Das Bein

[…] Es ist Mittwoch, der 19. März. Draußen auf der Straße liegen die letzten Schneereste, weiße Flecken auf der braunen Erde. Die scheußlichste Zeitlosigkeit zwischen Winter und Frühling. […]

In der Garderobe sind noch Robert und Kája, ich zieh mir die Schuhe an, gut, dass ich wenigstens Klettverschlüsse hab, denke ich mir, ansonsten wären sie schon weg, aber später wird mir das tausendmal leid tun.

Jetzt rennen wir vor die Tür und dort stößt Kája gegen irgendeinen Achtklässler, der mit einem Grüppchen anderer fast Erwachsener da rumsteht, und die schnappen sich Kája sofort, entschuldige dich, und Kája entschuldigt sich, sie schnauzen ihn noch ein bisschen an und lassen ihn dann gehen und Kája kommt zu uns, und dann schreit er: „Ihr beschissenen Aschlöcher!“, und wir drei fangen an zu rennen, und die auch. Und Kája brüllt ihnen die ganze Zeit was zu, und wir drei rennen, jetzt kommt mir mein Lauftraining von früher ganz gelegen, weil ich nicht der Letzte bin, der Letzte ist Robert, der ist ziemlich dick, ich renne und gucke auf Kájas Rücken, er rennt auch, wahrscheinlich hat er nicht mehr genug Puste zum Fluchen, also sagt er nichts mehr und wir rennen.

Kája rennt auf die Straße und ich renne ihm hinterher und ich gucke mich noch mal um, weil ich höre, wie Robert kreischt, wahrscheinlich hat ihn sich einer geschnappt, und während ich mich umdrehe, stolpere ich, und dann höre ich nur noch ein schreckliches Hupen und irgendwelche Autogeräusche, das ist nicht verlangsamt wie in irgendeinem Film, ich weiß nicht, was passiert, und vor meinen Augen läuft auch nicht mein ganzes Leben ab, ganz im Gegenteil, es geht so schnell, dass ich überhaupt nichts machen kann, ich weiß nur, dass ich jetzt im Arsch bin, und dann weiß ich gar nichts mehr, ich weiß nicht mal, wie ich auf den Boden aufschlage […].

Während der Physikstunde klopft die Kollegin Horáčková an die Tür. Nur mit den Augen teilt sie der Mutter mit, dass es in der Direktion irgendeine schlimme Nachricht für sie gibt. Die Teenager spitzen die Ohren. Sie geht aus dem Klassenzimmer und vor Angst ist ihr ganz übel, was wem passiert sein könnte. Sie weiß eh, dass es Jakub ist. Schließlich rennt sie los, läuft den stillen Schulflur entlang. Mach, dass es nicht die Kinder sind, mach, dass es Michal ist. Sofort ins Krankenhaus, der Stellvertreter fährt sie hin. Als sie in der Klinik erfährt, was genau passiert ist, fängt sie an zu weinen, aber sie weint genauso vor Erleichterung, das ist doch alles egal – Hauptsache, ihr Junge lebt.

Ich wache im Krankenhaus auf. Um mich herum ist alles weiß, ich kann meinen Kopf nicht richtig bewegen, also sehe ich nur die weiße Decke. Ich bemühe mich aber, meinen Kopf zu bewegen. Das tut weh. Neben mir steht meine Mama und heult. Ich kann nicht sagen, ob aus Freude oder aus einem anderen Grund. Während ich so langsam wach werde, merke ich, wie schrecklich mir mein rechtes Bein wehtut. Ich will sprechen, aber das geht nicht richtig, mein Mund ist ganz ausgetrocknet und so.

Ich fange an zu heulen, das Bein tut echt furchtbar weh. Ich winde mich auf dem Bett ein bisschen hin und her, aber da tun mir gleich mehrere Sachen weh. Eine Schwester kommt und spritzt mir was in den Arm.

Ich wache zum zweiten Mal auf. Es ist viel besser. Meine Mama ist nicht da. Im Bett neben mir liegt jemand. Ich bin in einem Dreibettzimmer.

Kurz danach kommt die Mama. Sie hat Kaffee in einem Pappbecher. Der riecht richtig gut.

Ich beschwere mich über mein Bein, und sie fängt wieder an zu heulen.

Das Bein habe ich gar nicht. Mir tut ein Bein weh, das ich gar nicht habe.

Ich habe Glück gehabt, angeblich hätte ich auch tot sein können. Vielleicht habe ich Glück gehabt, aber ich habe das Bein nicht mehr.

Ich heule, weil die Mama heult.

Erst in der Nacht, als ich nicht schlafen kann, da bin ich traurig. Erst in der Nacht heule ich, weil ich das Bein nicht mehr habe. Der Rest vom Bein, der noch übrig ist, hört überm Knie auf.

Meine Mama kommt andauernd. Sie versucht mit mir zu sprechen. Das interessiert mich nicht. Sie fragt mich, was ich gerne hätte. Ich sage: Das Bein. Da heult sie wieder.

Mein Vater kommt auch jeden Tag, aber nur kurz. Er bemüht sich, wie er es wahrscheinlich ausdrücken würde, mir Mut zu machen. Er dröhnt mich voll, wie ich mich selbst überwinden muss. Wie es jetzt ganz alleine auf mich ankommt. Wie ich mich zusammenreißen soll. Was für ein richtiger Kerl ich bin, und die kämpfen ja schließlich.

Mein Bruder kommt ein Mal. Er bringt mir eine große Tüte Erdnüsse mit. Eine Weile setzt er sich auf einen Stuhl und lässt seine Augen durchs Zimmer wandern. Keiner von uns weiß, was wir uns erzählen sollen.

Mein Bruder ist für diesen Raum viel zu hübsch. Er passt überhaupt nicht hierher.

Als er weg ist, esse ich alle Erdnüsse auf einmal, bis mir vom Salz der Mund aufplatzt. Und in der Nacht habe ich dann schrecklichen Durst. Am Ende muss ich den Tee aus dem Becher von Honza trinken, der im Bett neben mir liegt und flennt, weil ihm dauernd der Bauch wehtut, diese Memme, weil ich meinen Tee schon ausgetrunken hab.

Einmal kommt Kája mit seiner Mutter vorbei, sie bringen mir echt super Süßigkeiten mit, aber keiner weiß, was er sagen soll, das ist eine unangenehme Situation, Kája schämt sich vor mir so schrecklich, dass ich ziemlich schnell sage, dass ich müde bin. Sie gehen sofort und man sieht, wie erleichtert sie sind. Ich bin’s auch.

Der Vater ist sauer auf die Mutter. Er sieht Jakub, wie der da liegt und ablehnt, auch nur irgendetwas zu tun, zu üben, sich zu bemühen, damit er bald wieder laufen kann. Und sie sitzt dort bei ihm rum und weint. Da ist es natürlich klar, dass sich der Junge fühlt wie der ärmste schwarze Kater.

Aber das kann ihr der Vater nicht begreiflich machen, dass die Zeit des Bedauerns vorbei ist, dass man jetzt wieder was tun muss.

Er ärgert sich wahnsinnig, dass er ihr erlaubt hat, dass Jakub wieder aufhört zu trainieren, dass aus ihm ein Mädchen wird. Der Vater macht sich Vorwürfe, dass er ihn nicht härter angepackt hat, mehr wie ein Kerl, denn dann hätte er jetzt bestimmt mehr Kraft, sich dem allen entgegenzustellen.

Nach ein paar vergeblichen Streitereien mit der Mutter hat der Vater so eine Wut und ein derartiges Gefühl von Sinnlosigkeit, das sich nur mit Trainieren oder Saufen überwinden lässt, also macht er das, lieber gleich beides.

Und obwohl er schon seit Jahren trainiert und trinkt, tut er es jetzt auf einmal aus einem anderen Grund, und wirklich, es ist ganz anders. Auch wenn später nicht all das passieren würde, was passiert, würde der Vater am Ende so oder so ein Problem mit dem Alkohol haben.

Ohne Bein

Zuerst habe ich zu überhaupt nichts Lust. Je mehr mir alle sagen, dass ich üben muss und mir Mühe geben, desto weniger Lust habe ich auf irgendwas. Zum Glück bringt mir die Mama Bücher mit, im Krankenhaus lerne ich so gut lesen, als wäre ich mindestens in der vierten Klasse, und nicht in der zweiten.

Und dann fängt der Frühling an und ich liege immer noch, weil ich nicht übe, also habe ich ganz schwache Arme, ich kann nicht mal mit Krücken Gehen lernen. Sie setzen mich höchstens in den Rollstuhl und fahren mich auf die Terrasse.

Außer dem Bein fehlt mir eigentlich gar nichts groß. Ein paar blaue Flecken. Geprellte Rippen. Eine Platzwunde am Kopf und ein paar Stiche. Alles heilt ganz schnell, bloß das Bein will und will nicht nachwachsen.

Als es in der Luft anfängt nach Sommer zu riechen, bin ich in Ordnung, solange ich nicht von meinem Bein spreche. Ich bin noch ein bisschen dünner, aber ich habe auch vorher schon ziemlich ungesund ausgesehen und so, also ist das wahrscheinlich auch wieder nicht so ein großer Unterschied, glaube ich. Dann kommt mich die Kollegin von der Mama besuchen, ich merke, wie sie guckt, sie versucht so zu tun, als ob nix wäre, aber das schafft sie nicht, ich muss also echt schrecklich aussehen.

Ich weiß nicht, warum ich anfange mir Mühe zu geben. Wahrscheinlich, weil ich die warme Luft spüre und aus dem Krankenhaus weg will. Ich fange einfach an.

Einmal, da hab ich schon das Gefühl, dass alles ganz gut läuft, versuche ich mit den Krücken aus dem Bett aufzustehen und falle auf den Fußboden.

Ich liege da und heule, überhaupt nicht vor Schmerzen oder vor Traurigkeit, sondern vor entsetzlicher Wut, und als die Schwester kommt und mir helfen will, beiße ich sie in die Hand.

Ich weiß nicht, was sich im Verlauf der ganzen Monate verändert hat, aber ich bin auf einmal voller Wut. Ich hasse die ganze Welt.

Der Stummel sieht aus wie irgendwas zwischen einem Hörnchen und einer zusammengerollten Socke und ist ganz eigenartig empfindlich.

Ich lerne laufen.

Meine Achseln tun mir weh.

Meine Mama ist wegen mir völlig fertig, andauernd bemuttert sich mich ganz schrecklich. Als ich nach Hause zurückkomme, muss ich mit meinem Bruder die Betten tauschen. Wir haben ein Doppelstockbett und mein Platz ist oben. Irgendwann hab ich mir das mal erflennt. Seit der Zeit haben sich die Zeiten geändert. Jetzt will mein Bruder nicht mehr nach oben. Aber er macht es ziemlich kommentarlos, als sie mich aus dem Krankenhaus bringen.

Ich kann inzwischen halbwegs mit den Krücken laufen, meine sind richtig hübsch, blau, aber einen Rollstuhl hab ich auch. Und ich hab auch eine Prothese. Die ist echt wie bei einem Piraten, fällt mir einmal ein, als ich gerade gute Laune hab.

Mein Vater trägt mich also ins Kinderzimmer, ich halte mich an einer Krücke fest, und er legt mich auf das untere Bett und mein Bruder guckt mich an, und als mein Vater aus dem Zimmer geht um noch die restlichen Sachen aus dem Auto zu holen, sagt mein Bruder: „Na und? Wie geht das so?“

Ich zucke mit den Achseln, sage aber nichts. Was soll ich denn auch sagen? Dann muss ich langsam mal aufs Klo. Ich versuche aufzustehen, aber weil er mich so anglotzt, bin ich nervös und falle hin. Hinfallen kann ich inzwischen.

Mein Bruder schießt von seinem Stuhl hoch und hebt mich auf. Ich merke, wie stark er ist.

„Du bist leicht wie ’ne Feder“, sagt er und setzt mich wieder hin. Dann gibt er mir die Krücken und hilft mir aufstehen. Ich gehe aus dem Zimmer und weiß, dass er mich immer noch anguckt.

Ich pinkle im Sitzen.

Als ich abends an dem ersten Tag schlafen gehe, finde ich meinen Schlafanzug auf dem unteren Bett und keiner sagt ein Wort. Meine Mama hilft mir bei Umziehen, und übertriebene Sorgfalt verwendet sie auf den Stummel. Mein Bruder tut, als wäre nix, aber er schielt auch ein bisschen nach dem Stummel. Dann gibt mir meine Mama einen Gutenachtkuss, das habe ich schon lange nicht mehr erlebt, neue Sitten, sie will meinem Bruder auch einen geben, aber der zuckt zurück und meine Mama geht aus dem Zimmer. An den nächsten Tagen versucht sie nicht mehr, meinem Bruder einen Kuss zu geben. Einmal bekomme ich mit, wie mein Bruder mich anguckt, als würde er mich um was beneiden. Dabei würde ich den duftigen Kuss von meiner Mama gerne ihm überlassen, im Krankenhaus bin ich auch ohne eingeschlafen.

Die Mutter ist wahnsinnig glücklich, dass Jakub angefangen hat mitzumachen. Während er wütend ist, ist sie voller Mitleid. Es bereitet ihr große Probleme ihn zu sehen, wie er mit den Krücken kämpft, wie er hinkt und wie er sich noch mehr in sich selbst verschließt, der Arme, womit hat er das verdient? Die Mutter versucht mit dem Vater darüber zu sprechen, aber der ist froh, dass Jakub endlich angefangen hat sich Mühe zu geben, er will nichts Anderes hören oder sehen, und immer wieder sagt er der Mutter, sie möge es sich nicht so zu Herzen nehmen. Aber das tut die Mutter nun mal. Als wolle sie Jakub das Bein kompensieren, und den Krankenhausaufenthalt, und die Mühe beim Üben, und eigentlich alles Schlechte, was ihm je zugestoßen ist, sie bemuttert ihn wie ein kleines Kind. Martin nimmt sie zu jener Zeit tatsächlich nicht allzu sehr zur Kenntnis. Er ist groß und vollkommen selbstständig, und falls er’s nicht sein sollte, dann muss er es werden. Die Mutter macht sich das aber momentan auf keinen Fall bewusst. Es ist wie ein animalischer Instinkt, sich mehr um das Junge zu kümmern, das schlechter dran ist. Doch nach einiger Zeit wird ihr das leidtun.

Der Vater ist wirklich froh, dass Jakub angefangen hat sich Mühe zu geben. Sogar so froh, dass er seinen Blick nun dermaßen auf Jakub richtet, dass Martin manchmal regelrecht das Gefühl bekommen muss, ihn habe nun überhaupt niemand mehr gern. Zum Glück steht er zu jener Zeit ausgezeichnet im Training, also siegt er, er gibt sich wirklich Mühe, auf einmal liegt so viel daran, dass er nicht Zweiter ist, und das lenkt den Vater wieder in seine Richtung. Der Vater hatte sich allerdings inzwischen angewöhnt, nach der Arbeit auf drei Bier zu gehen und nach dem Training auf weitere vier, eine einfache Gewohnheit. Und jetzt, als sich alles zum Besseren wendet, geht es ja um nichts, und wenn er nicht aus Wut trinkt, dann braucht er eigentlich gar nicht zu trinken, also ist es so, als würde er fast überhaupt nicht trinken.

Samstag

[…] Mein Bruder fängt an, sich für draußen anzuziehen.

Als er fertig ist, sagt er: „Na, Jakub, soll ich Marta von dir grüßen?“ Als hätte er erkannt, woran ich vor einem Moment gedacht habe, als hätte er meine Gedanken gelesen, als wüsste er, dass ich gerade traurig bin.

Er geht also mit ihr irgendwohin, und nicht mit den Jungs ins Winterstadion. Ich dreh mich zu ihm um und will was Gemeines sagen, ich weiß, dass ich böse gucke, aber bevor ich’s schaffe, irgendwas zu sagen, grinst er mich an, hübsch wie er ist, er weiß, dass es funktioniert hat, dass mich das getroffen hat, man kann’s mir am Gesicht ablesen, und wie er so grinst, denke ich bei mir: Ich will, dass er für immer verschwindet, dass er nie wieder zurückkommt, dass ich ihn nie wiedersehe.

Mein Bruder geht und ich drehe mich wieder zu meinem Tisch um und grabsche in der Schublade nach dem Malzeug.

Jeder hat irgendeine Schuld, und ich habe eben die. Ich hab’s zwar nicht ausgesprochen, aber ich hab dran gedacht.

Ich höre, wie sich mein Bruder im Vorsaal Jacke und Schuhe anzieht, dann nur ein Tschüs in den Raum, und weg ist er. Die Tür schlägt zu. Draußen schneit es.

Kurz danach kommt die Mama und fragt mich, ob ich ihr beim Plätzchen ausstechen helfe. Das mach ich. Ich pfeif aufs Malen. Ich steche gerne aus. Außerdem kann ich mir ein paar Kekse so machen, wie ich Lust hab.

Den ganzen Nachmittag backen die Mama und ich Plätzchen, es wird schon zeitig dunkel, in der Küche läuft das Nachmittagsjournal im Radio und mein Vater geht kurz nach meinem Bruder aus dem Haus.

Ich mache Linzer Plätzchen und danach Lebkuchen.

Als ich fertig bin und die Mama die ganze Küche aufgeräumt hat, setzten wir uns an den Tisch, die Mama nimmt sich ihr Buch, ich nehme mir den Raffzahn, die Mama kocht Tee und ich weiß, dass meiner ein Pfefferminztee war, und wir essen die Keksreste, die misslungen oder zerbrochen sind oder so.

Um sieben Uhr zwölf schaut die Mama auf die Uhr und sagt: „Sollte er nicht schon zu Hause sein?“

Ich sage nichts, weil ich dazu keine Meinung hab.

Als es acht durch ist, steht die Mama auf und geht aus der Küche. Ich sehe nach draußen, in der Fensterscheibe spiegelt sich mein Gesicht. Ich gehe den Vorhang zuziehen. Als ich gegen das Licht der Straßenlaternen gucke, sehe ich, dass es noch stärker angefangen hat zu schneien. Es schneit, als wäre eine Wolke aufgeplatzt, und jetzt fällt der gesamt Inhalt runter auf die Erde. Wahnsinnig viel.

Kurz danach kommt die Mama wieder, zieht das Sweatshirt aus, in dem sie gekocht hat, und einen Pullover an.

„Hör mal“, sagt sie, „ich geh mal zum Papa, ich denke, dass du hier eine Weile alleine zurechtkommst. Bitte, stell hier vor allem nichts an, und wenn du Hunger hast, dann nimm dir eine Boulette, da sind noch kalte im Kühlschrank.“

Mein erster Gedanke ist, dass eine kalte Boulette noch weniger schmeckt als eine warme. Dann fällt mir ein, dass mein Vater ja schwimmen ist, und das sage ich auch gleich.

„Ich glaube, dass er dann Karten spielen gegangen ist“, sagt die Mama, ein bisschen traurig, hab ich den Eindruck, sie kommt zu mir, gibt mir einen Kuss und umarmt mich, als würde ich ins Schullandheim fahren, und das ist seltsam. Noch einmal ermahnt sie mich, dass ich den Herd nicht anzünden soll und nicht mit dem Durchlauferhitzer spielen oder mit Messern.

Dann zieht sie sich schnell fertig an und geht. Ich sitze noch eine Weile da, dann steh ich auf und gucke der Mama aus dem Fenster hinterher. Aber wahrscheinlich bin ich zu lange sitzen geblieben, sie ist schon weg. Nirgends ist wer und es schneit.

Ich schalte das Radio aus und gehe fernsehen. Bevor um acht der Film anfängt, geh ich noch schnell auf den Balkon, wo in zwei Schachteln die Plätzchen sind, die wir heute gebacken haben. Ich nehme mir von jeder Sorte ungefähr zwanzig auf einen Teller und gehe gucken.

Als Film auf dem einen Programm kommt „Sie sind Witwe, mein Herr“, so eine blöde Komödie aus den Siebzigern. Besonders witzig find ich das nicht.

Noch denke ich nur an eins: Wenn jetzt jemand zurückkommt, dann erlaubt er mir nicht „Godzilla“ zu gucken, der als nächster Film kommt.

Aber eigentlich rechne ich damit. Jede Minute rechne ich damit, dass mein Bruder zurückkommt. Dann schlafe ich ein und verpasse den Anfang von „Godzilla“. Ich wache auf und habe ein komisches Gefühl.

Ich gucke den Rest von „Godzilla“ und es kommt immer noch keiner. Langsam überlege ich, dass ich was tun sollte, aber ich weiß, dass ich eh nicht aus der Wohnung kann, also. Gegen Mitternacht ist „Godzilla“ zu Ende und dann kommt irgendein Horrorfilm. Den gucke ich mir nicht mehr an, weil ich Schiss hab. Ich schalte aufs Erste um, da ist was Langweiliges. Ich hab aber eh Schiss, ich gehe nicht mal ins Zimmer und sage dem Pirat gute Nacht und decke seinen Käfig zu, ich gehe nicht mal aufs Klo, obwohl ich muss.

Schließlich schlafe ich spät in der Nacht vorm Fernseher ein. Ich versuche ihn auszuschalten, aber in der Wohnung gibt es einen Haufen eigenartige Geräusche, da mache ich ihn lieber wieder an. Das ist die erste Nacht, in der ich alleine zu Hause bin. Und auch die erste Nacht, in der wir alle alleine sind. Ich werde demnächst zehn, mein Bruder ist gerade dreizehn geworden.

Und weiter

[…]

Ich habe einen Traum, ich sitze im Zimmer am Tisch und mein Bruder sitzt neben mir und lacht mich die ganze Zeit an und ich will wissen, worüber er lacht, aber er lacht die ganze Zeit bloß und das geht mir total auf den Geist.

Ich wache auf und im ersten Moment komme ich überhaupt nicht auf den Gedanken, dass er vielleicht nicht hier über mir liegt, aber als ich ganz wach bin, fällt mir’s wieder ein und ich denke, dass ihm bestimmt kalt ist.

Ich schlafe gleich wieder ein.

Früh kommt mich die Mama wecken, und als ich aufstehe, sagt sie: „Jakub, ich finde, du könntest wieder oben liegen, oder? Das ist doch immerhin Martins Bett.“

In diesem Moment halte ich’s nicht mehr aus und wie von selber sage ich: „Aber der Martin ist doch gar nicht da“, und ich sehe, wie das Gesicht von der Mama sich verändert, erst jetzt kapiere ich, ich sage schnell: „Ja, klar, ich kann wieder oben liegen.“

Und abends, als ich ins Bett gehe, klettere ich nach oben, und echt, das macht mir überhaupt nix aus, alles bestens.

Wo mein Vater die ganzen Tage ist, weiß ich nicht. Er kommt immer so spät, dass er mich aufweckt. Manchmal auch nicht. Einmal kann ich nicht einschlafen und höre, dass er zurückkommt, dann kracht es gewaltig und danach ist Ruhe, ich krieg einen Schreck, schließlich mach ich die Tür einen Spalt auf und sehe meinen Vater, wie er auf dem Boden liegt und zwar versucht aufzustehen, aber das klappt nicht so richtig. Schnell mach ich die Tür wieder zu.

Der einzige, der mit mir in diesen Tagen redet, ist mein Wellensittich Pirat. Und dabei kann er noch nicht mal ein einziges Wort richtig sagen.

Im Fernsehen zeigen sie ein Foto von ihm und in der Zeitung, die mein Vater abends mitbringt, ist auch eins. Uns rufen Leute an und sagen, dass sie ihn in Budweis gesehen haben und in Budapest, oder hier, in der Nähe vom Grandhotel.

Wenn meine Mama nicht zu Hause ist, dann ist es meine Aufgabe, das alles aufzuschreiben. Das ist die wichtigste Aufgabe, die ich je in meinem Leben hatte.

Dann kommt meine Oma und gemeinsam bereiten wir uns auf Weihnachten vor. Ich mache, was sie mir sagt. Wir backen noch einen Haufen Plätzchen und räumen die Wohnung auf und verzieren Lebkuchen mit buntem Zuckerguss und machen alles Mögliche, damit wir das Gefühl haben, dass wir zu was nütze sind, und nicht dauernd darüber nachdenken müssen, wo mein Bruder ist und wo meine Mama, die an dem Tag weggefahren ist, als meine Oma aufgetaucht ist, und ob sie zu Weihnachten kommt. Die Oma macht Salat und Suppe, nimmt den Karpfen aus, bereitet alles vor, und am 23. abends wird mir klar, dass die Mama nicht kommt.

Die Oma räumt auch die Sachen von meinem Bruder in Kartons und stellt sie in die Schränke. Damit nicht dauernd sein T-Shirt über den Stuhl hängt. Zwischen die ganzen Sachen hat sie wahrscheinlich auch meinen blauen Pullover mit reingelegt, aber ich traue mich nicht da drin rumzukramen. Die Kartons werden länger in unserer Wohnung bleiben als ich.

Die Mutter greift nach jedem Strohhalm. Sie hat überall in der Stadt Flugblätter aufgehängt, darauf hat sie auch ihre Telefonnummer geschrieben, obwohl sie die Polizisten gewarnt haben, sie solle das nicht tun. „Da rufen Sie Hunderte von Leuten an, da werden Sie verrückt. Überlassen Sie uns das.“ Aber das kann die Mutter nicht. Anhand der Telefonate plant sie ihre Route wie anhand einer Landkarte. Wo sie nicht hinfahren kann, das teilt sie der Polizei mit. Aber vorher schreibt sie es sich so oder so ganz genau auf.

Auch wenn sie es nämlich der Polizei mitteilt, hat sie keine Ruhe, solange sie selber nicht sicher ist, das Martin nicht dort ist. Sie muss da hinfahren. Wenigstens hat sie noch keine Geschenke gekauft, jetzt kann sie das Geld für wichtigere Dinge gebrauchen. Natürlich kann sie vorerst nicht nach Budapest fahren oder nach Košice, sie fängt mit den Orten in der Nähe an. Wenigstens hat sie fast noch gar keine Geschenke gekauft, sie hat also ein bisschen Geld. Zur Sicherheit hat sie trotzdem einen Teil von dem Geld abgehoben, was sie für die Jungs gespart hatte. Natürlich zahlt sie’s wieder ein, wenn das hier vorbei ist, sagt sie sich.

Bevor sie abreist, ruft sie ihre Mutter an. Die kommt natürlich, mit dem Zug um 18.15 Uhr. Die Mutter ist auf dem Bahnhof, übergibt ihr bloß die Schlüssel und fährt um 18.42 Uhr mit dem Zug nach Prag, wo sie in den Zug nach Budweis umsteigt. Schon während der Zug die Stadt verlässt, spürt die Mutter, dass es ihr besser geht. Jetzt liegt vor ihr die ganze Welt, die sie durchsuchen muss.

In Budweis ist sie fünf Tage und dann fährt sie zurück nach Prag. Das Geld für die Geschenke gibt sie für Brot aus und für Arbeiterwohnheime voll mit Ukrainern. Damit es so billig wie möglich wird. In der Nacht hört sie ihr betrunkenes Gerede.

Sie läuft in Städten umher, die sie nicht kennt, und jeder blonde Junge ist von weitem ihr Martin. Tagelang geht sie durch das weihnachtliche Prag und weiß, dass sie jetzt nicht nach Hause zurück kann. Am Morgen des 23. trifft sie aber am Bahnhof ein Zigeunerkind, das Geld von ihr will. Die Mutter gibt ihm nichts, aber sein Gesichtchen erinnert sie an Jakub. Sie sucht noch den ganzen Tag weiter und fährt dann mit dem Zug um 17.22 Uhr zurück nach Königgrätz.

Überstürzt steigt sie in Nymburk aus, weil ihr vorkommt, als hätte sie ihn gesehen. Der Zug fährt ihr weg, sie nimmt den nächsten.

Am Tag vor Heiligabend kommt abends um acht meine Mama nach Hause. Ich springe an ihr hoch und heule. Sie heult nicht. Sie ist irgendwie anders. Nach einer Weile schiebt sie mich weg und greift nach dem Notizblock, der neben dem Telefon liegt.

Auf dem Zettel neben dem Telefon stehen seit der Zeit, als sie weggefahren ist, noch einmal tausend Stellen, wo mein Bruder garantiert ist. Meine Mama überfliegt sie, und mich sieht sie überhaupt nicht mehr. In letzter Zeit werden es zum Glück weniger Leute, die anrufen. Wenn sie dann ganz aufhören anzurufen, weiß meine Mutter nicht mehr, wo sie hinfahren soll. Und dann kommt sie zurück.

Der Vater geht jeden Tag zur Arbeit und nach der Arbeit zur Polizei. Nichts passiert. Sie überprüfen Spuren. Doch Martins Foto ist nicht mehr jeden Tag in den Fernsehnachrichten.

Dann geradewegs ins Wirtshaus. Sich betrinken. Nach Hause so, dass er sofort einschläft. Die Sauferei ist für den Vater dasselbe wie für die Mutter all die Kilometer, die sie Tag für Tag zurücklegt.

So müde, dass sie schließlich einschlafen. Und sie träumen nichts.

Nach Weihnachten

[…]

Die Mutter trifft zwei Tage vor Silvester in Prag ein. Sie geht in das Arbeiterwohnheim, wo sie schon zuvor gewohnt hatte, und die Ukrainer grüßen sie wie eine alte Bekannte. Auch ein paar Obdachlose mit Furunkeln im Gesicht erkennen sie inzwischen wieder. Die Mutter geht nachts an Orte, an die sie in ihrem vorangegangenen Leben nicht einmal tagsüber gegangen wäre. Sie sieht Kinder, die jünger sind als Martin, die beim Lachen ihre schwarz gewordenen Zähne zeigen und ihr am liebsten das Portemonnaie klauen würden. Das Geld hat die Mutter in einer Socke. Zu Silvester ruft sie zu Hause an, aber niemand geht ans Telefon. Sie stößt auch mit den Ukrainern mit Wein an. Sie verhalten sich ihr gegenüber nett, fast schon galant. Auf dem Bahnhof presst sie ein unbekannter Ukrainer gegen eine Wand und versucht sie zu begrabschen, im Wohnheim hätte sie ein anderer am liebsten vor allem Bösen beschützt.

Doch die Mutter ist nur mit Suchen und Schlafen beschäftigt. Seit dem Beginn ihrer Suche hat sie schon fünf Kilo abgenommen. Seit dem Verschwinden sieben. Wenn das so weitergeht, wird sie schon in kurzer Zeit einen Körper haben wie in ihrer Jugend.

Papa

[…]

Mein Vater tut auf einmal so, als wäre ich noch ganz klein. Ich muss baden, bevor er aus dem Haus geht, ich weiß nicht, denkt er, dass ich in der Wanne ertrinke? Und dann schließt er mich hier ein. Zuerst will ich ihm sagen, was ist, wenn es brennt, aber dann sage ich mir, dass ich ihn nicht unnötig auf die Palme bringen werde.

Ich liege gerade im Bett und lese, als das Telefon klingelt. Ich vermute, dass das mein Vater ist und mich kontrolliert, aber es ist meine Mama. Einen Augenblick sagt sie gar nichts. Als ich sie höre, ist mir wieder zum Heulen. Sie fragt, wie es so bei uns hier läuft. Ist der Papa zu Hause? Was habe ich zum Abendbrot gegessen? Wie geht’s in der Schule? Als ob sie irgendwo zur Kur wäre und sonst nix wäre. Ich frage sie gar nix, sie selbst sagt auch nix, vielleicht kommt sie ja jetzt zurück.

Die Mutter ist nach wie vor auf der Suche. Sie hat jetzt eine Spur. Sie hat diesem Mann ein Foto gezeigt, und als sie seinen Gesichtsausdruck sieht, ist sie sich sicher, dass er etwas weiß. Aber er bestreitet das. Die Mutter bietet ihm Geld, und als er es nicht will, bietet sie sogar sich selbst an. Sie heult. Der Kerl lässt sie aber stehen, und obwohl sie ihm hinterher rennt, verliert sie ihn in der Menschenmenge. Die Mutter sucht jetzt außer Martin auch noch diesen Kerl. Sie isst nichts. Sie weiß, dass sie kurz vor dem Ziel ist. Sie nimmt noch zwei Kilo ab.

Aber meine Mama kommt nicht zurück. Bis zum Frühling bin ich mit meinem Vater alleine. […]

Mama

Die Mutter kollabiert im Wohnheim. Erschöpfung des Organismus. Sie bringen sie ins Krankenhaus, wo die Mutter aber nicht so lange bleiben kann, wie es nötig wäre. Sie fetzt sich die Schläuche aus dem Arm und will gehen. Als sie sie nicht lassen, will sie durchs Fenster verschwinden. Im zweiten Stock.

Uns rufen sie erst an, als meine Mama schon in der Nervenklinik in Prag-Bohnice liegt. Wir fahren mit dem Zug zu ihr, mein Vater kauft einen Blumenstrauß und ich bin so angezogen, als müsste ich zum Fotografen. Im Krankenhaus ist es trist, obwohl draußen ein schöner Frühlingstag ist, wir gehen den Gang entlang und da stinkt’s so, wie als ich im Krankenhaus war, das kommt plötzlich alles zurück, Erinnerungen an Gerüche sind am stärksten, ich merke, wie mir der Beinstummel wehtut, obwohl das gar nicht stimmt. Und dann sehen wir die Mama, sie ist furchtbar dürr, ich will heulen, die Freude, dass ich sie sehe, und ein schrecklicher Kloß im Hals, weil sie so aussieht, aber ich bin schon groß, ich heule nicht mehr. Höchstens alleine, wenn überhaupt. Ich und mein Vater stehen nur verlegen rum, ich setze mich dann zu ihr an den Bettrand und meine Mama sagt nichts, also abgesehen von dem normalen Zeug, ich bemühe mich ihr zu sagen, wie es uns geht und wie es zu Hause läuft, und auch mein Vater erzählt, er nimmt meine sportlichen Misserfolge plötzlich ganz leicht und macht einen riesigen Spaß daraus.

Erstens ist das alles völlig sinnlos.

Zweitens kommt meine Oma mit uns mit und wohnt dann eine Woche bei uns. Nach langer Zeit esse ich beispielsweise mal wieder Semmelschmarren oder eine richtige Suppe, keine aus der Tüte. Mein Vater kümmert sich nicht besonders um uns und wir uns nicht um ihn. Ich will, dass sie da bleibt, weil mit ihr alles so normal ist, gar nicht mal besonders lustig, eben einfach so, wie es sein soll, alles läuft so dahin, ohne diesen allgegenwärtigen Schatten von meinem Bruder, unsere Wohnung ist ohne die Oma wie ein Bottich voller Sirup, durch den man sich nur schwer hindurchbewegen kann. Aber es geht nicht, sie hat zu Hause Kaninchen und Hühner, die inzwischen ihr Nachbar füttert. „In den Ferien kommst du zu mir, Jakub.“ Na gut.

Als wir das vierte Mal hinfahren und die Mama mit uns zurückkommt, sieht schon alles besser aus. Die Mama ist nicht mehr so dürr und redet ganz normal mit uns. Zwar nicht so viel, wie früher, aber das wird sie wahrscheinlich nie wieder. […]

 

© Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch, 2008, E info@worte-und-orte.de