—Auszug 1—

Prolog

Im Juni 2016 haben die Bürger des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland in einem Referendum für den Austritt ihres Landes aus der EU gestimmt. Im selben Jahr, nur wenige Monate später, gewann bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen der Kandidat der Republikaner Donald J. Trump, in den Bereichen Politik und Militär gänzlich unerfahren, dafür aber Milliardär und ehemaliger Star einer Reality-Show, sowie für nicht wenige das Paradebeispiel eines Populisten und gefährlichen Hochstaplers. Für Beobachter war mit den britischen und amerikanischen Wahlergebnissen der Verfall gekommen: ein unvernünftiger wie fahrlässiger Sturz aus den einstigen Höhen der euroamerikanischen Zivilisation.

Unsere Geschichte spielt – von einigen Abstechern abgesehen – in dem Raum, den man jahrhundertelang als „diesseits der Alpen“ bezeichnet hat. Dieser Ausdruck fällt zumeist im Zusammenhang mit der Niederländischen bzw. Nordischen Renaissance (im Englischen „Northern Renaissance“ genannt), doch im Laufe der Jahrhunderte waren die Alpen theoretisch wie praktisch gesehen weit mehr als nur bloße Gabelung zweier Architektur- und Kunstzweige ein- und desselben Stils. Nicht selten waren die Alpen das ausschlaggebende Element, der damalige Eiserne Vorhang.

Wir heute, so scheint es, leben in einer anderen Zeit. Die Alpengipfel sind uns lediglich Gerümpel, das man am besten ignoriert – es sei denn, es geht um die Freuden des Skifahrens. Heutige Grenzen überwinden wir spielerisch, und zwar per Flugzeug, Internet, Hochstraße und Tunnel. Wir haben revolutionäre Neuerungen eingeführt. Was jedoch beunruhigt: die damit einhergehende Dissonanz. Einerseits sehnen wir uns nach Größe und Höhe, andererseits sind wir mittlerweile viel zu träge, um noch hoch hinauszuwollen. Und genau davon soll, nicht zuletzt angesichts der so genannten Flüchtlingskrise, hier erzählt werden.

ERSTER TEIL

I. Mathias und Dominika

1.

Die App, die Mathias Walter zum SMS-Schreiben auf seinem Handy der Marke Motorola installiert hatte, bot eine ganze Reihe von Bildchen, englisch „Stickers“, durch die er seine SMS ergänzen oder schlicht ersetzen konnte.

Entsprechend ihren Eigenschaften waren diese Sticker in zehn unterschiedliche Messenger-Kategorien unterteilt. Es gab die Kategorien „Happy“, „In Love“, „Sad“, „Eating“, „Celebrating“, „Active“, „Working“, „Sleepy“, „Angry“ sowie „Confused“. Bei den Stickern selbst handelte es sich um relativ detaillierte Zeichnungen einer oder mehrerer Figuren, die für eine bestimmte Tätigkeit oder Stimmung standen. Das Ganze war eine Art Comic-Version japanischer Emojis. Aber die Sticker stellten noch mehr dar: die Körpersprache eines Menschen und seinen Gesichtsausdruck. Unmittelbar nach ihrer massenhaften Verbreitung wurde klar, dass die am häufigsten genutzten Sticker die für Liebe sind; in der Praxis standen die meisten der versandten Liebessticker jedoch nicht für das wohl tiefste menschliche Gefühle oder wenigstens für irgendwelche sexuellen Gelüste, sondern wurden zum abstrahierten Ausdruck einer Zustimmung oder Lust, völlig sinnloserweise sich hinziehende Konversationen endlich zu beenden.

*

Mathias verwendete beim SMS-Schreiben so gut wie keine Sticker; die einzige Ausnahme bildete ein Sticker aus der Reihe „Shiba Inu“, den er seinen Textnachrichten seit etwa einem Jahr mit schöner Regelmäßigkeit beifügte. Dieser eine Sticker wurde langsam zu seiner Unterschrift. Dieser Sticker war Mathias Walter in nuce.

Autor des Stickers aus der „Shiba Inu“-Reihe war offenbar ein gewisser Aiko Kuninoi. Zumindest wurde dieser Name unter dem Titel des Sticker-Stores beim Anklicken der Details angezeigt:

Shiba Inu
Aiko Kuninoi
FREE
This pup is the pick of the litter.
DOWNLOADED

Der etwas längere Satz schien Mathias, soweit seine Englischkenntnisse ausreichten, soviel zu bedeuten wie „Dieser Welpe ist der Gipfel seines Wurfs.“ Oder auch: „Dieser Welpe hat was drauf.“

Jedenfalls ging es in der gesamten Reihe des Zeichners Aiko Kuninoi um einen weißbraunen, in unterschiedlichen Situationen dargestellten Shiba-Welpen: der Welpe, wie er sich in seine Hütte verkriecht, der Welpe beim Fressen, beim Träumen, beim Hochspringen, beim Fangen einer Frisbee. Aber keiner dieser Welpen passte zu Mathias. Sein Welpe war wesentlich delikater.

Es war ein Shiba an der Leine. Und neben diesem Shiba ein weiterer Hund. Die Leinen hängen locker herab, die Szene strahlt Ruhe aus. Die Hunde sind in 69er-Stellung abgebildet. Kopf an Hinterteil, Hinterteil an Kopf. Mathias Walter in nuce: ein Welpe, der einem anderen Hund am Hinterteil schnüffelt.

Mathias verwendete diesen Sticker wiederholt, wiewohl er nicht wusste, für welches Gefühl, für welchen Geistes- oder Körperzustand dieser Sticker eigentlich stand. Als er in der App die einzelnen Kategorien durchsuchte, in denen aufgrund von Metadaten Sticker aus unterschiedlichen Reihen mit ein- und derselben Stimmung gespeichert waren, fand er in einigen Kategorien zwar den Shiba-Welpen (in der Kategorie „Happy“ zum Beispiel beim Herrchenbegrüßen), aber nach seinem Hinterteil-Schnüffelshiba suchte er vergebens. Wenn er also diese sich allen Kategorien entziehende Szene einer seiner Textnachrichten beifügen wollte, musste Mathias sie im Verzeichnis „Shiba Inu“ direkt anklicken.

Shiba

 

 

 

Was wollte Mathias Walter mit diesem Sticker sagen?

2.

Mathias war siebenunddreißig. Dominika Kurelová war fünfzehn Jahre jünger und studierte noch. Die beiden hatten sich im November 2016 in Prag kennengelernt. Über Tinder, die damals weitestverbreitete Dating-App.

Tinder, damals bereits seit etwa fünf Jahren etabliert, machte sich das globale Positionierungssystem GPS zunutze. Je nach Eingabe des jeweiligen Tinder-Nutzers suchte die App in dessen unmittelbarer Umgebung nach passenden Partnern. Außer dem Gebiet, in dem gesucht werden sollte, konnte man lediglich das gewünschte Alter sowie das Geschlecht des zu suchenden Partners eingeben. Nach Abschluss der Suche zeigte Tinder dem Nutzer dann alle lokalisierten Personen per Foto an, und zwar unter Angabe des jeweiligen Alters sowie gemeinsamer Interessen und Facebook-Freunde. Das Wichtigste jedoch waren die Fotos. Interesse oder Ablehnung äußerte der Tinder-Nutzer dadurch, dass er die jeweiligen Fotos per sogenanntem „Swipe“ nach rechts oder links zog. Ein Swipe nach rechts war ein „Like“ und wurde von der App durch ein Interesse symbolisierendes grünes Herzchen markiert; ein Swipe nach links oder das Anklicken eines roten Kreuzchens hieß Ablehnung. Nutzer mit gegenseitigem, also einvernehmlichem Like hatten ein „Match“ erzielt. Solche Nutzer konnten dann über Tinder miteinander chatten. Im Jahr 2014 registrierten die App-Betreiber eine Milliarde täglicher Swipes. Gesellschaftskritiker verglichen das Swipen mit der Selektion ankommender Häftlinge an der Rampe von Auschwitz.

*

Mathias war Deutscher, der mit einigen Unterbrechungen bereits seit acht Jahren in Prag lebte. Tschechisch verstand er nahezu mühelos, nur das Sprechen fiel ihm schwer; wenn er in Prag war, kommunizierte er lieber auf Deutsch, am liebsten aber auf Englisch. Dominika stammte aus Südmähren und war erst vor kurzem zwecks Studiums nach Prag gezogen. Der Altersunterschied zwischen den beiden war nicht unbedeutend, aber den Tinder-Chatsymbolen nach zu urteilen gefielen sie sich.

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—Auszug 2—

[Zwei Jahre nach seiner Hochzeit lernt Mathias im Tschad die Kellnerin bzw. Prostituierte Sylviane kennen.]

Angeblich war Sylviane noch nie in Europa gewesen, aber diese Information ist fast zehn Jahre alt. Zufälligerweise stammte sie aus dem Südosten des Tschad, aus einem Dorf ungefähr fünfzig Kilometer von Am Timan entfernt. Als ich ihr erzählte, dass meine Frau in Am Timan arbeitet, schüttelte sie nur den Kopf.

Ich begriff, dass Sylviane studiert hatte, zumindest das Grundlegendste, Rechnen, vor allem aber Sprachen. Ganz Afrika steht und fällt im Grunde mit Pidgin-Englisch – fällt also, würde ein Skeptiker sagen. Die beiden Konstanten, die Sylvianes Leben bestimmten, waren der Krieg und die westliche Entwicklungshilfe; ähnlich wie bei uns Arbeit und Urlaub. Die NGO-Leute haben Sylviane gefüttert und wie ein Päckchen herumgereicht – dies immer geduckt und mit Helm auf dem Kopf, weil von ständigem Kugelhagel und Macheten bedroht. Auf diese Weise hatte es Sylviane bis nach N’Djamena geschafft. Weiter war es nicht mehr gegangen, weiter ging es nicht mehr, weiter hätte sie allein zurechtkommen müssen. NGO-Päckchen ihres Typs werden nicht ins Ausland verschickt. Inzwischen war Sylviane vom fünfjährigen Stöpsel zur zwanzigjährigen Gazelle herangereift. Als ich sie kennenlernte, war sie zwanzig.

Sie hatte mit mir am Pool gesessen, gleich am Morgen von Marias Abreise. Ich hatte Arbeit dabei, konnte mich aber nicht konzentrieren. Ich öffnete den Chrome-Browser und ging auf Facebook. Marias Sonnenaufgangsfoto, das sie noch beim Frühstück geschossen und gepostet hatte, gab ich ein Like. Wir hatten auf dem Balkon gegessen, nachdem man uns das Essen aufs Zimmer gebracht hatte. In der Küche hatten sie mir wieder Porridge mit Waldbeeren zubereitet, wiewohl das nicht auf der Karte stand.

Marias Foto hatte schon vierzig Likes. Die meisten Posts waren Herzchen und „fingers crossed“, Stickers und Emojis, nur hier und da gab es auch ein paar Worte. Man glaubte kaum, dass die meisten von Marias Freunden Ärzte waren, einige von ihnen extrem befähigt und fleißig.

Da kam mir Sylviane in den Sinn. Nur zu gern hätte ich gewusst, was sie von Marias Facebook-Seite hielt. Gern hätte ich gewusst, was sie dazu sagt, dass meine Frau eine Spitzenärztin ist, die auf ihrer Facebook-Seite nichts als Geblöke und Höhlenmalerei präsentiert. Gern hätte ich gewusst, ob NGO-Ärzte beim Untersuchen und Impfen von Sylviane auch mit ihr in Form von Geblöke und Smileys kommunizierten, oder zeigten sie ihr ein anderes Gesicht? Gern hätte ich gewusst, ob Sylviane meine Frau wegen all ihrer Smileys verurteilt hätte, oder ob sie eher erleichtert gewesen wäre. Vielleicht wäre diese Unbeschwertheit Sylviane ja sympathisch gewesen … Wusste Sylviane, was wir zu wissen glauben, nämlich dass Strenge und Unnahbarkeit direkt zu Hitler führen? Wusste sie, dass die einzige Hoffnung für diesen unseren Planeten Humor und Unbeschwertheit sind? Hätte sie dem zugestimmt? Aber lebte Sylviane überhaupt auf meinem Planeten?

Ich öffnete eine neue Chrome-Seite. Als Google-Suchwort gab ich „porn“ ein. Ich war überrascht, dass ich keine einzige Pornoseitenadresse auswendig wusste. Nicht dass ich mir nicht ab und zu bei einem Porno einen runterholen würde, aber dies war der klare Beweis dafür, dass das nur äußerst selten geschah. Ich hatte keinerlei Lesezeichen oder Favoriten angelegt. Ganz entschieden war ich keiner von denen, auf deren Computer man in der Adressleiste nur „www.“ eingeben musste und danach irgendeinen Buchstaben, um automatisch Vorschläge wie „www.p… orntube.com“, „www.s… exycoeds.com“, „www.d… irtyoldfuck.com“ zu erhalten.

Der Sex mit Maria reichte mir. Maria habe ich, im Unterschied zur kleinen Frauke, noch nie betrogen. Maria gefiel mir einfach, und vielleicht war genau das der Grund. Es ging mir nicht um Sex, sondern um ästhetisches Gefallen.

Der erste Link war „www.porntube.com“. Als sich die Seite öffnete, erkannte ich sie natürlich sofort wieder. Oben im Menü klickte ich auf die Kategorie „Ebony“. Wenn ich beim sporadischen Aufrufen von Pornoseiten etwas vernachlässigt hatte, so war es dieser Bereich gewesen. Doch mit Sylviane sollte sich das ändern. Sie wurde mein Tor zu Afrika, zu diesem Dschungel, in dem ich mich – mir aller damit verbundenen Risiken voll bewusst – besudeln wollte.

Was ich beim Klicken durch die Kategorie „Ebony“ fand, enttäuschte mich. Einen Großteil bildeten Amerikanerinnen. Das sah man sofort. Sie waren fett, tätowiert, komplett verkommen, schlechte Zähne etc. Schlampen aus Alabama, von Anfang an verloren zu geben. Schon beim ersten Atemzug, beim Öffnen ihrer verklebten Äuglein stand fest, dass ihr Leben bei Crack und Porno enden würde. Und an der Spitze ihres Landes stand jetzt Donald Trump, der mir weit treffender schien als Obama.

In der Ebony-Kategorie fand sich keine wie Sylviane. Diese Mädels und Sylviane, das waren zwei unterschiedliche Menschentypen, zwei unterschiedliche Rassen. Sylviane wäre für so etwas viel zu stolz gewesen. Sowieso, begriff ich beim Anblick von Sylvianes Ebony-Konkurrenz, hätte Sylviane mit ihrer Figur eher auf einen Laufsteg gepasst, als in einen Porno.

Noch immer war ich am Pool allein, nur manchmal lugte aus dem Restaurant ein Schwarzer hervor um nachzusehen, ob ich noch etwas bestellen will. Ich hatte Eistee und trank so langsam, dass ich den Kopf schüttelte. Dann klappte ich mein Notebook zu und sprang ins Wasser.

Erst dort kam mir der Gedanke, dass ich mich nach Sylviane erkundigen könnte. Das Wasser war angenehm kühl, ich tauchte ab. Vielleicht hing das irgendwie zusammen, dass ich dort zum ersten Mal, den Kopf unter Wasser, ganz real an sie dachte und dass mir ebenfalls dort der Gedanke kam, wir könnten mehr gemeinsam haben, als es den Anschein hat. Auf jeden Fall habe ich mir gesagt, dass ich mich ja nicht aufs An-sie-Denken beschränken muss, sondern dass ich versuchen könnte, sie ausfindig zu machen, um mit ihr zu sprechen. Da wäre überhaupt nichts dabei. Aus Wasser sind wir ja schließlich alle hervorgegangen.

Ich ließ meine Badehose etwas trocknen und ging ins Restaurant. Dort saßen ein paar Leute bei spätem Frühstück und in NGO-Meetings: Notebooks, Akten, Namensschilder um den Hals. Dazu ich, und hinter mir ein kleines Rinnsal.

„Hallo. Ist Sylviane da?“, fragte ich den Schwarzen hinter der Bar. „Ich suche sie.“

Dies also mein erstes Vorantasten in koloniales Gelände. Ich wusste nicht, welchen Ton anschlagen. Ich wusste nicht, wie weit die Zeit im vergangenen Jahrhundert vorangeschritten war. Ich wusste nur, dass meine Badehose tropfte und dass meine Frage die Grenze einer Mirinda-Bestellung überschreiten würde bzw. bereits überschritten hatte.

„Nein. Tut mir leid. Sylviane arbeitet nur montags. Sie hat noch einen anderen Job. Kann ich Ihnen weiterhelfen?“, so der Schwarze.

Ständig dachte ich daran, dass dieses Hotel Teil einer französischen Hotelkette war. Also keinerlei afrikanischer Puff. Andererseits, sagte ich mir, war es von hier nach Paris in mancherlei Hinsicht ziemlich weit.

„Ich hätte gern ihre Gesellschaft“, gab ich unumwunden zu, und kaum hatte ich das gesagt, war ich mir sicher, dieser Mann würde etwas erwidern im Sinne von: „Aber nicht doch, Sylviane besitzt ja gar keine Gesellschaft. Sie ist ja bettelarm!“ Solch einen Witz würde zumindest ein Tscheche reißen.

Aber nein, die Bestimmung dieses Schwarzen war eine gänzlich andere.

„Natürlich. Ich rufe sie an“, gab er ohne zu zögern zurück.

Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber ich hatte das Gefühl, in seinem Gesicht rege sich – neben natürlichster Selbstverständlichkeit – ein kleiner Funken Verachtung, gar Hass. Das kannte ich von den Kellnern in Prag.

„Ich bin kein fettes altes Schwein“, sagte ich. Dieser Satz kam mir wie von selbst über die Lippen.

Er tat so, als habe er nichts gehört. Er telefonierte mit Sylviane und sagte mir, sie wäre in zwanzig Minuten da.

„Bitte sagen Sie ihr, sie soll ihre Schwimmsachen mitbringen“, bat ich ihn noch, bevor er auflegte.

Er hielt die Sprechmuschel zu und sagte:

„Sylviane hat keinen Zutritt zum Pool. Sie ist für die Zimmer und das Restaurant zuständig.“

„Dann machen Sie eben eine Ausnahme“, sagte ich. „Ich will nur mit ihr schwimmen. Mehr nicht. Ansonsten kommen wir hier nicht zusammen.“

Er nahm die Hand von der Sprechmuschel und sagte etwas in der Landessprache. Ich konnte mir gut vorstellen, was es war. Auch das kannte ich aus Prag, es war mir nicht selten passiert. In Prag ahnte keiner, wie gut mein Tschechisch war. Das konnte peinlich werden.

„In zwanzig Minuten, mein Herr“, sagte er nach dem Auflegen. „Am Pool“, ergänzte er noch und wies hinaus, um mich loszuwerden.

Ich ging und las zwanzig Minuten lang Wikipedia-Einträge zur Geschichte des Tschad, Afrikas und der Welt.

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—Auszug 3—

Europa wurde von einer Flüchtlingswelle überrollt, und damit von einem nie dagewesenen Interesse an Deutschland. Meine Aktien in der jungen Prager Kreativszene stiegen, ohne dass ich dafür irgendetwas hätte tun müssen. Der beste Techno und die beste Weltanschauung, wer konnte dazu schon Nein sagen. Berlin war den jungen Künstlertschechen einfach alles. Aus der deutschen Willkommenskultur bastelten sich die ambitionierten Prager eine Mode: Fritz-Kola, Club-Mate und Flüchtlinge. Was für die Generation ihrer Eltern die USA samt Rock’n Roll und Jeans gewesen sind, war für meine Prager Kreativszenler Deutschland samt Techno und Migranten. Sie liebten mich und Mutti Merkel. Ihren eigenen Präsidenten Zeman dagegen verabscheuten und verleumdeten sie auf das Übelste; Zeman hatte sich im tschechischen Fernsehen folgendermaßen an die Flüchtlinge gewandt: „Keiner hat euch eingeladen … Und wenn ihr schon mal da seid, dann respektiert auch unsere Regeln … Wenn euch das nicht passt, könnt ihr ja wieder gehen.“ In etwa so. Das schien mir hilarious. Oder Hillarious – oder, besser noch: Donaldious … „Euer Präsident ist wohl verrückt geworden“, habe ich gesagt und lautstark gelacht. „Ihr habt ja gar keine Flüchtlinge, die wollen doch alle woanders hin!“ Doch diese blutleeren Halbtschechen haben keine Miene verzogen. Sie haben sich entschuldigt, sich geschämt und angebiedert. „Unser Zeman … So sorry about him.“

Meiner Ansicht nach haben diese jungen Leute Begriffe mit Eindrücken verwechselt. Für sie waren die Flüchtlinge so etwas wie Reisende oder Nomaden. Sie schienen wie sie selbst einfach freiheitsliebend zu sein.

Die deutsche Reaktion auf die Flüchtlingskrise war auf alle Fälle cool. Und cool schert sich um keine Folgen. Cool ist cool ist cool. Cool ist der reinste Luxus.

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Die diesjährigen Weihnachtsfeiertage verbrachten wir bei den Caiazzos in Stuttgart. Ich mit Maria und den Kindern sowie Seba mit Martha. Aus Wiesbaden stieß Katharina dazu. Maria und ich feierten gerade unseren zehnten Hochzeitstag. Unmittelbar vor Weihnachten war zudem die erste Frau meines Vaters, Hanna, gestorben; auch auf sie stießen wir an. Hanna war achtzig geworden.

Seit unserer Hochzeit vor zehn Jahren hatten sich Marias Eltern und Katharina nur sporadisch gesehen, was der gegenseitigen Sympathie jedoch keinen Abbruch tat, ganz im Gegenteil. Regelmäßig lasen Martha und Seba in Stuttgart Katharinas Blog und die anderen Artikel, und sie gaben ihr Recht. Sie unterstützten Katharina und bewunderten die Vehemenz, mit der sich meine Mutter in ihren einsamen Kampf stürzte.

Dabei war Stuttgart bereits seit Jahrzehnten eine Einwandererstadt: Vierzig Prozent der über eine halbe Million Stuttgarter waren Ausländer, was doppelt so viel war wie in anderen deutschen Städten. Nach dem Krieg hatte man diese Ausländer hergeholt, um die regionale Industrie wieder aufzubauen: erst die Italiener, dann die Griechen, Spanier und Jugoslawen, schließlich die Türken. Das friedliebende und pragmatische Stuttgart, Sitz von Industrieriesen wie Bosch, Porsche oder Sebas Mercedes sowie Synonym für deutsches Know-how, meisterte die Integration mit Bravour. Im Unterschied zu anderen deutschen Städten gab es in Stuttgart keinerlei Ghettos, wo die Einwanderer in ihrem eigenen Mikrokosmos gelebt hätten.

„Lange Zeit“, meinte Seba, „war Stuttgart das Paradies auf Erden.“

Auf dieses Thema waren die beiden bereits am Tag vor Heiligabend, kurz nach Katharinas Ankunft gekommen. Meine Mutter war mit dem Zug aus Wiesbaden angereist, den Volvo ließ sie jetzt meistens vor der Villa auf der Straße stehen.

„Eine Utopie“, fuhr Seba fort. „Ein Computerspiel, bei dem sich am einen Stadtrand der Zoo befindet und am anderen die Uni samt Fußballstadion. Grünanlagen überall. Das Ganze wird allerdings nicht von Grünanlagen zusammengehalten, sondern von … Vor zehn Jahren wäre mir nicht im Traum eingefallen, dass ich mal so was sagen würde … Zusammengehalten wird das Ganze von einem starken Willen.“

„Und von Mauern“, ergänzte Katharina. „Utopien erfordern bestimmte Bedingungen. Eine Stadt umgeben von Festungsmauern. Und wenn man was von draußen will, dann von einem der Türme aus mittels Eimer am Seil.“

„Der Begriff ‚Willkommenskultur‘ ist ja nun nichts neues“, fuhr Katharina fort. „Irgendwann ist dieses Wort einfach aufgetaucht, als Deutschland seine Baggerschaufel ausgefahren und ein paar Gastarbeiter aus der Türkei aufgeladen hat – die hat man damals nämlich dringend gebraucht. ‚Willkommenskultur‘ gibt es ja auch in der Gastronomie und in der Hotellerie und im Fremdenverkehr. Der Mensch macht einen Laden auf und will dann natürlich auch, dass Kunden kommen und ordentlich was zahlen. Aus Sicht des Fremdenverkehrs hat die ‚Willkommenskultur‘ ihre absolute Berechtigung … Und unser heutiges Deutschland braucht angeblich wieder ausländische Arbeitskräfte. In Ordnung. Aber wenn ich mir ein Glas Wasser einschenke, erwarte ich doch auch keine Sintflut.“

Dieses Thema begleitete uns die gesamten Feiertage hindurch. Gegenüber der Integration von Neuankömmlingen erwies sich auch Martha als skeptisch:

„Da wird behauptet, dass aus denen mal Ärzte und Rechtsanwälte werden. Angeblich sehen wir nur deren Kioske und Döner-Läden, und die Ärzte und Rechtsanwälte blenden wir aus, weil die zwar in denselben Häusern sitzen, aber ein paar Stockwerke höher, mithin von der Straße aus unsichtbar … Jetzt heißt es also abwarten. So was geht nicht von heute auf morgen, wohl wahr. Und inzwischen sitzen und stehen sie in ihren Winterjacken vorm Bahnhof am Arnulf-Klett-Platz herum. Das sind Hunderte ohne feste Bleibe. Die Stadt errichtet Wohncontainer, denn bisher schlafen die alle in Turnhallen und so … Seid mir nicht böse, aber ich guck mir die Welt ja schon seit über sechzig Jahren an, und das sind doch nichts als Ammenmärchen“, meinte Martha und nippte an ihrem Weihnachtspunsch. „In diesen sechzig Jahren habe ich durchaus gelernt, Dinge klar zu sehen und meine Schlüsse zu ziehen. Seid mir nicht böse, aber diese Leute kommen doch nicht her, um zu arbeiten. Die verlassen sich doch nur darauf, dass hier alles den Bach runtergeht … und zum Selbstbedienungsladen wird.“

„Warum sie herkommen, wissen sie selber nicht“, so Katharina. „Bevor sie aufgebrochen sind, haben sie das vielleicht noch gewusst. Aber sobald sie aus dem Stuttgarter Bahnhof treten, sind ihre Pläne wie weggefegt. Da stehen sie dann, mit ausradiertem Kopf. Ich glaube, plötzlich wissen sie dann einfach nicht mehr weiter … Irgendwas vor dem Stuttgarter Bahnhof radiert ihnen das Hirn aus. Und genau das versuche ich, mit jedem meiner Texte zu vermitteln. Denn das, was ihnen das Hirn ausradiert, ist höchstwahrscheinlich irgendwas Hiesiges, was mit uns zusammenzuhängt … Wir sind nicht in der Lage, mit unserer Energie hauszuhalten. Wir haben ja gar keine. Und diese ausgelassenen Willkommensfeiern und Demos gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit machen die Sache nicht einfacher. Zwar scheint zumindest dahinter eine gewisse Energie zu stecken, aber das ist reine Illusion. Und diese ganzen Syrer und Pakistanis und Nigerianer, die haben ein Gespür dafür, die merken das ganz genau … Die treten vor den Bahnhof, hinter sich ihre energiegeladene Reise, und was sie hier erwartet, ist kilometerweiter Kahlschlag, aus dem einzig ein Rednerpult rausragt, und dahinter eine etwas blässliche, schlecht frisierte Alte, Mutti Merkel – was im Übrigen ziemlich zynisch klingt. Und hinter Merkel noch mehr Kahlschlag, aus dem nur ab und zu mal, ganz wie Erdmännchen, irgendwelche Facebook-Likes rauslugen. Demos zur Unterstützung von Flüchtlingen zwischen zwei Stunden Herzchenverschicken und einem Konzert von Taylor Swift. Keine Frage, wir sind ein gesundes demokratisches Land. Wir haben unsere Geschichte bezwungen. Aber das alles hat seinen Preis. So, wie wir hier jetzt sind, so blass und ohne jede Energie, so müssen wir hier unter uns bleiben. Und genau das“, sagte Katharina, jetzt etwas lauter, „will ich mit meinen Texten sagen!“

„Wir können uns das einfach nicht erlauben, die alle hier aufzunehmen, wir können uns das nicht leisten“, fuhr sie fort. „Das schaffen wir nicht. Es ist der falsche Zeitpunkt, es ist zu spät. Und falls wir das Ganze nicht bald wieder bleiben lassen, dann endet das fifty-fifty: Die eine Hälfte von denen lacht uns weiterhin aus, und die andere Hälfte jagt uns in die Luft.“

Maria warf ihre Serviette auf den Tisch und stand geräuschvoll auf:

„Ich muss hoch, nach den Kindern sehen“, sagte sie und lief nach oben.

Maria war ungehalten. Die Richtung, die das Tischgespräch genommen hatte, missfiel ihr. Sie hielt sich für eine Kennerin Afrikas und des Tschad, und wir, so meinte sie, würden hier nur schön gemütlich beim Punsch herumschwadronieren. Es wollte ihr einfach nicht einleuchten, wie wir Flüchtlinge aus Zentralafrika mit syrischen Bildungsbürgern in einen Topf werfen konnten. Am liebsten hätte sie uns dorthin geschickt, wo der Pfeffer wächst, und uns dort verrecken lassen. Aber sie schwieg.

Ich betrachtete ihren sich entfernenden Hintern und ihre langen, schlanken Beine in den engen Levi’s. Sogar mit siebunddreißig war Maria noch immer wunderschön.

„Maria sollte Kanzlerin werden“, meinte ich. „Maria bekennt Farbe und hat ein Gesicht. Mit Maria an unserer Spitze lacht uns keiner mehr aus.“

Zu guter Letzt haben wir in Stuttgart zwei äußerst angenehme Wochen verbracht. In einem der Vororte besaßen die Caiazzos ein großes Haus, in dem man mühelos auch doppelt so viele Leute hätte unterbringen können. Katharina bekam ihr eigenes Zimmer, und ich wohnte mit Maria und den Kindern in der Einliegerwohnung mit zwei Schlafzimmern und Bad.

Am Nachmittag vor Silvester riefen wir Piotr in Ostia an, wohin er mit seiner neuen Flamme gereist war. Maria traf Piotr jetzt hin und wieder in Berlin und fand Gefallen an ihm. Im Grunde waren beide Einzelgänger, verstanden sich also bestens. Das neue Jahr begrüßten wir zu Hause bei den Caiazzos; um Mitternacht war unsere zweijährige Karolina bereits eingeschlafen, aber die sechsjährige Magda war zum ersten Mal mit uns aufgeblieben. Das waren Momente, die berührten. Ich liebte meine Familie.

Als wir uns am dritten Januar wieder verabschiedeten, begannen sich die Medien bereits zu füllen mit Berichten über die während der öffentlichen Silvesterfeiern deutschlandweit an unzähligen Frauen begangenen Diebstähle und sexuellen Übergriffe.

Die meisten Übergriffe waren in Köln registriert worden, aber angeblich hatte es auch Fälle auf dem Stuttgarter Schlossplatz gegeben. Eine diesbezügliche erste Onlinemeldung brachten die „Stuttgarter Nachrichten“, die „Süddeutsche Zeitung“ folgte, und als erster Fernsehsender berichtete RTL.

Allerdings sollte es noch bis Ende Januar dauern, bis man ein einigermaßen klares Bild bekam. Den abschließenden Polizeiberichten zufolge waren in der Silvesternacht deutschlandweit mehr als tausend Frauen angegriffen worden. Die Zahl der Angreifer war angeblich doppelt so hoch; sie hatten in Gruppen von bis zu hundert Mann operiert. Sie hatten ihre Opfer umzingelt, um sie von der Menge zu isolieren. Dann hatten sie sie bestohlen, begrapscht, ihnen zwischen die Beine gefasst. In den Pressemitteilungen der Polizei war von den Angreifern als von „Männern arabischer oder nordafrikanischer Herkunft“ die Rede gewesen; zugleich wurde betont, dass es in Deutschland noch nie zuvor solch massenhafte sexuellen Übergriffe gegeben habe.

In einem ihrer Artikel empörte sich Katharina darüber, dass das Ganze eine Demonstration der moralischen Überlegenheit der Muslime gewesen sei:

„Das war ihre Kristallnacht. Für sie, da gilt es nichts zu beschönigen, sind wir nichts als Abschaum. Sie verachten uns. Auch in den kommenden Monaten noch werden uns Experten erklären wollen, dass diese Überfälle in direktem Zusammenhang stehen mit dem Frust der Muslime, die sich einfach abreagieren müssen, bis sie genug Geld für eine Ehefrau haben; und vorehelicher Geschlechtsverkehr wird im Islam strengstens bestraft etc. pp. Von wegen. Sie verachten uns einfach. Und wenn ihre Glaubensgenossen irgendwelche Köpfe abhacken und uns in die Luft jagen, dann hat das den Muslimen zufolge nur allzu gute Gründe, selbst wenn die uns völlig schleierhaft sind. Ihr Bombenlegen ist schlichtweg begründet, und damit basta. Haben Sie im Übrigen schon mal einen aktuellen, hier produzierten Pornofilm gesehen? Nicht von Filmen auf ‚youporn.com‘ spreche ich, auf ‚porntube.com‘ oder ‚tube8.com‘. Sondern beispielsweise von Filmen auf ‚heavy-r.com‘. Ich spreche von relativ unmotiviertem Koten, Urinieren, Erbrechen und Ins-Gesicht-spucken. Ich spreche davon, dass unsere Kinder nur einen Klick entfernt sind vom Verzehr menschlicher Exkremente. Einen Klick entfernt vom Durchbohren von Brüsten mit Nägeln. Einen Klick entfernt von den Folgen eines Sturzes unter einen Zug oder denen eines Autounfalls … Ich will ja nicht behaupten, dass das alles ins Verderben führt, denn die menschliche Sexualität ist wohl tatsächlich eine ausgesprochen vielfältige, und solchermaßen kann man sie dann wenigstens einigermaßen gesund und unschädlich ausleben. Das wiederum ist unsere Sache. Das ist unsere unmotivierte und unhaltbare Kultur … Unsere absolut ideologiefreie Form der Gewalt. Unser posthistorisches Pläsier … Deshalb also, und das meine ich jetzt absolut ironiefrei: Auf zur Verteidigung unserer Kultur! Und das ist wieder einmal das, was ich bereits an anderer Stelle betont habe. Nämlich dass wir in dem Zustand, in dem wir uns befinden, allein bleiben müssen. Der Umstand, dass ihre Kultur eine gewalttätige ist, der Umstand, dass es für massenhafte sexuelle Übergriffe in der arabischen Welt die Bezeichnung ‚Taharrusch dschamā’i‘ gibt, der Umstand, dass Frauen bei den Muslimen unterdrückt werden – all das ist in diesem Falle zweitrangig. All das ist, würde ich sagen, ihre Sache.“

4.

Als ihr Artikel veröffentlicht wurde, war Katharina bereits aus Cortina d’Ampezzo zurückgekehrt. Cortina war Sebas und Marthas Lieblingsort in den Dolomiten, in den sie jedes Jahr im Januar fuhren. Diesmal hatten sie schon vor Weihnachten mit Katharina verabredet, sie mitzunehmen. Die drei fuhren mit dem Vito Tourer, den Seba von Mercedes zur Verfügung gestellt bekam. Gleich am dritten Januar, unmittelbar nach der Abreise ihrer Kinder nach Berlin, fuhren sie aus Stuttgart los.

Das mittelalterlich anmutende Cortina war einer der luxuriösesten Wintersportorte Italiens. Im Jahr 1956 hatten hier die olympischen Winterspiele stattgefunden. Darüber hinaus war die Stadt nicht nur für ihr historisches Zentrum, die umliegenden Skipisten und die Naturschönheiten bekannt, sondern auch für das hier nach dem Skifahren stattfindende gesellschaftliche Leben, das so genannte Après-Ski. Traditionell wohnten die Caiazzos im Drei-Sterne-Hotel „Menardi“, einem typischen Berghof mit Satteldach, zahlreichen Holzschnitzereien und Wandmalereien. Seba hätte das „Hotel Menardi“ niemals gegen irgendein Boutique-Hotel mit funktionalistischem Design eingetauscht, wie sie hier in den vergangenen Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen, obwohl die Stadt sich bemühte, diesbezügliche Baugenehmigungen auf ein Minimum zu beschränken.

Das gebirgige Cortina erinnerte Katharina ein wenig an Davos. Sie genoss ihren zehntägigen Aufenthalt mit den Ski-Abfahrten und Spaziergängen sowie ihre stundenlangen Kaffeehaus-Besuche, bei denen sie auf ihrem Notebook einen Blog-Artikel schrieb.

Mitte Januar 2016 kehrte sie nach Wiesbaden zurück. Einen Monat später, als endgültig klar war, wie manipulativ, ja falsch die deutschen Medien über die Silvester-Übergriffe berichtet hatten (einschließlich dem Zurückhalten von Nachrichten und Relativieren der Vorfälle), beschloss Katharina, der nationalkonservativen AfD beizutreten.

Zufälligerweise hatte Martha in Stuttgart noch vor ihr dasselbe getan. Martha tat es für ihre Tochter, für Marias Sicherheit und für die Zukunft ihrer beiden Enkeltöchter. Im März 2016 ließ sie sich von der populistischen und islamophoben AfD als Kandidatin für die baden-württembergische Landtagswahl aufstellen. Ihre Partei gewann 15,1 Prozent der Stimmen und Martha wurde Vorsitzende der Landesfraktion.

Als Mathias von all dem erfuhr, dachte er: „Jetzt sind wir also eine einzige große Faschistensippe.“

 

5.

Mathias war amüsiert. Seine wahre Natur kam in diesen Jahren nur selten zum Vorschein; er fühlte sich jung und glücklich. Von Mai bis September lief er in kurzen Hosen herum, trug T-Shirts oder weiße Hemden mit offenem Kragen. An den Füßen trug er den ganzen Sommer hindurch Flip-Flops, und zwar nicht nur am Wasser, sondern auch auf der Letná, die inzwischen sein Zuhause geworden war. Hier kam er aus dem Staunen nicht heraus. Aus dem Staunen über sich selbst, über Prag und über Tschechien.

Er staunte, war aber absolut zufrieden und fühlte sich frei. Häufig musste er in dieser Zeit an die Überlegungen seiner Mutter zu den Stuttgarter Flüchtlingen denken, an die Einwanderer, die mit ausradierten Hirnen vor deutschen Bahnhöfen herumstanden. Er hier auf der Letná fühlte sich ähnlich, wobei das Ausradierte sich auf Tschechien an sich bezog; Tschechien war ein Land, dem eine Dimension zu fehlen schien; als ob irgendjemand einen Radiergummi genommen und einen Teil des tschechischen öffentlichen Raums ausradiert hätte. Es fehlte einfach ein Stück Realität. Das ausradierte Tschechien, sagte sich Mathias, und er fühlte sich in diesem teilweise ausradierten Land pudelwohl, denn ein Teil seines Selbst war natürlich auch ausradiert.

In Tschechien gab es weder Flüchtlinge noch Denkräume, wie Mathias sie von Deutschland her kannte: Zeitungen wie „Die Zeit“, Gespräche mit seiner Mutter und ihr Gleichgesinnten, Theater wie die Berliner Volksbühne, ernsthaft geführte Radio- und Fernsehdebatten, und alles mit dem obligatorischen Witz versehen … Diese Bürde schien einem, solange man mit ihr lebte, ganz natürlich; aber sobald man ohne sie war, fehlte einem nichts.

 

Aus dem Tschechischen von Doris Kouba