Eugen Brikcius

Et tu, Šrute? oder Die beste aller möglichen

2003 | Garamond a Zdeněk Cibulka - Týnská literární kavárna

Unsere Geschichte trägt sich in der besten aller möglichen Welten zu. In einer Welt, für die sich selbst der große Leibniz nicht schämen müsste. Deshalb darf man sich nicht wundern, dass alles wie in einem Hollywoodfilm abläuft. Einige Personen gibt es wirklich, andere sind lediglich zufällige Namensvetter wirklicher Personen. Unterschiedslos für alle gilt jedenfalls, dass, falls sie unten beschriebenes bisher noch nicht erlebt haben, sie es offenbar noch zu erwarten haben.
Verwirrt verlässt Antonín Panenka das Haus. Eigentlich sollte er losrennen, die Mährische Straße hinunter, um rechtzeitig da anzukommen, wo er mit Spannung erwartet wird. Stattdessen begibt er sich im Bemühen um größere Glaubwürdigkeit der Geschichte in den gegenüberliegenden Bierausschank „U Jirásků“. Er lässt sich auch vom über Nacht übermalten Aushängeschild nicht davon abbringen. Die Serie von Überraschungen am heutigen Tage kann weitergehen.
Der ungewöhnlich gekleidete Schankwirt schiebt dem Dauergast statt eines kleinen Biers ein Glas trockenen Sekt zu. „Aber doch erst nach dem Spiel“, wendet Panenka ein, doch gleich darauf erliegt er beinahe hedonistisch der Versuchung. Während er das feine Schlückchen noch voll auskostet, erblickt er plötzlich ein hyperrealistisches Porträt von sich über dem Bartresen. Zur Sicherheit kneift er sich heimlich. Das treue Bild hängt lustig weiter dort. Panenka gibt den ungleichen Zweikampf vorausschauend auf. Er trinkt lieber sein Glas leer und verfällt allmählich in eine wonnige Agonie, aus der ihn erst eine verspätete Welle von Verantwortungsgefühl erweckt.
Dann geht alles Schlag auf Schlag. Noch ein Gläschen Sekt auf den Weg – offenbar auf den Weg in die beste aller möglichen Welten – und dann empfiehlt sich Panenka auch schon. Vor der Sektbar atmet er tief durch und rennt definitiv los, die Mährische Straße hinunter, verständlicherweise in die richtige Richtung …
Die richtige Richtung kann nicht nicht zum richtigen Ziel führen – und das befindet sich auf der näher gelegenen Hälfte des zentralen Tennisplatzes auf der Prager Moldauinsel Štvanice. Panenkas Partner im Doppel, der Dichter Pavel Šrut, kann den zu spät Gekommenen nicht einmal mehr begrüßen, er macht ihn nur noch blitzschnell auf den sich nähernden Returnball aufmerksam. Den Gegenspielern war es offensichtlich gelungen Panenkas Aufschlag zu kontern, der – allen Indizien zufolge – dem Beginn unserer Geschichte unmittelbar vorausgegangen ist.
Der Ball nähert sich unbarmherzig. Der Dichter Šrut tritt höflich hinter die Seitenlinie zurück, damit Panenka mehr Platz hat. Es folgt ein varietéreifer Lob, nach dem sich die zum Netz vorrückenden Gegner zwar umdrehen, ihn zu erreichen verzichten sie jedoch wohlüberlegt. Der Dichter Šrut kehrt auf den Court zurück, um Panenka in Versform zu huldigen. Mit Anerkennung sparen auch die Gegenspieler nicht, in denen Panenka jetzt mit Sicherheit die Tennisgrößen Connors und Năstase erkennt. Das Schema der ersten Fünfzehn wird wegen des großen Erfolgs in unwesentlich abgewandelten Varianten wiederholt, bis Panenka mit dem vierten Lob seinen Satzball gewinnt.
Unter dem stürmischen Beifall der begeisterten Zuschauer kommt es zum Seitenwechsel. „Panenka, Šrut – eins null im ersten Satz“, verkündet der Umpire und das Tennisquartett nimmt auf den Ruhebänken Platz. Bei dieser Gelegenheit stellen sich die weltberühmten Gegner als Jimbo und Mr. Nasty vor. Trotz der Proteste des Schiedsrichters ziehen sie eine Flasche trockenen Sekt aus dem Kühler und bieten ihren Kontrahenten gentlemanlike die gefüllten Gläser an. „Aber doch erst nach dem Spiel“, wendet heute schon zum zweiten Mal Panenka ein, doch auch diesmal gibt er weise nach. Der Toast aufs Kennenlernen bestätigt erwartungsgemäß die Nähe der besten aller möglichen Welten. Noch ehe Panenka ganz charakteristisch im Stil eines Disney’schen Dachses einschläft, erinnert er sich, dass Jimbo und Mr. Nasty dafür schon einmal in Wimbledon eine Strafe bekommen haben …
Der Schiedsrichter verkündet den Matchbeginn. Die Spieler nehmen ihre Positionen ein. Panenka protestiert gegen die offensichtliche Annullierung des gewonnenen Spiels, aber niemand hört ihm zu. Er bedient Mr. Nasty. Zu Panenkas Erstaunen kommt er dabei ohne Ball aus. Geistesgegenwärtig tritt der Dichter Šrut auch bei dieser Tennispantomime hinter die Linie zurück. Panenka bleibt nichts anderes übrig als den imaginären Ball zurückzuschlagen. Jimbo zeigt an, dass der Ball außerhalb des Spielfelds aufgekommen ist. Der Schiedsrichter bestätigt seine Reklamation ohne zu zögern. Der Dichter Šrut bleibt hinter der Linie, denn es gibt nichts, was in Versform zu feiern wäre. Der unsichtbare Ball fliegt hin und her, doch nur in der tschechischen Hälfte landet er erfolgreich. Alle Aufschläge, Returns und Schmetterbälle von Panenka landen im Aus. Einer der nicht existenten Bälle fliegt sogar bis auf die Tribüne. Nach ihm bückt sich ein alter Herr, dessen Aussehen einem irgendwie bekannt vorkommt. Das ganze Stadion erhebt sich ehrerbietig. Der alte Herr hebt den Ball feierlich in die Höhe, schaut mit dem Stolz des Autors zu ihm auf und dann wirft er ihn elegant zurück aufs Spielfeld.
Auf dem Konto der Gegner versammeln sich Spiele, Sätze und schließlich auch das Match. Panenka und der Externe Šrut spielen sich, ohne auch nur einen Punkt zu machen, durch diese Antonioni’sche Partie. Die Vision von der besten Welt löst sich in der eingetretenen Entropie auf. Der Stress erreicht seinen Höhepunkt und Panenka erwacht. Verdutzt stellt er fest, dass er auf der Ruhebank sitzt, auf der er nach dem ersten Spiel des tatsächlichen Matches beim Stand von 1:0 eingeschlafen war.
Panenka steht auf. Der Balljunge wirft ihm einen Ball zu. Zum Gaudium des Publikums betastet Panenka ihn, so als könne er nicht glauben, dass er echt ist. Das Spiel kann normal weitergehen. Panenka brilliert regelrecht. Der Dichter Šrut kehrt nach jedem Schlag mit immer neuen Oden auf den Court zurück. Mr. Nasty salutiert, während sich Jimbo anerkennend verbeugt. Die Vision von der besten Welt gewinnt erneut deutliche Konturen. Das Publikum gerät in Ekstase. Damen in Roben fallen in Ohnmacht, Kavaliere bringen sie wieder zu Bewusstsein oder drohen mit den Fäusten gen Himmel, über dem Stadion erheben sich Ballons in die Lüfte, heulend fahren Züge vorbei und auf den Tribünen brandet ein nicht enden wollender Applaus.
Panenka und der Dichter Šrut siegen. Sie treten an das Netz des besten aller möglichen Tennisplätze auf dieser besten aller möglichen Welten um die berühmten Besiegten zu umarmen. Aber weit gefehlt! Der alte Spaßvogel Jimbo fängt an, mit bei weitem nicht imaginären Bällen auf Panenka zu zielen, die ihm Mr. Nasty eilfertig zureicht. Nach und nach machen auch die Balljungen mit und schließlich auch die Zuschauer, die die Bälle aus ihren überraschend tiefen Hosentaschen herausbefördern. Seinen Ball wirft auch der Dichter Šrut. „Et tu, Šrute?“, kann Panenka gerade noch ausrufen und dann stürzt er wie eine lebendige Zielscheibe zu einem der Ballons, der ihm zu Hilfe vom Himmel selbst herab gesandt wurde.
Das Bombardement geht weiter. Panenka rettet sich in den Korb des Ballons, der augenblicklich zu steigen beginnt. „So ist das also mit der Pluralität der möglichen Welten“; lamentiert Panenka und voller Verzweiflung wehrt er die heranfliegenden Bälle mit seinem Tennisschläger ab. Bei einem der vehementeren Abschläge fliegt ihm der Schläger in hohem Bogen aus der Hand. Panenka lehnt sich hilflos aus dem Korb. Der Schläger landet tief unten inmitten der Tennishölle. Panenka lehnt sich noch weiter hinaus. Als er versucht einen der Bälle zu erhaschen, die ihn auch in dieser Höhe nicht aufhören zu bedrohen, verliert er das Übergewicht, kippt über den Korbrand und fällt …
Der völlig durchgeschwitzte Panenka erwacht zu Hause im Bett. Als ihm klar wird, dass er alles nur geträumt hat, ist er ungemein beruhigt. Zwar verstört ihn nun wiederum der Tennisschläger samt Ball direkt neben seinem Bett, aber dann winkt er ab und schläft wieder ein.
Das Telefon klingelt. Panenka tastet in Filmmanier nach dem Hörer. Am Apparat ist der Schiedsrichter vom zentralen Tennisplatz auf der Prager Moldauinsel Štvanice. Der verschlafene Panenka erfährt, dass in einer Minute im menschengefüllten Stadion das Match beginnt. Er springt aus dem Bett und stellt erstaunt fest, dass er ein Tennisdress trägt. Er hebt den Schläger und den Ball vom Fußboden auf. Aus dem nicht aufgelegten Hörer meldet sich noch einmal der Schiedsrichter: „Antonín Panenka, first service.“
So unter Zeitdruck, absolviert Panenka den Aufschlag durch das geöffneten Fenster. Der Ball fliegt über ganz Prag hinweg in Richtung Štvanice. Panenka rast zur Tür. Er will nämlich das Unmögliche versuchen und den Return des Gegners kontern. Mit Schwung öffnet er die Tür und rennt in den Hausflur. Statt wie gewöhnlich die Treppen hinunterzulaufen, steigt er schicksalhaft in den von irgendjemandem gerufenen Fahrstuhl ein. Zwanghaft schaut er in einen der seitlichen Spiegel um sich seinen Schnurbart zu richten und hält entsetzt inne. Dank dem gegenüberliegenden Spiegel wiederholt sich sein Abbild bis ins Unendliche.
Aber was für ein Bild! Das Phantom im Spiegel hält in der linken Hand einen Tennisschläger, mit der rechten fasst es sich aufs Herz. Es erinnert auffällig an einen amerikanischen Tennisspieler beim Erklingen der Nationalhymne. Das Dress, das er anhat, ist strahlend weiß. Die Erscheinung ist so wirkungsvoll, dass Panenka während der ganzen Abfahrt die Augen nicht vom Aufmarsch seiner Doppelgänger losreißen kann.
Als der Lift endlich im Erdgeschoss ankommt, steigt Panenka in Gedanken versunken aus. Die angebotene Pluralität möglicher Welten geht ihm nicht aus dem Kopf. An die beste von ihnen glaubt er vorerst noch nicht. Er gewinnt eher den Eindruck sich in einer der weniger wahrscheinlichen zu befinden. Verwirrt verlässt er das Haus.
Eigentlich sollte er losrennen, die Mährische Straße hinunter, um rechtzeitig da anzukommen, wo er mit Spannung erwartet wird. Stattdessen begibt er sich im Bemühen um größere Glaubwürdigkeit der Geschichte in den gegenüberliegenden Bierausschank „U Jirásků“. Er lässt sich auch vom über Nacht übermalten Aushängeschild nicht davon abbringen. Die Serie von Überraschungen am heutigen Tage kann weitergehen.
Der ungewöhnlich gekleidete Schankwirt schiebt dem Dauergast statt eines kleinen Biers ein Glas trockenen Sekt zu. „Aber doch erst nach dem Spiel“, wendet Panenka ein, doch gleich darauf erliegt er beinahe hedonistisch der Versuchung. Während er das feine Schlückchen noch voll auskostet, erblickt er plötzlich ein hyperrealistisches Porträt von sich über dem Bartresen. Zur Sicherheit kneift er sich heimlich. Das treue Bild hängt lustig weiter dort. Panenka gibt den ungleichen Zweikampf vorausschauend auf. Er trinkt lieber sein Glas leer und verfällt allmählich in eine wonnige Agonie, aus der ihn erst eine verspätete Welle von Verantwortungsgefühl erweckt.
Dann geht alles Schlag auf Schlag. Noch ein Gläschen Sekt auf den Weg – offenbar auf den Weg in die beste aller möglichen Welten – und dann empfiehlt sich Panenka auch schon. Vor der Sektbar atmet er tief durch und rennt definitiv los, die Mährische Straße hinunter …

 

© Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch, 2004
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