Na dann anderthalb Kilo. Nein, warten Sie, lieber gleich zwei.“

Er ließ die Fliegen Fliegen sein und sah sie an. Sie lachte. Ihre Augen lachten. Und sie schaute ihm direkt ins Gesicht. Sie sah nicht so aus, wie er es gewohnt war. Das brachte ihn aus dem Konzept.

„Das war ein Scherz. Na ja, schon klar, Sie haben’s ja eh kapiert.“

Ich red einen Blödsinn, wurde ihm klar.

„Ich kratz schon noch was zusammen.“

Gott, was bin ich für ein Trottel. Sie ist eigentlich eine ziemlich hübsche Frau. Aber was um alles in der Welt ging da vor? Er gab ihr drei Koteletts, die er für die Novotná in Bykoš zurückgelegt hatte, mit dem unbestimmten Gefühl, dass sie dem Podzimek sowieso im Hals stecken bleiben würden. Obwohl er nicht genau wusste, warum.

Sie sah vom Fenster aus zu, wie der Schlachterwagen langsam losfuhr. Erst als er hinter der Schule um die Ecke verschwunden war, kippte sie das Fleischpaket aus dem Einkaufsnetz. Eine Weile lang bemühte sie sich redlich, das blutige Papier abzufriemeln, aber dann ließ sie es bleiben und ging sich im Spiegel anschauen. Für einen Moment vergaß sie sogar Jirka und seine Ungehorsamkeit. Die gab es letzten Endes schon immer und sie hatte sich nie einen Rat gewusst, aber diese neu errungene Kraft wollte sie mit eigenen Augen sehen, solange sie da war, und ob überhaupt. Schon neulich hatte sie sie an dem Jungen gesehen, diesem Jarda, oder wie dieser Student heißt, der bei ihrem Mann Praktikum macht. Als sie beide diesen verletzten Säufer vor dem Gemeindeamt retten wollten. Zwar hatte ihr Mann sie beide schleunigst zur Raison gerufen und beide hatten sich, wenn sie das richtig beobachtet hatte, dafür geschämt. Sie hatten auf voller Linie verloren, aber sie wusste, wie der Junge sie angesehen hatte. Wie eine Frau, wie eine gut aussehende Frau. Und heute dieser Schlachter, der sie nicht leiden kann. Das ist lächerlich, na klar. Auf einmal! Aber … man sah es ihr an. So war das. Man sah es ihr an, und das war das ganze Wunder. Und wie komisch glücklich sie war! Das war viel besser, als nie jemandem wehzutun, viel besser. Aber: Man sah es. Und davor sollte sie Angst haben. Wenn die das sehen können, dann kann er das auch. Und wenn sie das nicht ganz schnell bleiben ließe, könnte etwas Schreckliches passieren. Und auch wenn nichts passieren würde, so würde das doch zu nix führen, es kann zu nix führen. Das wusste sie schließlich. Beide wussten sie es. Schon blickte sie wieder in die Augen der Angst. Die hübsche oder vielleicht interessante Frau war schnell wieder verschwunden.

Wie sollte sie, die zuschaut, wie er ihr gemeinsames Kind schlägt, wie er es zu einem Charakterkrüppel macht, sie, die nicht in der Lage ist, ihrem Jirka zu helfen, wie sollte sie fähig sein wegzugehen? Sie hasste sich dafür, doch schon allein dieses unmenschliche Brüllen, das hat eine schreckliche, hypnotisierende Macht über sie. Sie erstarrt. Zieht sich in sich selbst zurück und wird stumm wie ihr Junge. In den schlimmsten Szenen ist sie nicht fähig, ihm eine Mutter zu sein, in diesen Momenten geht es ihr genauso wie ihm. Ohne Anlass schuldig, in den Schmutz getreten, vor Entsetzen gelähmt. Sie stürzt zurück in ihre eigene Kindheit und versagt. Hätte sie es nicht am eigenen Leib erfahren, dann wäre es vielleicht anders. Dann hätte sie Podzimek wohl nicht geheiratet.

Sie hatte es nicht erkannt. Sie hatte nicht erkannt, dass er einmal das wiederholen würde, was ihr eigener Vater getan hatte und wovor sie geflohen war. Es war so anders. Es sah so anders aus. Auf der einen Seite ein trauriger Mann, dem man alles genommen hatte, was er besaß. Ein Französisch-Professor auf seine alten Tage in einer Fabrik, verbittert und zornig. Auf der anderen Seite er, neun Jahre älter als sie, fröhlich und voller Elan. Jemand, der daran glaubte, was er tat, und der es mit voller Kraft tat. Nie wäre ihr das aufgefallen. Sie war dumm. Eine dumme, verliebte Gans. Und noch schlimmer: wer weiß, ob überhaupt verliebt. Möglicherweise einfach nur dumm. Eine dumme Gans auf der Flucht. Ein Kommunist … Das waren fast alle, andererseits hatte sie bereits genug erlebt.

Sie lebt mit ihm und sie lebt das Leben, das sie sich ausgesucht hat, so gut sie kann. Auch mit dieser Bitterkeit, die immer monströser wird als die ihres Vaters. Desillusionierung multipliziert mit dem Wissen, dass keiner ihn leiden kann. Dass ihn die meisten still verachten. Äußerst still, aber er ist nicht blöd, er weiß das ganz genau. Das ist alles ihr eigener Fehler, niemals hätte sie sich so entscheiden dürfen. Mit all den Jahren hatten sie sich bereits so verflochten, waren so zusammengewachsen, bis in die kleinsten Kapillargefäße, und außerdem: Wie weit wäre Podzimek bereit zu gehen, wenn sie sich von ihm trennen wollte? Der Vorsitzende des Rats der Gemeinde ist nicht Gott weiß wer, aber sie ist überhaupt nichts.

Ihr Vater hatte damals verzweifelt versucht, ihr das auszureden, aber wie hätte sie ausgerechnet ihm glauben sollen?

„Noch ein Mal! Noch ein Mal, und deine ganzen Puppen fliegen in die Mülltonne, das kannst du mir glauben!“

Beide, sie und ihre Mutter, hatten das damals so gesehen, dass das zwar alles ganz schrecklich war, dass er aber in gewisser Weise ein Recht darauf hatte. So schwere Verletzungen hatten ihm alle zugefügt.

„Du! So schlau, so begabt! So hübsch, wie eine Puppe! Aus Porzellan. Eine weiße Porzellanpuppe. Nicht wie diese kleinen Nutten aus Plaste mit ihren angemalten Augen, die sie sich heutzutage nicht schämen, den Kindern anzubieten. Überleg dir das, ich bitte dich! Du, die sich’s aussuchen kann! Tu das nicht, bitte! Tu das nicht …“

Zum ersten Mal im Leben hatte er um etwas gebeten. Zumindest soweit sie sich erinnern konnte. Allerdings war es bereits zu spät.

Sie sah ihre Mutter vor sich. Sie sah dieses ehrenhafte Modell. Sie sah, wie sich diese gesellschaftliche Kastration in eine endlose Lawine von privaten Unflätigkeiten verwandelte. Und von kleinen und großen Schweinereien. Etwas in der Art wollte sie nicht erleben.

Und darin irrte sie sich auch nicht. Aber das war auch das Einzige. Podzimek hatte sie wirklich geliebt. Podzimek war niemals fremdgegangen, so weit sie wusste. Davon war sie überzeugt. Aber es gab andere, widerwärtige Sachen, vor denen sie sich nicht schützen konnte und die sie wohl hätte vorhersehen müssen. Aus einem Schuldgefühl heraus blieb sie. Und lange hatte er ihr auch trotz alledem gefallen. Als die Jahre ins Land gingen, als der Berg der Machtlosigkeit immer größer wurde, schlich sich all dies auch in ihr Bett ein. Fast von einem Tag auf den anderen. Auf einmal konnte sie nicht mehr mit ihm schlafen. Es war keine Absicht, es war keine Strafe. Sie wollte ihn nicht erpressen. Sie konnte einfach nicht. Dann konnte sie nur noch voller Entsetzen zusehen, was das mit ihnen machte. Er liebte sie tatsächlich, er war nicht in der Lage sich einen billigen Ersatz zu suchen. Und gleichzeitig war er nicht in der Lage etwas zu ändern. Nicht bei sich, geschweige denn in seinem Umfeld. Er selbst hatte schon längst begriffen, dass letzteres eventuell leichter war. Allerdings gelang auch das nicht. Wenn sie nicht in Betracht ziehen wollte, dass auch Zerstörung eine Veränderung war. Dazu war nicht einmal mehr er fähig. Schon längst war er kein Revolutionär mehr.

Sie sah, wie er sich fast schon überraschend schnell zum noch Schlimmeren veränderte. Aber sie wollte nichts mehr damit zu tun haben. Sie redete sich ein, dass sie das auch nicht musste. Seine Männlichkeit, die es einst vielleicht wirklich gegeben hatte, wenngleich sie albern war, verflog wie Rauch im Wind. Sie sah, wie sie ihn ungewollt um all das brachte, was von ihr noch übrig geblieben war. Er wurde weicher, gallertartig. Er bekam einen seltsamen, kleinen Bauch, obwohl er eigentlich ganz dürr war. Wie bei diesen afrikanischen Kindern, die die Kommunisten andauernd in den Nachrichten zeigen. Und seine Wut wuchs ebenfalls. Sie war nicht in der Lage irgendetwas zu tun. Sie sah nur zu. Unsicher und schwach. Mit ihren scheiß Büchern. So, wie er sie die ganze Zeit haben wollte. Und ihr Liebhaber spielte bei all dem überhaupt keine Rolle, eigentlich nicht. Vielleicht nur die, dass sie zum ersten Mal im Leben für ein paar Sekunden sich selbst schön fand.

 

© Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch, 2008 /info@worte-und-orte.de/