Ivana Myšková

Entflammen

2012 | Fra

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9. Oktober

Deshalb bemühe ich mich auch um Harmonie, deshalb erwähne ich Harmonie in jedem Satz, weil ich selbst nämlich aus lauter inhomogenen Teilen bestehe, und im Hinblick auf mein Inneres kann von Harmonie gar keine Rede sein.

Deshalb verkünde ich Gewaltlosigkeit, weil sich in mir alles schlägt und zerschlägt. Und weder helfe ich nach noch beuge ich vor, ich dämpfe nur die Erschütterungen.

Hier gibt es beispielsweise Unreifsein einerseits und Überalterung andererseits. Würden Sie einmal aufzählen, wie viele unreife alte Männer und Frauen Sie kennen, würde Ihnen sicher ganz traurig ums Herz – und meine beiden Großeltern sind exakt so: als ob sie ihr ganzes Leben ohne Bewusstsein gelebt hätten und alles Wesentliche versäumt, und lieber sich ewig aufgehalten mit völlig überbewerteten Kleinigkeiten, um ihre ganze Liebe daran zu verschwenden, ihre Zärtlichkeit, ihre Kraft und ihren Verstand. (Von ihm dachte ich ja, er sei weise, dabei ist er einfach nur alt.) Nur dass man ihnen das jetzt nicht mehr sagen darf, denn jetzt sind sie zu alt – das könnte sie verwirren, sie könnten stürzen und an solcherlei Unverschämtheiten in tausend Stücke zerspringen – das darf man keinesfalls riskieren, denn dafür gibt es keinerlei Medizin, und guten Klebstoff schon gar nicht. Mit der Wahrheit gilt es rechtzeitig rauszurücken, also wenn noch die Möglichkeit besteht, dass diese Wahrheit begriffen wird und verinnerlicht, und man noch daran arbeiten kann, sie zu leben. Aber mit der Wahrheit jetzt rausrücken, wo keine Zeit mehr ist, und wo auch der Wille fehlt und der Ehrgeiz, vor allem aber die Kraft?! Das wäre unmenschlich. Unmenschlich und rücksichtslos und aggressiv. Schimpf und Schmach und Schande!

Und ist es nicht wirklich besser und mutiger, nicht davon zu sprechen? Alles zu sehen und nichts zu sagen? Sich das Seine zu denken und zu schweigen? Soll das Alter denn kein ruhiges sein, voll Überzeugungskraft und Genugtuung, reglos und respektabel? Einmal Besinnung, bitte! Ein wenig Wasser auf diese Mühle …

Von mageren Kindesbeinen an bin ich uralt. Aber dass irgendwer mitfühlen würde und mich vor unangenehmen Wahrheiten schützen? Mitnichten, denn alle verwechseln sie mein Uralt-Sein mit Melancholie (und Melancholie mit Menagerie …)!

Meine Kindheit war ein einziges Sich-Hinschleppen, multipliziert mit einer allumfassenden Trägheit von Körper und Geist. Man hat mich mitgeschleppt, allein wäre ich nämlich niemals irgendwohin gelangt. Und wenn doch, dann zu spät. Menschen wie ich verausgaben sich in Zeit und Raum normalerweise so sehr, dass es in keinerlei Verhältnis steht zum jeweiligen Resultat, das sie – am Ende völlig erschöpft – schließlich doch erreichen.

Hermine

 

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Ich ertrinke, bin also schlecht gelaunt. Wen würde das auch begeistern, ja jubilieren lassen. Ich schätze mal: typisch ich. So ein schöner Tag und so ein schöner Park, und ich muss hier ertrinken. Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte, und in der Tat hat man, sobald man ertrinkt, nichts Besseres zu tun. Man kann dabei weder Zeitung lesen noch Nüsse knacken, die Wohnung verschönern oder den Garten umgraben schon gar nicht. Höchstens Wellen schlagen, hilflos rumzappeln, Wasser schlucken, Passanten anglotzen – und davon gibt es hier jede Menge: sonntäglich aufgehübscht und in anregende Gespräche vertieft, um sie herum tollen Hunde und Kinder mit Dreirädern und Turnreifen – also Passanten anglotzen und um Hilfe rufen? Nichts liegt mir ferner, als lauthals rumzuschreien und irgendwen zu verschrecken, das geht mir selbst bei Schuhen voller Wasser gegen den Strich. Aber wenn diese Schuhe mich runterziehen und um mich herum nichts als Wasser ist und bloß noch mein Kopf zwischen den Seerosen hervorlugt … Da hat mein Schamgefühl dann Pause.

Zunächst versuche ich es bei der Kleinen, die einen Schwimmzug von mir entfernt auf der Holzbrücke über dem Wasser kniet; die Kleine scheint rüberzusehen, könnte also ihre Eltern rufen. Sie dagegen wählt aus einer Handvoll Steine die flachsten aus und versucht, sie übers Wasser hüpfen zu lassen. Einer der Steine trifft mich am Kinn, hält sich dann aber nicht länger über der Wasseroberfläche als all die anderen – wieder kein Fröschlein. Die Kleine wird wütend und marschiert schmollend davon. Und ich muss, um von den Fröschen nicht überquakt zu werden, noch lauter rufen. Dass ich laut werden muss, macht mich nervös, zuweilen sieht jemand ungläubig rüber, als warte er nur auf mein Rufen, als wäre erst mein Rufen ein Beweis für diese traurige Wirklichkeit. Aber sobald sein Warten nicht belohnt wird, dreht er sich um und geht weiter, kopfschüttelnd: Bin ich jetzt blöd, oder was? Die Leute trauen ihren eigenen Augen nicht, höchstens den Ohren, aber die haben sie zu meinem Pech ohnehin verstopft.

Bis jetzt habe ich das alles hingenommen, aber allmählich, wie hier einer nach dem anderen weitergeht und ich dem mindestens fünfzigsten Rücken hinterherglotze, packt mich das blanke Entsetzen, und die Unwiederbringlichkeit meines nahenden Endes stimmt mich so traurig, dass ich weinen muss, wiewohl das Ganze doch reiner Unsinn ist, ich kann nämlich schwimmen, und zwar gut, und ausdauernd noch dazu – Seepferdchen schon in der Ersten – also was denn für ein Ertrinken, bitteschön, das ist doch reiner Unsinn. Nur dass hier und jetzt nichts davon stimmt und ich ertrinke, um Hilfe rufend, zähneklappernd und vor Erschöpfung einer Ohnmacht nah.

Schon hab ich Wasser in der Lunge, schon kommt der Heilige Geist mit der jähen Erleuchtung und ich begreife: Ich bin ja gar nicht in Tschechien, sondern in irgendeinem fremden, wildfremden Land, und wie soll ich mich da verständlich machen, na super, also keine Gleichgültigkeit, sondern lediglich Sprachbarriere. Eine Holzbrücke über einen Teich mit Seerosen darin, ergo Frankreich. Und ich rufe „pomoc!“1„Hilfe!“. Klar doch. Als ob irgendein Monet-Nachfahre tschechisch spricht. Deshalb hilft mir ja auch keiner. Weiß ja keiner, was ich rufe.

Ich muss jeden einzeln ansprechen, und zwar korrekt artikuliert – aber verflucht noch eins, wie heißt das jetzt auf Französisch … Und was, wenn ein Pakistani daherkommt?

 

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Ein Kirchenschiff. Der halbkreisförmige Raum vor dem vergoldeten Barockaltar wird von einer etwa drei Meter hohen, blaugewandeten Statue des Hl. Peter bewacht, der in der Hand einen großen, massiv goldenen Schlüssel hält, mit dem er in regelmäßigen Abständen nach jedem schlägt, der passieren will. J. läuft los, wird geschlagen, aber überwindet den Schmerz und bleibt jenseits des Tores stehen, ist drinnen. An seinem rechten Unterarm bemerke ich ein Mal, J-förmig und nicht blutend, zwar tief, aber wohl längst verheilt. J. lacht begeistert und ruft, ich solle es auch versuchen. Ich jedoch habe Angst, will Anlauf nehmen, doch laufe nicht los.

Wie beim Hineinlaufen in ein rotierendes Springseil.

Manchmal überkommt mich so eine fixe Idee, da kann ich an gar nichts anderes mehr denken und stürme dann ohne jede Vorwarnung in die Küche:

„Man müsste mit einem Heißluftballon fliegen!“

Oder: „Man müsste einen Schatz ausgraben.“ Oder auch: „Höchste Zeit fürs Elefantenschwemmen.“

Das alles sind Wünsche, deren (zumindest sofortige) Erfüllung illusorisch bleibt, Sehnsüchte, die Sehnsüchte bleiben. Aber dann gibt es noch die erfüllbaren, bei denen ich in die Küche stürme, von wegen:

„Man müsste Schlittenfahren! Draußen schneit’s und der Schnee liegt schon ziemlich hoch.“

Das Vorbild sieht von den Kartoffeln auf oder vom Geschirr (immer sieht es von irgendetwas auf, immer ist es vollauf beschäftigt) und sagt – davor stets ein Seufzen:

„Kind, du quälst mich … Immer kommst du mit so was, wenn es absolut unpassend ist. Hat das nicht Zeit?“

Aber ich lasse mich um keinen Preis umstimmen:

„Nein, hat es nicht! Ganz genau jetzt ist der Zeitpunkt der richtige. Wenn Schnee fällt, fährt man Schlitten!“

Erneutes Seufzen, und dann:

„Guck doch nur mal raus, es ist doch gleich zappenduster! Und ich komm dann um vor Angst.“

„Da oben auf dem Hügel, da ist es gar nicht dunkel. Da kommt doch Licht von der Straße her.“

„Bist du denn nicht schon genug Schlitten gefahren? Wir sind doch immer zusammen … Schon vergessen? Lass doch endlich gut sein. Hast du denn nichts zu tun? Bist du mit allem fertig?“

„Aber das geht ja gar nicht, mit allem fertig sein. Mensch, wo ist denn bloß der Schlitten hin? Weißt du, wo er ist?“

„Verräumt. Der Papa hat ihn irgendwohin verräumt.“

Das Vorbild lehnt sich an die Spüle, ein drittes, müdes Seufzen (und das altbekannte: Kind, du quälst mich).

„Also ich suche ihn ganz bestimmt nicht. Er ist irgendwo auf dem Dachboden, halt verräumt.“

„Und wo, ungefähr …?“

Hundertpro irgendwo ganz hinten. Das Nützliche, das Interessante ist immer irgendwo ganz hinten, völlig verstellt von nutzlosem Zeug, damit man auch ja nicht(!) dran kommt.

Und schon läuft das Vorbild rot an und sagt laut:

„Soll ich etwa alles stehen- und liegenlassen für dich und jetzt den Schlitten suchen gehen? Kannst du nicht ein Mal Ruhe geben? Kann ich nicht ein Mal was in Ruhe machen? Soll ich jetzt wirklich die Treppe zum Dachboden hoch, weil das Frollein Tochter sich einbildet … Na gut“, und schon wischt sie sich die Hände in die Schürze und nimmt diese ab, „lasse ich also alles stehen und liegen und geh den Schlitten suchen … Bin ich ja mal gespannt“ – sie knallt den Topf auf den Herd – „was ihr dann essen werdet, wenn ich jetzt erst mal den Schlitten suchen muss … Und davor noch alte Klamotten anziehen fürs Rumwühlen im Dreck … Und dann der Schlitten erst … der wird nur so starren vor Dreck. Den Schlitten also erst mal ordentlich waschen, dabei die ganze Wohnung einsauen, und weiß der Himmel, ob der Schlitten überhaupt noch heil ist und nicht schon angeknackst, der Papa hat bestimmt irgendwas drauf abgestellt, dem ist ja alles wurscht …“

Und schon rennt sie wutschnaubend los aus der Küche zum Flurschrank, wo sie „die alten Klamotten“ sucht, und ich rufe hinterher: „Reg dich doch bitte nicht so auf, ich will den Schlitten ja gar nicht mehr.“

Aber sie zieht sich um, zieht frische Klamotten zum Einsauen an:

„Bin ich ja mal gespannt, was ihr jetzt essen werdet!“

„Ich will ja schon gar nicht mehr, ich bitte dich, bleib doch hier, lass das doch … Wenn, dann geh ich selber suchen.“

Woraufhin sie das Gesicht verzieht und in ihre Jogginghose schlüpft:

„In dieser Familie bleibt doch sowieso immer alles an mir hängen. Mäuler stopfen, Wäsche waschen, Wohnung putzen … und noch dazu dem erwachsenen Frollein Tochter den vermaledeiten Schlitten suchen, den der schludrige Herr Vater irgendwohin verräumt hat …“

„Ich bitte dich, ich will ja schon gar nicht mehr, mir ist die Lust vergangen!“

„Du willst mich wohl veräppeln? Hältst du mich etwa für blöd? Willst du jetzt, oder willst du nicht? Du musst dich schon entscheiden! Erst ja, dann nein … Feine Kinder hab ich da großgezogen, ein einziges Palaver …“

Jetzt werde auch ich laut: „Wenn du so bist, will ich echt nicht mehr.“

Öl ins Feuer.

„Wie bin ich denn? Das ist doch wohl nicht dein Ernst … Ich tu, was ich kann und ernte nichts als Undank!“

Schon rennt sie los, trampelt die Treppe hoch.

Ich rufe hinterher: „Ich bitte dich, tu doch nicht so, als ob du mich nicht verstehst.“

Beim Gehen gestikuliert sie wild herum.

„Ich verstehe dich nur zu gut, klar versteh ich dich, Verständnis muss ich ja schließlich für alles und jeden haben. Aber wer bitteschön hat auch mal Verständnis für mich? Wer versteht mich?“

Und noch bevor sie aus der Tür ist, sehe ich, wie ihre Schultern beben – garantiert weint sie jetzt.

Wie versteinert stehe ich am Fuß der Treppe und schnappe nach Luft, ich will ihr folgen – aber das geht nicht, ich will von ihr fort – aber das geht auch nicht. Längst kenne ich das, und noch immer überrascht es mich (aber das wolltest du doch, immer wieder staunen). Es tut mir leid und macht mich wütend, aber tun kann ich nichts, ich bleibe einfach stehen. Mittlerweile nenne ich das „die Ohnmacht des auf dem Rücken liegenden Käfers“.

Nach einer halben Stunde kam das Vorbild dann zurück – erst trug es vorsichtig eine dreckstarrende Holzkonstruktion vors Haus – um sie zu reinigen – gründlich – mit Liebe; dann ging’s ins Bad – dort reinigte das Vorbild – gründlich – hasserfüllt, sich selbst; danach wurden „die Klamotten“ ausgeschüttelt, um in der „Schmutzwäsche“ zu landen; und dann wurde aus der Kammer der Staubsauger geholt, um schließlich auch noch die allerletzte Dreckspur des Schlittens zu beseitigen. Und erst dann hat das Vorbild an meine Tür geklopft, ist hereingekommen und hat schuldbewusst gelächelt:

„Jetzt sei mir halt nicht mehr böse … Ich hab dir alles hergerichtet … im Flur. Der Schlitten ist jetzt wieder wie neu.“

„Danke. Aber ich hab wirklich nicht gewollt, dass du das machst. Ich hab dir keine zusätzliche Arbeit aufhalsen wollen.“

Erneutes Lächeln: „ Aber nicht doch, du … Du weißt doch, für dich mach ich doch immer alles, du musst halt einfach nur rechtzeitig Bescheid geben, ja? Also beim nächsten Mal …“

„Hm. Beim nächsten Mal.“

Man müsste aufs Dach klettern! Mal schön sich die Landschaft begucken.

Wo ist denn bloß die Leiter hin, diese ausfahrbare?

Entschuldige, sag lieber nichts. Davor stets ein Seufzen.

 

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X-mal dieselben Bitten – leg das doch nicht hier hin, leg das lieber dort hin; x-mal dieselben Vorwürfe – immer muss ich’s ihm sagen und immer macht er’s falsch. Ermüdend, so ermüdend. Sie schleppt sich durch die Wohnung und sammelt alles ein – da, da, siehst du, da sollte das liegen, und wo hat er es wieder hingelegt? Immer öfter fällt sie mir hin, hat immer öfter aufgeschlagene Knie wie ein kleines Mädchen, aber so schnell heilt das heute nicht mehr. Schau nur, was mir schon wieder passiert ist – beim Hochziehen des Hosenbeins ein Glänzen in den Augen. Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte, dass das schließlich auf mir landet – eine Pfanne mit siedend heißem Öl, Himmelherrgott noch mal, pass doch auf dich auf! Ich hatte gerade ein frisches T-Shirt angezogen, das konnte ich natürlich wegwerfen.

Ein Fischlein im runden Goldfischglas. Komm, ich hol dich hier raus. Alles nur eine Frage der Sichtweise. Wenn du deine Sichtweise auf die Dinge nicht änderst, ändern sich die Dinge nicht. Zwar kannst du dir einbilden, dass du irgendwas bewegst, aber in Wahrheit, weißt du, bleibt alles beim Alten. Das einzige, was du wirklich ändern kannst, bist du selbst. Wo schaust du denn hin? Du hörst mir ja gar nicht zu!

Ich muss Geduld haben. Darf mich nicht abbringen lassen. Prometheus hatte es auch nicht leicht.

Und das Feuer, das bringe ich euch. Ihr werdet schon sehen, dass ich es bringe.

Dass wir hier überall Strom haben, ist mir egal, verdammt noch mal!!!

Wie jetzt, in der Hand? Keinerlei Reisig, keine Späne, keine Kerze, kein gar nichts? Einfach nur so in der Hand?

 

Anrufung des großen Egoisten

O Mutter, den ganzen Tag jammerst du wegen Schmerzen

aufgrund zu knapper Wäsche, eingeengt, eingeschnürt, unfähig, dich auszuziehen, auf dass diese Wäsche nicht gewahre ihre eigene Nutzlosigkeit.

O Mutter, Schadstoffe häufst du an in dir, da du

keine Zeit hast, dich zu erleichtern.

O Mutter, zunichte geworden durch Gegenstände und Gifte,

du Einzige unter den vielen, benommen von Küchendämpfen, ramponiert durch Möbel,

verletzt durch deren Ecken.

O Mutter, du mottenzerfressene Kleider tragende,

bis in alle Ewigkeit polierst du Töpfe und fegst herabgefallene Stoffstücke auf und zerfressene Fasern,

o Mutter, vor lauter Müdigkeit und Erschöpfung stürzt du

und treibst dich selbst zur Eile an, denn dein Puls,

das ist die Zeit,

o Mutter, das Bett hältst du für ein Grab und weigerst dich,

darin zu liegen – an dieser Verwechslung wirst du sterben.

Und es geschieht, ach, so selten, und doch, es geschieht, dass ihr großer Egoist mich erhört und sie dann nur noch an sich selber denkt und alles zum eigenen Vergnügen tut: Dann führt sie etwas gegen sich selbst im Schilde und stellt sich selber Fallen.

Sie entsagt jeglicher Leidenschaft, jeglicher Lust – und die einzige Lust, die sie sich dann noch gönnt, ist die, mit der sie allen anderen Lüsten entsagt.

„Mich nervt deine Trägheit.“

„Trägheit!“, schnauzt sie zurück und zeigt mir ihren abgehetzten und geschundenen Leib, führt wie bei einer Modenschau ihr Versehrtsein vor. „Wie kannst du nur so etwas sagen?“

„Ich meine die Trägheit deines Hirns“, keife ich zurück. Worauf sie ihre Haare beiseiteschiebt und mir irgendeine Beule zeigt, angeschwollen und blutig, mit Kratzern samt Grindkonfetti, sicher von irgendeiner Schwerstarbeit. Ich trete dann näher und bepuste solche Stellen: „Wann endlich füg ich dir kein Leid mehr zu?“

 

Wir haben schon lange nicht mehr gespielt … Wie wäre es mit ein bisschen Gerangel? Und als Untertitel: Für dich will ich doch nur das Beste. Nicht gewusst? Schau. Wenn zum Beispiel der Papa irgendwas transportiert … Gar nicht so schwer, sich das vorzustellen, weil der Papa ja meistens irgendwas transportiert, ständig irgendwas schultert, rumschleppt und hin- und herträgt, und zwar meistens irgendwas ziemlich Schweres, sogar jetzt geht er hier an uns vorbei und hat irgendwas geschultert, was ihn den Kopf kostet und eckig ist. Das Vorbild schaudert, lächelt stolz, springt auf, stürzt sich auf das Eckige und will es packen.

Aber Papa gibt nicht nach. Unsicher, den Kopf zwischen den Schultern, drückt er sich das Eckige an die Brust und umarmt es so krampfhaft, dass ich mir wünsche, ich sei auch dort, dazwischen, anstelle des Eckigen. Doch durch hartnäckiges Stoßen und Schubbern ringt das Vorbild Papa eine Hand ab und verstärkt den eigenen Griff, um sich des Eckigen voll und ganz zu bemächtigen. Papa hat seine Vorherrschaft eingebüßt, und mit ihr scheint alle Kraft aus seinem Körper gewichen. Schließlich wirkt es, als habe er selbst dem Vorbild das Eckige übergeben. Zur Abwechslung ist es jetzt das Vorbild, dem das den Kopf kostet, und nun also kopflos und schwerfällig schnaufend (und auch stürzend, schon zwei Stürzen entkam es nicht) stolpert es die zwölf Stufen zur verschlossenen Dachboden-Tür empor. Noch bevor Papa sich besinnt und zur Hilfe eilt, steht die Tür sperrangelweit offen und das Eckige befindet sich auf seinem Platz. Gerangel also. Schönes Spiel. Nicht dass das jetzt irgendwie amüsant wäre … Aber das ist offensichtlich auch gar nicht der Sinn. Dem Vorbild hat sich ins rot angelaufene Gesicht siegesgewisser Hohn gepflanzt, und Papa, unsicher und mit leeren Händen, beklagt empört:

„Jesses, warum hast du das denn jetzt geschleppt? Das hätte doch ich hochgetragen können.“

„Hätte, hätte … Da kann ich ja ewig warten. Und wenn ich schon sehe, wie du dich damit abrackerst … Da wären wir ja morgen noch nicht fertig.“

„Aber der Arzt hat doch gesagt, dass du nichts Schweres tragen sollst …“

„Ich bitte dich, der Arzt … Soll ich etwa auf meinem Hintern rumsitzen und Löcher in die Luft starren? Rackerei bin ich gewohnt.“

„Du richtest dich noch völlig zugrunde …“

„Hast Schiss, dass du dich dann um mich kümmern musst, was? Aber keine Bange, ich halte schon noch was aus. Eher solltest du aufpassen, dass du dich nicht übernimmst, ansonsten macht dein Rücken irgendwann ‚Knacks‘, und was soll ich dann anfangen mit dir? Dir haben sie ja auch gesagt, dass du nichts tragen sollst, und trotzdem tust du tragen.“

„Na, aber das ist doch was völlig anderes, ich bin ja wohl ein Mann.“

„Und ich bin eine Frau. Und Frauen sind stärker als Männer.“

Das Gerangel geht weiter. Gern würde ich endlich lachen. Aber das ist offensichtlich nicht der Sinn dieses Spiels.

„Aber das alles verlangt doch keiner von dir. Hat das denn irgendwer verlangt?“

„Weiß ich nicht, ist mir auch egal. Weil wenn ich was brauche, dann ist eh keiner da, um mir zu helfen.“

„Du musst mich nur rufen …“

„Da kann ich ja ewig warten … Außerdem weißt du ja selber nicht, wo zuerst anfangen, also kümmer dich um deinen eigenen Kram. Meinen Kram kann ich schon selbst erledigen. Ich bin’s nicht gewohnt, dass irgendwer irgendwas für mich tut.“

„Ich ja auch nicht …“

„Nicht? Du hast also schon vergessen, was ich alles für dich getan habe?“

 

Der Kaffee. Als gäbe es keine größere Freude, keine größere Leidenschaft. Der Kaffee. Exakt zur Nachmittagshälfte geplant, genauestens angesetzt zwischen Mittag- und Abendessen wie eine Nase zwischen zwei Augen. Der Kaffee. Auf den richtet sich jede Hoffnung. Welch eine der Zubereitung vorausgehende Aufregung (welch eine Befreiung vom Joch)! Welch Beruhigung schon beim ersten Schluck! Welch beruhigende Abwechslung! Der Kaffee.

„Nur beim Kaffeetrinken kann ich mich richtig entspannen.“

„Nur beim Kaffeetrinken sammle ich neue Kräfte.“

Weil die Kaffeebecher so groß sind. Fast wie Töpfe, fast wie Blumentöpfe: schön glasiert, mit breiten Bändern oben und unten. Blau und rot. Mit Erreichen des Becherbodens verebbt das Gespräch. Im Kaffeesatz erstirbt es ganz. Pause. Und wieder an die Arbeit!

Ein großer Plan, eine große Selbstdisziplin. Oder wacht da jemand über uns und stellt uns Ultimaten? In glücklicheren Zeiten des Einvernehmens haben wir nur widerwillig ausgetrunken, die letzten Schlucke fast ins Unendliche ausgedehnt, um den Zeitenwächter zu überlisten. Aber einen Schluck im Mund behalten und gleichzeitig weiterreden?

Wir wussten, dass wir vorzeitig verstummen, gerade in den Momenten, in denen Reden das Wichtigste war, wenn das Gespräch sanft ins Wechselseitige glitt und Worten weitere Worte folgten, zwanglos und unwillentlich. Dann hielt die jüngste und allernächste Gegenwart Einzug (zuweilen zusammen mit der Zukunft) und die Vergangenheit meldete sich nur noch sporadisch zu Wort (scheinbar verschämt). Dann wurde mir mein Becher zu klein.

Aber sobald die Vergangenheit ihre Scham wieder abgestreift hatte (diese unermüdlichen Refrains!) und anfing, die Gegenwart zu durchdringen, um redlich errungenes Gelände voll und ganz zu erobern (wie unverfroren sich die Vergangenheit ausbreitete), immer dann also begann mein Becher wieder zu wachsen, wurde größer und größer – war erst ein Eimer und dann ein Fass, in dem ich fast ertrank. Vom schwerfälligen Gerede ganz erschöpft habe ich eifrig getrunken – mich aufgewärmt bis zum Siedepunkt – auf dass dies vorübergehe, ein Ende habe. Und dazu alles, worüber man auch schweigen kann: Informationen über Fremde, Verwandte, Arbeitskollegen, Nachbarn und Passanten, Reden über Geld, strukturierte Lebensläufe von Sachen – unnötige Details. Ihre innersten Beweggründe waren bloße Fusseln – und die werden nicht eine nach der anderen aufgesammelt, sondern weggefegt …

Deshalb also hatte ich mir einen kleineren Becher besorgt – niedriger und schmaler (die Strategie: kleinere und immer kleinere Becher – als Weg in die Freiheit). Und sie hat nichts bemerkt. Immer beharrlicher verfolgte sie ihren eigenen Weg und mir blieb nichts anderes übrig, als es mit immer kleineren und noch kleineren Bechern zu versuchen, noch schneller auszutrinken und zu gehen – endlose Minuten wurden erfreulich kurz und ich fühlte mich freier, aber nicht wirklich besser; die Vorstellung des Vorbilds, wie es seinem eigenen großen Becher einsame Monologe hält, schmerzte und folterte mich; und als ich endlich der Versuchung erlag, auch den Becher des Vorbilds auszutauschen, als ich diesen Wunsch Wirklichkeit werden ließ, haben sich Wunsch wie Wirklichkeit unwiederbringlich zugespitzt.

„Das ist nicht meiner!“ rief sie aus. „Und wo ist überhaupt der große von dir geblieben?“

Und als ich ihn brachte, mich entschuldigend, schuldbewusst: „Lange kann ich nicht mehr bleiben“, nahm sie ihn, ging leise schluchzend in den Garten, füllte den Becher mit Erde und pflanzte eine Blume hinein:

„Wie du willst.“

 

Aus dem Tschechischen von Doris Kouba

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1. „Hilfe!“