Zuzana Říhová

Durch Stecknadeln und andere Nadeln

2021 | Argo Publishers

 

KAPITEL 1

 

Sie watete im Mist herum. Ihr riesiger Bauch, der von pochenden Adern durchzogen war, spannte sich krampfhaft an und lockerte sich wieder. Ein spitzer Huf lugte unter ihrem Schweif hervor, von dem ein dünnes Schleimrinnsal tropfte. Der grau-weiße Faden riss nicht ab, er dehnte sich nach unten, bevor er in der Sommerbrise flatternd auf die Unterlage klatschte.

Er zog angewidert die Stirn in Falten und schluckte trocken. Er sah, wie Pepa am Hinterteil sitzend alles vorbereitete. Einen großer Metalleimer mit lauwarmen Wasser, einen kleinen Becher und alte Handtücher. Pepa streifte sich ein Paar lange Gummihandschuhe über, schließlich war er kein Schwein. Ohne Handschuhe greift nur der Šimečka aus Dolní Planá rein, sein Arm steckt bis zum Ellbogen drin und er findet es normal. Wie ekelhaft.

Er schob seine Hand in die Kuh, nestelte langsam ein wenig nach links, dann wieder nach rechts. Die Kuh schüttelte sich, zog ihren Bauch zweimal stark zusammen und der Huf glitt ganz heraus. Pepa zog seine Hand geschickt heraus und fing den Huf routiniert in die bereit gelegte Schlaufe des Hanfseils ein. Er zog fest zu. Die Kuh muhte unruhig. Sie konnte nicht ahnen, was an ihrem Hintern geschah. Ihr Kopf war in dem Metallgitter eingeklemmt, das gerade genug Platz zum Fressen bot.

„Brr, altes Mädchen, ho, altes Mädchen“, klopfte Pepa ihr fröhlich aufs Hinterteil. Er sah ihn an und lächelte schwach. Warum wird hier jede Kuh Alte genannt, dachte er.

Er beobachtete, wie der Huf langsam aus der Kuh hervorkroch. Dabei versuchteer , ganz normal zu wirken, ganz natürlich, ja fast gleichgültig, aber er wollte wahnsinnig gerne verschwinden, nach Hause laufen und etwas trinken. Und dann vielleicht eine Kälbergeburt auf YouTube ansehen, falls er eine sehen wollte, aber im Grunde eigentlich nicht. Die Szenerie vor ihm war voller Blut und Schleim und er fühlte sich schmutzig, selbst wenn er nur ein paar Meter von der Kuh entfernt auf dem gepflasterten Weg stand. Trotzdem wich er noch ein wenig zurück, um nichts abzukriegen, die Jacke besaß er erst seit ein paar Wochen.

Pepa grinste. Er würde diesem Bürschchen zeigen, wie man es macht. Raues Dorf, raue Menschen. Er schnaubte. Ein Schnösel aus der Stadt, beiges Jäckchen, beige Halbstiefelchen, so kommt der mir in den Stall. Guckt das Kalb an, als hätte er noch nie Kalbfleisch gesehen. Sicher ein Vegetarier. Sicher ein Vollpfosten. Aus der Nähe würde er den subtilen Duft von Parfüm riechen. Doch er steht am Hinterteil der Kuh und zieht das Kalb heraus. Die Kuh wirbelt mit dem rechten Bein nach ihm, woraufhin er ihr einen kräftigen Tritt verpasst. Dann wandte er sich an Bohouš. Der stellte sich zwar als Bohumil vor, aber so stellt sich nur ein Schwachkopf vor, wusste Pepa. Ich bin ja eigentlich auch ein Josef, dachte er und kratzte sich im Schritt. Es war heiß.

„Ich schwitze wie eine Schwein im Stall.“ Er sah ihn wieder an. Haha, da guckt er blöd aus der Wäsche, Schluss mit der Gefühlsduselei. Er trat die Kuh erneut, sie zuckte vor Schmerz.

„Na komm, altes Mädchen, das kennst du doch schon.“

Pepa nestelte erneut an dem Seil und ging bis tief in die Scheide. Er drehte seine Hand und tastete in der dichten Dunkelheit der Gebärmutter. Er liebte es, zu gebären.

Bohumil konnte einfach nicht wegsehen. Sein Blick heftete sich an die Hand, die bis zum Handgelenk und denn bis zum Ellbogen in der Kuh verschwand. Um Himmels willen, bis wohin will er gehen? Sein Magen drehte sich ein wenig um. Er öffnete verwundert den Mund, ohne es zu merken. Mein Gott, wie er dort herumfischt, das Gelände durchforstet! Ein dünnes Rinnsal Blut tropfte von Pepas Ellbogen herab. Er hat es, sooo, da ist es. Er wickelte den vorbereiteten Strick um den anderen Huf, lächelte unmerklich, nun sollte es flutschen. Es zog an, aber nichts passierte. Er probierte es nochmal, wurde rot vor Anstrengung. Er stützte sich mit den Füßen ab, zog am Seil, furzte, bestimmt hatte er gefurzt, aber das Kalb kam nicht aus der Kuh.

„Halt mal kurz fest, mein Junge, ich muss mal mein Werkzeugkästchen holen“, sagte er und reichte ihm das Seil. Bohumil sah sich in dem leeren Stall um. Oh ja, er redet mit mir. Oh nein.

Er machte ein paar Schritte und übernahm automatisch die Gurte. Er zog es vor, keusch ins Heu und auf die Kuhfladen zu schauen und schämte sich für die zerlumpte Scheide, aus der die scharfen Hufe ragten. Ein Rinnsal Schweiß rann ihm den Rücken hinunter. Er hörte die Fliegen, wie sie laut in sein Gesicht flogen, wie eine ihm ins Ohr krabbelte. Er rührte sich nicht, wollte die Kuh nicht erschrecken. Er hatte Angst vor ihr. Sie war riesig. Er stand neben ihrem Hinterteil, begutachtete das von Fruchtwasser zermatschte Heu, dann den weißlichen Schleim an seinem rechten Stiefel und ließ sich von den Fliegen anknabbern.

So geschieht es mir recht. Ich stehe in einem Kuhstall, meine Schuhe sind mit zähem Schleim beschmiert und ich führe ein Kalb an der Leine, sagt er sich. Wenn ich nur nicht die ganze Zeit Lust hätte, loszuweinen.

Er hob seinen Blick auf die Höhe der Hufe, die hilflos herausragten. Die Kuh tat ihm schrecklich leid, einen Moment lang tat sie ihm sogar mehr leid als er sich selbst.

Pepa kam mit einem riesigen Metallgestell zurück.

„Hey, gehst du etwa mit dem Kalb spazieren, oder was?“ Er knuffte ihn. „Gib schon her“, sagte er und begann, die Konstruktion um das Hinterteil der Kuh aufzubauen.

Bohumil schluckte. Wenn er ihr auch noch das reinstopft, muss ich kotzen.

Er gab ihm die schreckliche Leine zurück und trat schnell wieder auf den gepflasterten Weg. Mit einem Handgriff befestigte Pepa das Hinterteil der Kuh an der Metallkonstruktion und führte die Seile, die die Hufe umschlossen, in den Hebel ein. Er begann zu pumpen und das Kalb kam langsam in Bewegung. Das alles dauerte furchtbar lange. Pepa, ganz rot im Gesicht, rührte mit der Hufe hin und her, das Kalb saß offensichtlich fest. Er pumpte wie ein Verrückter, zog noch ein paar Male, und in einer riesigen Schleimwelle kam ein Kopf mit erstaunten Augen zum Vorschein. Bohumil blickte fasziniert hinein. Sie schienen allwissend zu sein. Als ob ein Kalb die Prophezeiung in die Welt bringen würde. Er wusste, dass er eine solche Veränderung brauchte, dass er sehnsüchtig darauf wartete, dass er sie suchte, dass er für diese Veränderung teufelnochmal hierher gekommen war, oder etwa nicht? Der Kopf des Kalbes war ganz schwarz, aber es hatte einen kleinen weißen Fleck auf der Stirn, nein, er rümpfte die Nase, sieht eher aus wie ein Stern, es sah ein bisschen aus wie ein heiliges Kalb, schließlich lächelte er ein wenig. Gespannt wartete er darauf, was das Kalb predigen würde. Welche Chancen er und seine Familie hätten. Er selbst gab sich nicht sehr große.

Das Kalb war völlig hilflos. Es wurde fast blind geboren, seine Vorderbeine hingen schlaff herunter wie ein schütteres Zöpfchen einer alten Dame. Es war nur halb draußen und hing aus der Kuh heraus wie eine verwelkte Blume in der Vase. Pepa sammelte nochmal seine Kräfte. Das Kalb klatschte leise auf das Heu, fast schon zu leise, fürchtete Bohumil. Ist das normal? Hoffentlich lebt es, dachte er und presste die Zähnen zusammen. Es kam auf die Welt, ohne zu schreien oder zu stöhnen. Bohumil nickte, als ob er es erwartet hätte. Gesandt wurde mir Schweigen. Stille und Schweigen. Ich bin allein, ich bin böse und ich wünsche mir, dass niemand mehr glücklich ist. Er sprach leise vor sich hin und sah zu, wie sie das Kalb zum Leben erweckten, es mit Stroh einrieben, seinen Rumpf stupsten und sein Herz massierten. Er wünschte sich, dass jemand die umgekehrten Bewegungen an ihm ausführte. Um ihm das Leben zu nehmen. Um diesen bösen Menschen fortzunehmen, der vom Schweigen seiner Nächsten, die ihn nicht liebten, umgeben ist.

„Was stehst du hier rum, Mann? Das war’s, Ende der Veranstaltung“, sagte Pepa und bespritzte ihn etwas mit dem Wasser, das er über das Kalb goss. Er versucht es auf die Beine zu stellen. Bohumil glaubt, dass er die Kuh und das Kalb ein wenig zu sehr unter Druck setzt. Kann er es nicht einen Moment in Ruhe lassen? Es muss doch zu Atem kommen. Damals ließ man ihnen den Jungen fast eine halbe Stunde lang, bevor er zum Blut- und Schleimabwaschen weggebracht wurde.

Die Kuh drängt es zum Kalb, aber die Metallstangen hindern sie an der Bewegung. Sie spürt das neue Leben, noch feucht und wackelig. Sie kann sich nicht einmal nach ihm umsehen, tritt auf der Stelle und muht vor Erschöpfung. Endlich ein Ton, er hatte sich schon in einem Stummfilm gewähnt: ruckartige Bewegungen, aufgezeichnete Stürze, ein Schelmenstück und doch eine schwere, ausgeblichene Decke der Traurigkeit über all dem. Pepa macht das Kalb sauber und schüttelt es. Nicht so heftig, wollte er wiederholen, aber sie würden ihn nur auslachen. Übrigens sind sie schon fast alle hier, die großen Dorftypen. Sláva, der Wildhüter, lebt am Feld. Er ist fast zwei Meter groß, hat dichtes graues Haar, spricht wenig und langsam. Milan muss direkt aus der Kneipe gekommen sein. Er fährt immer auf Montage nach Hradec. Sein Einser ist abgebrochen wodurch er eine weiche, leicht lispelnde Aussprache hat. Es scheint ihm gut zu gehen. Die beiden Typen, die in Richtung Stall schlurfen, kennt er noch nicht.

Pepa hatte seinen Blick zur Straße aufgefangen, hörte auf, das Kalb mit Stroh abzureiben und drehte sich um.

„Das sind die Buchteln“, grinste er. „Zwei Freunde aus Prag. Sehr gute Freunde, du verstehst doch, oder?“ Er zwinkerte Bohumil bedeutungsvoll zu.

Wieder begannen seine Knie zu zittern. Seit er hierher gezogen war, hatte er nicht mehr ordentlich geschlafen. Sicher, in der Stadt beschwert sich jeder über Autos und Straßenbahnen, die Nachts fahren. Aber wegen eines Hahns? Nicht zu schlafen, weil sein Leben in den letzten Wochen den Bach runtergegangen ist, ist eine Sache. Doch hier kann man nicht schlafen, definitiv nicht nach fünf Uhr morgens. Er weiß nicht genau, woher das Krähen kommt. Aber er wird ihn schon noch kriegen und dann schlitzt er ihm die Kehle durch. Er wollte es so sehr. So sehr wünschte er sich das Aufschlitzen. Er spürte, dass die Zeit für Gewalt reif war, er konnte diese Wut nicht länger unterdrücken. Aber allein der Gedanke an das Messer bereitete ihm ein unangenehmes Flattern im Magen. Dann musste er an Züge denken. Das half. Fast immer. Durum, durum, durum, durum.

Das Männerpaar trudelte ein. Einer der beiden trat näher an das Kalb heran. „Oh, ist das aber süß, echt niedlich.“

Pepa senkte den Blick und trat leicht gegen das Metalltor.

“Oh mein Gott, tut mir leid, ich habe mich nicht einmal vorgestellt, aber das Kälbchen ist echt unglaublich.“ Er erhob sich und reichte Bohumil die Hand.

„Josef Broumský.“

Pepa sah sich die ganze Vorstellungsrunde an, trat heftiger gegen das Tor, wandte seinen Blick ab und zuckte ein wenig mit dem Kopf. Du Hübscher, Josef, Josef, trat noch einmal, bis es klirrte.

“Bohumil Novotný”, stellte er sich vor.

Der andere Mann schüttelte Bohumil die Hand. „Michael Horna. Schön, Sie kennenzulernen.“

Pepa starrte auf den Boden. Na klar doch, Michael.

„Wir haben schon von Ihnen gehört. Wie lange sind Sie schon hier?“, fragte Josef, immer noch dem Kalb zugewandt.

„Zwei Wochen, zwei.“ Aber es waren schon vier Wochen. Vier Wochen in Podlesí, ein ganzer Monat Hochsommerhitze in diesem hintersten Loch.

„Ach, das ist ja fast gar nichts, es ist für Sie bestimmt noch alles ganz neu hier, nicht wahr?“

Bohumil nickte unmerklich.

“Und Sie bleiben länger, oder nur für den Sommer, um der Stadt zu entfliehen?”

„Ja. Ich meine, ich denke schon, vorerst dauerhaft.“

Pepa grinste blöd und stieß seinen Fuß in das Kalb: „Wo sonst findet man so frisches Kalbfleisch?“

Auf dem Bauernmarkt aufm Mírák, mitten in Prag, wollte er schon sagen, aber letztendlich schwieg er. Er hatte das Gefühl, dass dies sein neuer Beruf war. Im Kuhstall zu stehen, das heißt, im Sommerstall davor, zu nicken, zu starren und nie wieder etwas zu sagen. Diesem Schweigen zu erliegen, darin versinken wie in Meeresschaum. Den Mund mit Salzwasser füllen. Und immer tiefer sinken in die totale Stille und metallische Dunkelheit, meilenweit hinab zu Kreaturen, die niemand je zuvor gesehen hat. Außer ihm, Bohumil Novotný. Aber sonst niemand. Er schaut schweigend. Er blickt in ihre ovalen Mäuler. Er wartet ab, ob es in Podlesí Liebe oder Nichtliebe geben wird. Nichts dazwischen.

Er ging auf Pepas Vorschlag ein, sich in der Kneipe zu treffen. Dann saufen wir einen, sagte er zu ihm. Ein paar Biere und noch einige Grüne dazwischen, dachte Bohumil. Trinkt man hier noch Grüne? Er sah sich um. Ja. Hier trinkt man sie definitiv, auch mit Milch. Und wieder das Bedürfnis, böse zu sein. Er sagt ihnen, ja, ich weiß schon, dass ihr morgen früh alle davon kotzen werdet, und dann hopp hopp ohne Dusche in den Blaumann, in den Laden um die Ecke zum Blubbi für n Antikaterdrink und was Saures. Ich muss runterkommen, sagt er sich. Lächeln. Nein, das ist zu viel. So, das ist besser. Nur ein leichtes Anheben der Mundwinkel. Ich muss nicht wie ein weiterer Vollidiot aussehen.

Ich werde in Podlesí leben. Nicht weil ich will, sondern weil ich muss.

„Und, sollen wir einen heben gehen?“, fragte Pepa erneut. Bohumil sah zu, wie das Kalb in den Bau getragen wurde. Nein, der Bau ist es bei Kaninchen. In die Hütte. Das passt auch nicht. Ein Verrückter muss sich dieseTerminologie ausgedacht haben, denkt sich Bohumil, jedem Tierchen sein eigenes warmes Plätzchen.

„Du, das wird heute glaub ich nichts.“

„Wir können auch nicht, wir haben ein Kaninchen im Ofen“, stimmte Michael ein, obwohl ihn niemand direkt gefragt hatte.

Zum ersten Mal lächelte Bohumil aufrichtig. Er stellte sich ein lahmes weißes Kaninchen mit roten Augen vor, wie man es für Kinder kauft, die nur Einsen schreiben, und das sanft mit seiner rosa Nase in der Ecke des Ofens schnüffelt. Er fing ihre erstaunten Blicke auf. Schnell zog er sein Grinsen wieder in ein akzeptables, neutrales Lächeln zurück, so dachte er zumindest. Sein Eckzahl blieb an der Unterlippe hängen, sein Mund verzog sich nach links, seine Augen aber hörten nicht auf zu lächeln. Er sah aus wie ein Verrückter.

„Aber vielen Dank für heute, das war super.“ Er wusste nicht, wie er die erfolgreiche Geburt am Besten aufwerten sollte.

„Gern geschehen, komm morgen vorbei, vielleicht weiß ich dann etwas. Aber jetzt im Sommer werkeln alle, die Beine haben, auf dem Feld oder auf dem Hof oder so“, sagte Pepa.

„Danke. Ich werde kommen“, sagte Bohumil, „und danke.“ Wieder bedankte er sich, weil er es nötig hatte, sich zu bedanken.

Er verließ den Kuhstall zusammen mit Josef und Michael. Aber er wollte schon so gerne allein sein. Er muss sich irgendwo im Gebüsch ausheulen, sonst erstickt er.

„Wie lange habt ihr schon das Häuschen hier?“, fragte er um die Aufmerksamkeit von ihm weg zu lenken. Schließlich will doch jeder nur über sich selbst sprechen, ausschließlich über sich.

„Das ist unser zweiter Sommer. Es ist schön hier, echt schön. Vor allem für Fahrradtouren. Langsam sind wir immer öfter hier, manchmal fahren wir gar nicht mehr nach Prag zurück.“ Träumte er gerade? War das ein Seufzer?

„Und du wohnst also wirklich hier? Du kommst auch aus Prag, stimmt’s?” fragte Michael, und Josef wiederholte traurig: „Es ist schön hier.“

Wie Schauspieler. Aus der Werbung. Echt schön, echt schön und billig und die zweite Packung gibt’s gratis dazu.

Beruhige dich, hör auf.

„Ja, ich komme aus Prag, aus Holešovice. Und ja, ich lebe jetzt hier, das tu ich. Ich wohne in Podlesí”, wiederholte er, um sich selbst davon zu überzeugen. In seiner Stimme schwang die Angst eines Mannes mittleren Alters mit, der sich für das entscheiden musste, was er nicht wollte, was er nicht aushalten kann, was ihm die Augen tief in die Augenhöhlen drückt, was ihn in Scheiben schneidet, bis bald nichts mehr von ihm übrig ist. Wie Blubbi, der Salami auf der Schneidemaschine im Gemischtwarenladen schneidet, rollt eine Scheibe leblos auf die nächste und das letzte Stück, das nicht mehr als Brotbelag taugt, dieses pogleiche Restchen mit einer Schnur hintendran, das ist das einzige, was auch von ihm übrig bleibt. Blubbi stopft sich den Hinternverschnitt normalerweise gleich im Laden in den Mund, wenn gerade niemand guckt. Und was macht er, wenn niemand hinsieht und seine Augen mit weißem Nebel überzogen sind? Er schämt sich. Er hockt sich hin und heult. Er kann nicht anders. Es geht nicht, er kann nicht anders als weinen.

„Ich wohne da drüben.“ Er hob seine Hand, die von Schlaflosigkeit schwer war. Seine Finger zitterten heftig. Michael warf Josef einen bedeutungsvollen Blick zu. Bohumil zog seine Hand schüchtern an seinen Körper zurück. Aber hey, Jungs, darüber könnt ihr euch doch zu Hause unterhalten, wie seltsam ich bin, dass ich wahrscheinlich trinke, weil meine Hände so zittern, werdet wahrscheinlich denken, dass es die Schulden sind, die einen Prager dazu zwingen, in eine alte Hütte ins Grenzland zu ziehen. Wenn ihr erfahrt, wie hinüber meine Frau ist, welche Narben sie an den Händen hat, werdet ihr anfangen, mich mit Respekt zu grüßen, aber aus der Ferne, und wenn ich nach den Mücken schlage, die vom Teich herüberfliegen und schmerzhaft in die Schenkel zwicken, dann werdet ihr ein wenig zucken. Dann werdet ihr euch zwar geknickt fühlen, euch aber zur Seite drehen und euren Kopf zwischen die Schultern verstecken, bevor ich mit der Bewegung fertig. Wie ich schon sagte, das alles könnt ihr zu Hause besprechen, bei einem Gläschen. Meine Augen werden heute Nacht nicht weiß sein, sie werden blutig sein von eurem Wein. Oh, kommt schon, Leute, wirklich erst zu Hause, denn ich kann diese bedeutungsvollen Blicke nicht mehr ertragen.

„Ja, ja, wissen wir schon, da drüben“, nickte Michael in Richtung der Schlucht, in der Bohumils Haus stand. „Wirklich schön. Es gibt bestimmt viel zu reparieren, nicht wahr? Aber wie wir schon sagten, die Landschaft hier ist echt wunderschön.“

Scheiß auf die Natur.

„Ja, schön“, nickte er.

Nie benutzte er unflätige Worte, niemals, er hasste sie. Jetzt fallen ihm nur noch die schlimmsten ein, als ob er sie alle auf einmal ausprobieren müsste. Er wollte etwas wirklich Derbes herausbrüllen. Sich mit dem Dreck aus seinem eigenen Mund erfrischen, sein Zahnfleisch mit dem Widerwärtigem aus seinem Inneren bestreichen. Ruhm ist ein verwichster Scheißkerl!

Es ist schlimm, wirklich schlimm. Ich muss hier schleunigst weg, sonst fange ich an zu schreien.

„Hey du, wir gehen dann mal, aber wir sehen uns bestimmt wieder, was?“

„Ja, logo, klar doch.“

„Komm safe vorbei, wenn du in der Nähe bist. Klopf einfach an die Tür, egal an welche. Normalerweise sind wir am Abend zu Hause“, sagte Michael und nickte ihm zu.

„Und wir machen echt coolen Kaffee“, fügte Josef hinzu.

„Klaro. Danke.“ Ich brauche einen Schnaps. Er bog scharf in den Waldweg ein, der steil nach unten führte. Ich genehmige mir einen. Ohne Widerrede. Er ging an den Blockhütten der Prager vorbei. Rasen schön gemäht, geglättet, gesaugt. Die Blumen schön eingebettet. Auch der Kopf. Jeden Tag wird gegossen, der Zaun getrimmt, die Liegestühle für die Nacht ordentlich im Schuppen geparkt. Man fährt in den Baumax und zum Obi und geht auf Blumenausstellungen. Und ins METRO, die Großverbraucher. In der Ecke steht ein Johannisbeerstrauch, jeden Sommer so voll ist wie ein Babypopo Pusteln hat. Lauter Ohrwürmer und Wespen krabbeln dran, aber man kann es doch nicht wegschmeißen. Und die Grillsessions! Nur das Beste Geräucherte, und erst der Fisch! Und wenn man genug gespart hat, gibts einen Pool. Damit wird’s besiegelt. Der Garten ist wunderschön. Unser Garten, wunderschön. Gefällt es dir also? Findest du es schön? Ist doch schön, oder?

Er blieb stehen und holte tief Luft. Es gärte in ihm, zischte wie in einer Flasche verdorbenen Federweißer. Mit dieser Einstellung werde ich hier nicht überleben, das weiß ich. Heute werde ich noch einen trinken und mich irgendwo verkriechen, um meine Wunden zu lecken, aber ab morgen muss ich was unternehmen. Es hier schön zu finden. Natur, Ruhe, saubere Luft und nette Leute. Nette Leute, na ja, aber habt ihr’s gesehen? Fast musste er laut lachen. Das wird nicht funktionieren. Meine Liebe, es ist uns alles durch die Finger gerannt, bei dir zwischen deinen Beinen.

Er verließ die Häusergruppe und auch die letzte ebenerdige Fläche in der Nähe des Waldes, auf der ein Auto noch fahren konnte. Es dämmerte. Er hatte es schon einige Male erlebt. Die Sonne verwandelt sich in eine blutige Orange. Und dann nur Dunkelheit. Dicke, zähe Dunkelheit. Selbst jetzt, im Sommer, weht ein eisiger Atem aus dem Wald in Richtung der Hütten. Wenn man draußen sitzt, ist es noch warm, aber sobald man reinkommt, ist es kalt in der Brust und man kann kaum atmen. Auch jetzt. Er glaubt, dass sein Herz kalt wird, spürt, wie das Klopfen nachlässt. So stellt er sich den Tod vor. Er hat Angst vor dem dunklen, kalten Wald hinter der Hütte. Tagsüber ist es völlig still. Vielleicht ein paar Pilzsammler. Aber sobald es dunkel wird, knackt es im Wald, die Nadeln ertönen unter den Hufen von Gottweißwas. Nachts wird er von seltsamen Grunzlauten und Bellen geweckt, angeblich bellen Hirsche, aber das kann kein Hirsch sein. Klingt wie ein Mufflon, aber jeder würde ihn auslachen, wenn er behauptete, dass Mufflons hinter seinem Haus jaulen. Nein, das tun sie nicht, verdammt noch mal, wie machen denn Mufflons? Er hätte nie gedacht, dass er hier einmal nach Worten suchen würde. Hier, wo jeder Dorfbewohner über einen Wortschatz von zweitausend Wörtern verfügt. Passiv. Er verlangsamte seinen Schritt. So geht es nicht, ach du meine Güte. Er jammert, murmelt, murrt. Vielleicht sind die Leute hier nett. Ja, aber hast du mal mit ihnen gesprochen? Einen Schnaps, ich brauche einen Schnaps.

Es ging steil bergab, das letzte Häuschen auf dem bewohnten Hügel unterhalb der Straße lag weit hinter ihm, er taumelte bergab in das Herz der Schlucht. Die Blutorange verblasste, so dass er instinktiv sein Tempo erhöhte. Es ist wohl kein Mufflon, aber irgendetwas lebt in diesem Wald. Und das klingt nicht gerade freundlich. Ihm fiel auf, dass sich nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr außerhalb der Hütten und des Gasthauses aufhielt. Aber warum auch? Das hypnotisierende Auge des Fernsehers. Aber vielleicht haben sie Angst. Er kann es an ihnen riechen. Die Menschen von Podlesí strömen etwa aus. Er zitterte vor Kälte. Nun reicht’s aber. So überlebe ich das nicht. Und ich bin gerade deshalb hier, um zu überleben. Wir sind hierher gekommen, um zu überleben. Bei seinem schnellen Schritt kam er ein wenig ins Keuchen. Aber seine Haus lag am Fuße der Schlucht. Die Hütte war eine Schlucht. Der Ort, an dem niemand mehr wohnen kann. Dort wohnen Bohumil und Bohumila. Und der Junge.

Er stolperte, konnte seine Schuhspitzen nicht sehen. Oh nein. Er blickte ängstlich in den Himmel. Die Orange ist in den Schlund der samtenen Dunkelheit eingebrochen und wird dort gierig verschlungen. Der süße Saft spritzt ihm bis auf die Schultern. Es klebt. Er wurde schneller. Etwas Dunkles umgab ihn, die Nacht nieste ihm ins Gesicht. Oh nein.

Entschuldigen Sie, junger Mann. Ich werde mich einfach zur Seite trollen, dort rübergreifen und mich da ausbreiten, und Ihnen junger Mann meine Angst und Bangen in den Rücken hauchen. Junger Mann! Sie müssen sich doch geschmeichelt fühlen, nicht wahr? Falten, die sich von den Handflächen bis zum Rücken erstrecken, der Kopf geduckt. Die Geheimratsecken glänzen vor Schweiß, das Haar wird nicht mehr, oh, es wird nicht mehr. Die Brust hat sich gelockert und sich in kleine Öhrchen verwandelt. Aber vielleicht liegt das Beste noch vor uns, habe ich recht? Machen Sie sich also keine Sorgen. An Angst kann man nicht sterben. Sie verstopft die Arterien, das ja, schnürt das Herz zusammen, aber niemand bekommt in den letzten Tagen Dunkelheit, Angst, Einsamkeit, geschweige denn Nacht. Denn die Angst, die ich nach Einbruch der Dunkelheit in Bauernhäuser und Katen hineinblase, ist samtig weich. Ich verstehe, dass das Knurren und Bellen aus dem Wald, das bis an die Haustür dringt, die Freude nicht gerade steigert, aber man darf sich, mein liebes Kind, nicht alles so zu Herzen nehmen. Komm und setz Dich kurz zu mir, wir setzen uns kurz hin, stecken die Finger rein und dann geht’s weiter. Wo sollen wir sie hinstecken? Na wo es weh tut und blutet, nicht dort, wo es kitzelt. Heben Dir das für den nächsten Tag auf, dieses Kitzeln und mit der Nasen über die Rippen reiben, um ein Kinderlachen herauszukitzeln. Ich werde mich in Deinem Elend suhlen. Ich werde diese zitternden Finger lustvoll in meinen Mund nehmen, mich von Deiner Angst ernähren, sie von Deinen zusammengepressten Lippen saugen. Gib mir zu trinken, Du Mistkerl, Du gehörst jetzt zu mir, ich ziehe Dich so fest an mich, bis Du keuchst, so labe ich mich am besten an Deinem langweiligen, aber süßen Kummer.

Die Nacht stößt ihm in die Rippen, aber er kann nicht schneller gehen. Aber er rennt doch! Er eilt durch den Abgrund nach Hause. Nach Hause? Endlich sieht er das Licht auf der Türschwelle, streckt die Arme vor sich aus, damit ihn der Staub der zerbrochenen Lampe vor der aufdringlichen Nacht schützt. Das Licht über dem Tor umarmt ihn sanft, die Nacht zieht ihre mageren Krallen zurück und zischt, Du weißt, was Dich hier erwartet, es wird fast wie der Tod sein, so ist er, der dunkle Waldtod.

Er stürmte zur Tür herein, sein verschwitztes Hemd klebte am Rücken.

„Was machst du hier, spinnst du?“ Sie ging an ihm vorbei, schob den Wäschekorb mit dem Fuß vor sich her, weil ihr Arm immer noch schmerzte.

„Nichts.“ Er hielt den Atem an und blickte nicht wieder in Richtung Wald zurück. „Ein Kalb wurde geboren“, sagte er hilflos.

„Gut, dass ich das auch weiß.“ Sie schob die Wäsche bis zum Wäscheständer, stolperte über etwas. Sie fluchte und begann die Wäsche aufzuhängen.

„Soll ich dir helfen?“

„Mach ihm lieber das Essen warm, er ist reif fürs Bett.“

Ok, ich gehe nur schnell duschen.“

„Es sei dir vergönnt.“

Er zog die Schultern zusammen. Darin ist sie gut. Ihm sagen, dass er stinkt. Ohne es wirklich zu sagen. Sie ist echt gut.

Er schloss sich im Badezimmer ein, zog sein Hemd und seine Hose aus. Er war furchtbar abgemagert. Wann hatte er sich das letzte Mal richtig sattgegessen? Er setzte sich auf den Badewannenrand und betrachtete seine haarigen Fußrücken. Mein kleiner Hobbit, lachte sie ihn immer aus. Werden sie jemals wieder spielen? Er trommelte mit dem Zehen auf die hervorstehende Fliese. Der Fugenmörtel war entlang der Wanne ausgehöhlt und bildete geräumige Spalten für Hornissennester. Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich werden sie nie wieder spielen. Er kletterte in die Wanne, noch bevor er das Wasser anstellte. Neben dem Abfluss hockte eine Spinne. Bohumil schaut sie an, die Spinne bewegt sich nicht. Nicht ein bisschen. Verpisst euch, ihr Tiere, verpisst euch einfach. Du solltest irgendwo hinter einem Schrank verschwinden. Was glotzt du so? Die Spinne entfernte sich vom Abfluss entfernt, war aber immer noch unten.

Ich sitze mit einer Spinne in der Badewanne, sagte er und schneuzte sich in die Finger. Er blickte sich um. Das Bad ist schimmelig, das Karma bleibt außen vor, das Wasser läuft rostig. Die dicken Mauern lassen die Sonne nicht herein, es ist hier immer ein wenig kalt.

Von der Badewanne aus griff er in der Werkzeugkiste unter der Spüle und holte ein kleines Messer heraus. Die Kachel in der Ecke da ließ sich abziehen, er wollte schon lange sehen, was sich dahinter befand. Er stocherte unter den Kacheln und versuchte, weiter hineinzukommen. Plötzlich spürte er eine Spannung. Bildete er sich das nur ein, oder hielt jemand das Messer von der anderen Seite? Und zog daran. Bestimmt träumte er das nur. Er hatte das Gefühl, dass noch jemand in diesem Haus lebte. Und die Spinne nickt ihm zustimmend zu: Ja, hier lebt etwas, in der Hütte und hinter der Hütte. Und diese Fliegen! In der Nacht nerven dich diejenigen, die du tagsüber nicht erwischst. Sie krabbeln auf dein Gesicht, in deine Ohren und in deinen offenen Mund. Igitt. Von den Mücken will ich gar nicht erst reden. Die Fenistil-Tube ist fast aufgebraucht. Alles ist durchsetzt von Schimmelpilzen, sie breiten sich auf dir aus, wenn du schläfst. Und gerade wenn du endlich eingeschlafen bist, läuft etwas im Hof herum. Sanftes Scharren, Rückenreiben an der Wand, Heben der schweren Pfote und Urinieren. Am Morgen ist die Ecke der Hütte noch feucht. Ich weiß, dass du darüber bescheid weißt. Ich habe heute Morgen deine Augen gesehen. Sie sind so vollgestopft mit seinem nächtlichen Gebell wie die Augen des Fuchsjungen auf dem Regal in der Kneipe. Solche Perlen, glitzernde kleine Gläser. Die Spinne gerät ins Grübeln. Sie folgt einer Leitung mit rostigem, lauwarmem Wasser und steigt dann zum Wasserhahn hinauf. Träumst du vom Meer?

Bohumil ließ das Wasser an. Die Spinne rutschte im Wasserschwall fast den Ausfluss runter, kletterte aber schließlich irgendwo hinter der Wanne. Eigentlich ist es egal, dachte Bohumil, gerne auch mehr Spinnen, im Dickicht. Er ließ den Duschkopf von seiner rechten Schulter zu seiner linken und wieder zurück wandern. Er dachte ans Meer.

„Bist du fertig?“, kam es von draußen.

Er nickte.

„Ich werd’s ihm nicht warm machen.“

„Klar. Komm ja schon.“ Er rehte das Wasser ab und schaute sich um. Ein Handtuch, wo ist gottverdammtnochmal ein Handtuch? Er hatte keine Kraft sie zu bitten. Jetzt nicht mehr, bloß kein Bitten. Er kroch aus der Wanne. Dann schüttle ich mich halt irgendwie ab. Er ging leicht in die Knie und versuchte es. Zum zweiten Mal an diesem Abend musste er lächeln. Zum ersten Mal musste er fast lachen. Er schüttelte die Beine und den nackten Hintern und kicherte. Dann zog er die gleichen Sachen an und trat aus dem Badezimmer. Eine Wasserlache blieb hinter ihm zurück, sie wird sauer sein.

„Es steht auf dem Herd, du brauchst nur anzuschalten, ich muss jetzt echt mal die Sachen durchgehen. Ich hätte es schon heute nachmittag wegschicken sollen“, sagte sie und knallte die Schlafzimmertür hinter sich zu.

Er zündete ein Streichholz an und verbrannte sich. Zu Hause hatten sie nie Gas, nur ein Cerankochfeld. Er zündete ein neues Streichholz an, drehte das Gas auf und es machte einen Puffer. Der Raum stank nach verbrannter Haut.

„Wo bist du gewesen?“ Der Junge nahm ihn in Augenschein. Er saß auf der Couch vor dem ausgeschalteten Fernseher, er war noch nicht angemeldet, also konnte man nur Videos anschauen.

„Im Dorf.“

„Und wie war’s?“

„Gut. Ein Kalb ist auf die Welt gekommen.“ Wenigstens hier würde auf Interesse stoßen, das wusste er.

„Echt jetzt, was für ein Kalb?“

„Ein schwarzes mit einer weißen Landkarte mitten auf der Stirn.“

„Was ist das, eine Landkarte?“

„So ein Bild von der Welt, von Städten und Dörfern und so.“

„Und warum hatte es das Kalb auf der Stirn?“

Stopp, nochmal zurück von vorn. Das Gespräch dorhin zurückführen, bevor er auf die Karte zu sprechen kam. Weil er dem Kind die Karte nicht erklären konnte. Anfängerfehler. Man kann ihm ansehen, wie er völlig neben der Spur ist. So kann man nicht mit dem Kind reden, das führt nirgendwo hin. Er ist zwölf Jahre alt, aber in seinem Kopf ist er etwa sechs, vielleicht sieben. Der letzte Heiler war so ein netter Kerl, der sagte sieben. Und sie freuten sich darüber. Und dann gingen sie zur Feier des Tages ein Eis essen.

„Entschuldige bitte, ich habe mich geirrt. Das war keine Landkarte, sondern ein weißer Fleck.“

„Wer hat ihn hingeschmiert?“

Er drehte sich zum Topf um und begann wütend zu rühren. Herr Fragemann, so nannten sie ihn in der Spezialklinik in Prag. Wie geht’s dir? Wie geht’s dir? Niemand weiß, was mit ihm los ist. Er hat alles durchgemacht, was die Kinderpsychologie zu bieten hat. Und Grütze im Köpfchen. Aber was sagt das alles? Er liebt seinen Sohn. Er ist ein lieber Junge. Es ist einfach nur schwer, mit ihm zu leben. Alle haben es im Moment schwer.

„Gleich fertig, setz dich an den Tisch. Hast du dir die Hände gewaschen?“

„Hab ich.“

„Kannst gerne was schauen,“ sagte er und reichte ihm die Videofernbedienung. Dann kletterte er in den Sessel am Fenster. Die Musik aus Herr der Ringe hallte durch den Raum. Wie jede Woche, wie fast jeden Abend. An anderen Tagen nimmt er es gar nicht wahr, heute hämmern die Hobbits in seinen Kopf. Bohu arbeitet im Schlafzimmer nebenan, er kann tatsächlich fast allein sein. Er ist allein. Er sieht sich um und schließt die Augen. Er ist allein.

Der Junge saß am Tisch, aß und folgte erwartungsvoll die Elfen. Bohumil ging an die Kommode neben dem Kühlschrank und holte eine Flasche Jack Daniels heraus. Es reichte kaum für zwei Ladungen. Dabei hatte der Abend gerade erst begonnen. Schlecht. Das ist echt schlecht. Zum Späti wird er hier nicht gehen. Aber vielleicht aufs Feld.

Er saß im Sessel, trank und beobachtete, wie Frodo verschwand, dann war er wieder da und verschwand wieder.

Der Junge hatte aufgegessen, ohne den Blick von dem Film zu wenden. Bohumil brachte den Teller zur Spüle und wusch ihn ab. Natürlich gab es keinen Geschirrspüler, denn wer braucht schon einen Geschirrspüler? Was nützt es, im Dorf Zeit zu sparen? Wenn sie diese ewig wiederkehrende Arbeit einstellen würden, würde das Nichts der eigenen Existenz sie mitsamt den Hosen auffressen. Er putzte den Herd. Deshalb wir alles schön händisch poliert. Und wenn drinnen alles fertigpoliert ist, macht man sich über den Garten her, ein Paradies der endlosen nutzlosen Arbeit. Beetchen und Röschen und Kräuterchen und Gewächshaus und Kakteen und Sukkulenten und Gießen und Gießen, und die Klärgrube macht sich auch nicht von alleine sauber. Und wenn dann alles geklappt hat und alles fertig ist und nichts im Fernsehen kommt, dann wird eingekocht. Na also, geht doch. Es wird wunderschön werden und die Welt wird zugrunde gehen. Nicht ein Quentchen Zeit, uns zurückzulehnen und uns zu sagen, dass das alles fürn Arsch ist. Wenn die Arbeit an sich durch ein vergebliches Bemühen bedingt ist, aus der Vergänglichkeit auszubrechen, so ist dieses Bemühen hier in Podlesí nicht vergeblich. Hier in Podlesí ist das Leben nicht vergänglich, denn morgen gibt es einen Markt für Lebensmittel, die in dieser Region oder in der Nähe angebaut werden. Und eine Kaninchenausstellung. Er schenkte sich den letzten Schluck ein und stellte die leere Flasche ans Fenster. Die Sonne schien hier nie hinein, nichts spiegelte sich darin, sie stand still im Halbdunkel des Fensters und funkelte nicht mal.

„Hat er alles aufgegessen?“ Bohumila kam mit einem Laptop in der Hand und einer Brille auf der Nase aus dem Schlafzimmer. Sie trug sie nur bei der Arbeit, aber wenn sie sie nicht trug, kniff sie die Augen zusammen wie ein fünf Tage altes Kätzchen. Er mochte ihre blinde Hilflosigkeit. Selbst hatte er fünf Dioptrien.

„Ja, alles“, nickte er.

Sie nahm die Creme heraus und zog dem Jungen das T-Shirt herunter. Er zischte vor Schmerz. Wo in aller Welt hat er sich so verbrannt?

Als sie die sauberen Teller sah, nickte sie annerkennend mit dem Kopf. Sie erinnerte den Jungen daran, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen. Aber er blieb sitzen.

„Schlafen!“ Ihr Tonfall rüttelte ihn auf. Er schob seinen Stuhl zurück an den Tisch und fuhr sich durchs Haar.

„Zähneputzen!“, schob sie hinterher. Er verschwand im Badezimmer.

„Hier ist es nass!“, rief der Junge aus dem Bad.

Sie blickte ihn an. Er hielt ihrem Blick stand.

„Hast du gegessen?“

„Ja.“

„Was denn?“

„Suppe.“

„Lüg nicht.“

„Ich lüg nicht.“

Ist das wichtig? Spielt das eine Rolle? Hat er sich mit Gulasch oder Chips vollgestopft und es mit sechs Halben runtergespült oder was? Oder auch mit gar nichts?

Sie stellte ihm ein Glas vor die Nase, er entschuldigte sich und log: Es reichte kaum für einen. Er versuchte zu lächeln. Sie sah ihn an und lächelte nicht.

„Gute-Nacht-Geschichte?“ Der Junge lugte ins Zimmer.

„Heute nicht,“ sagten sie fast gleichzeitig.

„Ach ja, Nacht.“

„Gute Nacht, keine Angst, wir kommen gleich, ja?“

„Hm,“ presste er enttäuscht durch die Zähne und verschwand ins Nebenzimmer, das sie zum Schlafzimmer erklärt hatten.

Sie ging zum alten Schrank, der neben dem Ofen stand, bückte sich, holte zwei Blechtöpfe und einen Stapel Geschirrtücher hervor, kramte darin herum und zog triumphierend eine Flasche Jack Daniels heraus. Ein ganzer Liter! Bohumil sah seine Frau an. Er liebte sie. In diesem Moment liebte er sie zutiefst.

„Aber du musst später nachkaufen und ich versteck es wieder“, sagte sie sachlich.

Versteck’s nur, meine Liebe. Er sah sie an. Oder versteck’s nicht. Dieses finstere Getränk ist das einzige, das mich ins Bett bringt und mir etwas Schlaf verschafft. Dieses finstere Getränk ist das einzige, was mich davon abhält, immer weiter in diese Schlucht hinabzusteigen. Am Ende wäre ich ein kleiner Punkt am Horizont, dann würde es ein wenig knacken, vielleicht zischten, und weiter nichts. Nichts, meine Liebe, nichts wäre mehr. Würde ich nicht trinken, wäre ich schon längst in den dunklen Wald gegangen, nur in T-Shirt und Shorts, damit das Biest keine Arbeit mit dem Ausziehen hat. Weil das Tier dort lebt, diese nächtlichen Geräusche, das Heulen, das nichts Menschliches hat.

Er sah zu, wie sie die Flasche öffnete und ihnen beiden einen Doppelten einschenkte. In geübter Manier hoben sie die Gläser. Worauf also? Auf die Gesundheit? Er ließ seine Hand sinken, sie hielt ihre weiterhin auf Höhe seiner Brust.

„Na dann, auf uns,“ flüsterte sie.

Er sah sie verwirrt an. Wir, sind wir überhaupt noch wir? Nach all dem? Er war sich nicht einmal mehr seiner selbst sicher, geschweige denn einer Identität als Ehe, Familie, Horde oder irgendeinem anderen Verband. Sie hielt ihm immer noch das Glas hin, während er an seinem herumfummelte. Er sah sie an. Vielleicht gebe ich dich heute einen Kuss.

Sie spürte das Zögern, klopfte leicht gegen das Glas in seiner Hand und nahm einen tiefen Schluck.

„Danke,“ sagte er schließlich.

„Keine Ursache“, erwiderte sie.

Natürlich nicht, mein Gott, warum bedankt er sich eigentlich? Ich hab’s ausgehalten, all die Diagnosen, die Psychologen, die Heiler. Die Homöopathen! Ein paar Kügelchen unter die Zunge, ein paar Minuten auf’s Wunder warten. Aber sie nicht. Du, meine liebe Bohumila, hast dich einfach auf den Rücken fallen lassen.

Meine liebe Bohumila. Mein lieber Bohumil.

 

Aus dem Tschechischen von Hana Hadas