Karel Veselý

Hammer ★ funk

2017 | BiggBoss

Am Anfang war der beat, der dem ganzen Universum seinen Rhythmus gab. Den Sonneneruptionen und der Zellvermehrung, dem Jahreszeitenwechsel und dem Herzschlag aller Lebewesen. Was immer auf der Welt geschieht, steht in synkopischem Bezug zur ersten Ebene. Auch was als Abweichung erscheint, ist Teil der großen Rhythmus-Harmonie, die dem Universum sein Schritttempo vorgibt.

Diese vollkommene Ordnung bezeichnen wir als allgemeinen funk, sie ist das Gesetz und die Kraft die jedwede Materie lenkt. Gäbe es sie nicht, bliebe das Universum Chaos, gezeichnet von Beliebigkeit, bar jeder Existenzberechtigung. Alles, was im funk-Rhythmus besteht, ist gut, und alles, was jenseits von ihm liegt, gibt es gar nicht.

Wenn sich in einem Klub verschwitzte Körper in diesem Rhythmus winden, manifestiert sich die ewige Kraft pulsierenden Seins. Im Geheul des Sängers, dem Summen der E-Gitarre, dem Pumpen des Basses, dem Poltern des Schlagzeugs und Fauchen des Atems erklingt die kosmische Einheit des beats auf aller Zeiten Anfang. Es ist gar nicht die Band, die da funk spielt, es ist der Funk, der mit ihr spielt.

Wenn alle loslassen, wenn die Tänzer in Bewegung kommen, gibt es kein Zurück. Plötzlich stehen alle unter einem groove, der freudig zu betrachten ist als absolut natürlich und notwendig. Betrachten, weil man die Gesetze der Bewegung, eingewoben in die DNA des Universums, nicht durch Nachdenken erfassen kann, man kann sie nur fühlen.

Das war der Weg, den ich gegangen bin, bemüht, mich einzustimmen, anzuschließen, mich zu rhythmisieren. Statt fließender Bewegungen stolperte ich eins ums andere Mal, aber mein Stolpern transformierte sich in Tanz. Und bei den irrsten Schritt-Kombinationen fühlte ich, wie alles anfing Sinn zu machen.

Aus Zweifeln wurde Sicherheit, Verzweiflung Freude. Ich brauchte nur dem Rhythmus meines Herzen lauschend mit ihm eins zu sein. Und wurde immer wieder Teil des allgemeinen funk.

 

  1. Zeitzeichen (Oktober 1988)

Zuweilen denke ich darüber nach, ob nicht alles nur ein Traum war. Eine Verirrung des Verstandes, der erdichtete Ereignisse zu unwahrscheinliche Sequenzen zusammenfügt. Wo das Gedächtnis versagt und Erinnerungen sich mit Fiktionen mischen und ich vergebens auf der Suche bin nach einem Anhaltspunkt. Aber wenn doch, was dann ….?

Mir kommt das alles so greifbar und wirklich vor. Und ich sage mir, auch wenn mein Hirn sonstnochwie krank wäre, wäre es denn überhaupt fähig, sich so etwas Verrücktes auszudenken? Ist das nicht doch ganz einfach der ersehnte Beweis dafür, dass alles das wirklich passiert ist?

Den Anfang nahm die Sache eines Nachmittags im Herbst. Ich saß im Gang vor dem Büro des Präsidenten und wartete, bis ich an die Reihe komme. Der Raum war still und lag im Dämmerlicht. Mein Herzschlag klopfte die Sekunden mit und ich ließ meinen Blick über die Wände schweifen. Allmählich gab die Dämmerung einzelne Gegenstände frei, Bilder, schwere Vorhänge, Fenster und Türen und eine majestätische Decke mit dem Staatswappen als Relief.

Meine Erinnerung an diesen Augenblick ist derart intensiv, dass ich heute nicht mehr weiß, was vorher war. Keine Ahnung, wie ich hier hergelangt war. Wer hatte mich eingeladen? Da ist nur diese drückende Nervosität, die meine Eingeweide knotig krampft, und darüber bricht sich die gedämpfte Flamme der Erwartung Bahn, die Vorfreude auf das, was kommen soll. Ich kann es nicht erwarten, was mir da bevorsteht, dieses Treffen mit dem Oberhaupt unseres Staates. Mit dem Präsidenten höchstpersönlich!

Was war das doch für eine unbeschreiblich große Ehre für den ganz normalen Produzenten eines kleinen Clubs am Rand der Hauptstadt. Menschen meines Schlages treffen sich doch nicht mit jemanden wie ihm. Auf der einen Seite mein kleines, unbedeutendes Leben und auf der anderen das Leben eines Menschen, den die Geschichte vor so viele schwerwiegende Entscheidungen gestellt hat. Und der sie immer wieder zuverlässig gelöst getroffen hat, Zufriedenheit der arbeitenden Bevölkerung.

Ich darf mich nicht mit ihm vergleichen, dazu habe ich kein Reich, auch nicht in seinen Spuren zu wandeln. Ich darf nur ehrerbietig seine Schritte erforschen und meine Lehren daraus ziehen. Doch wenn mir auch bisher die Ehre einer persönlichen Begegnung mit ihm versagt gewesen ist, scheint es mir doch, als sei er mir mein ganzes Leben lang bis heute nah gewesen, all die dreiundzwanzig Jahre lang.

Ich habe meinen Vater kaum gekannt, und so war es dieser stolze Mann, dessen Bild an der Wand im Klassenzimmer hing, auf den sich meine Blicke bittend richteten. Es mag gewagt klingen, aber er wurde zum Vater-Ersatz für mich. Stets fürsorglich und weise, gab er seinem Sohn ein Gefühl von Sicherheit und stärkte seine Überzeugung, dass alles so war, wie es eben sein sollte.

Nun sollte ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Ich hatte Angst, dass diese Riesenehrfurcht, die ich für ihn hegte, vom Anblick eines alternden, möglicherweise weniger scharfsinnigen und allwissenden Mannes, als ich ihn mir immer ausgemalt hatte, Schaden nehmen könnte. Immerhin sollte er in diesem Jahr schon 75 werden – ein Alter, in man bereits ein Recht darauf hat, dass die Kräfte langsam schwinden und das Alter selbst definitiv die Herrschaft über den Körper zu beanspruchen beginnt.

Aber dann erwiesen sich meine Befürchtungen als völlig unbegründet. Der Mann dort im Büro war wirklich jener Mann aus meiner Vorstellung, zu dem ich von je her voller unendlichem Vertrauen aufgeblickt hatte. Als der Sekretär mich endlich aufrief und ich aus dem dämmrigen Vorzimmer in den lichtdurchfluteten Raum trat, stand er am Fenster, breitbeinig und von mir abgewandt, die Händen hinter dem Rücken. Und sah durch das leicht geöffnete Fenster hinunter auf die Stadt.

Eine wunderbare Szene. Als sähe er da unten, unter sich, die ganze Welt. Aber nur ein unauffälliger Perspektivwechsel hätte ausgereicht, und man hätte sehen können, dass er das ganze Land auf seinen breiten Schultern trug, den Staat und seine ganze Schwer- und Leichtindustrie, das Schul- und das Gesundheitswesen und die Landwirtschaft, alles Glück des arbeitenden Bevölkerung, der Arbeiter, der Bauern und der Bildungsschicht, da hatte er das ganze Volk hatte er auf seinem Buckel, und trotzdem stand er aufrecht.

„Ehre der Arbeit, Jiří“, sagte er mit fester Stimme. Sein Sekretär bedeutete mir, ich solle auf den Läufer treten, der zum Präsidententisch hinführte. Dem Protokoll gemäß hätte ich zuerst grüßen sollen, aber vor Staunen angesichts dieser Szene blieb ich stumm.

„Ehre der Arbeit, Genosse Präsident“, presste ich endlich hervor. Er drehte sich um, aber sein Gesicht sah ich immer noch nicht, ein Schatten lag darauf.

„Bitte! Setzen Sie sich“, sagte er und zeigte auf einen mit tiefrotem Samt gepolsterten Sessel. In seinem Tschechisch schwang noch ein slowakischer Akzent mit, weich wie ein Federbett, und hie und da schlüpfte auch ein Wörtchen aus seiner Muttersprache in seine Rede hinein.

Das Büro war überraschend klein, aber anheimelnd. Ein massiver Tisch und zwei Wände voller hoher Bücherregale.

„ Jiří! Danke, dass Sie gekommen sind. Ich habe eine Aufgabe für Sie.“

Nun sah ich endlich sein Gesicht, in das ein bewegtes Leben voller Kampf und Schaffen eingeschrieben war. Details nahm ich nicht wahr, es wirkte auf mich als Ganzes, wie eine Ikone, in der ich ein allgemein bekanntes Symbol wiederkannte, das mich von frühester Jugend an begleitet hatte.

„Sie haben die zeitgenössische bourgeoise Musik studiert, stimmt das?“

„Ja, Genosse Präsident. Meine Dissertation beschäftigt sich mit kapitalistischer Rockmusik. Ich habe dafür eine ausgez …“

Er unterbrach mich mit einer Handbewegung.

„Ein bisschen ein seltsames Thema am Institut für Marxismus-Leninismus …“

Er setzte sich an den Tisch und wieder wechselte das Licht. Dieses Gesicht! Schon tausendmal gesehen, auf offiziellen Porträts, Fotos und im Fernsehen. Es war dasselbe, und doch ein anderes.

„Mit Verlaub, da muss ich widersprechen. Schließlich war die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch Kunst, die Verdunkelung ihres wahren Bewusstseins durch falsche Bilder doch schon bei Karl Marx selbst ein Thema. Auch Vladimír Il`ič Lenin hat eine Schrift darüber verfasst, die leider während seines Lebens nicht erschienen ist.“

„Ich weiß, ich weiß, natürlich“, sagte er und ich folgte seinem auf die riesige Bücherwand. Die Karl Marx’ Ausgewählte Werke standen auf dem obersten Regalbrett, gleich darunter im roten Einband Lenins Kompendien samt Zusätzen. „Verfolgen sie auch die zeitgenössische Arbeiter- und Bauernmusik bei uns?“

„Sicherlich. Ich bin Referent im Kulturhaus in Kobylisy. Da kommen Bands aus der ganzen Republik zu uns.“

„Und was sagen sie zu denen?“
„Man kann sie wohl schwerlich insgesamt bewerten. Manche sind nicht schlecht …“

„Nicht schlecht, sagen Sie … Sehen Sie …“ Er schwieg einen Moment. „Sie sind nicht schlecht. Das bedeutet doch, sie könnten viel besser sein? Ist das so?“

Da mir nichts Besseres einfiel, nickte ich. Er machte einen Schritt zum Fenster hin und schaute wieder hinunter auf die Stadt. Ich sah seinen runzligen Hals, auf dem ein Kopf mit einer riesigen Hirnschale thronte, die quasi vom dem Schädel aus in die Gesichtshälfte des Kopfes hinüberzufließen schien.

Er war schon fast kahl, so waren die Konturen der gespannten Knochen, die mit allen Kräften seine quellende Gedankenkraft festhielten, gut zu sehen. Ich stellte mir vor, wie es in tief drinnen in seiner Hirnmasse wild blubberte und aus dem Geysir pulsierender Neuronen revolutionäre Gedanken auftauchten. Hier wurden also all die sagenhaften Ideen geboren?

„Es liegt was in der Luft, Jiří.“ Er drehte sich plötzlich um und ich sah, wie sein Gesicht bleich wurde. „Staatsfeindliche Elemente bereiten sich zum Angriff vor, und diesmal wird es nicht mit irgendwelchen Zusammenstößen auf einem Platz abgehen, einem bisschen Chaos, das wir mit Wasserwerfern wegspülen können. Sie mobilisieren ihre Kräfte und besetzen wichtige Positionen. Unter den jungen Leuten verbreiten sich gefährliche Gedanken, natürlich alles bezahlt vom heimtückischen Westen. Es ist wie damals, Achtzig, und wenn wir das nicht stoppen, war es das mit dem Sozialismus.“

Stille. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte geahnt, dass der Lage ernst war, aber mir wäre nie eingefallen, dass sie so ernst sein könnte. Es hatte hierzulande immer Leute gegeben, die nicht mit der Partei und der arbeitenden Bevölkerung konform gehen wollten, seltsame Elemente, denen die Dinge, die wir gemeinsam erreicht hatten, nichts wert waren. Ewige Kritikaster, die nur Worte kannten, aber keine Taten, Zweifler und Querulanten.

„Die Jugend ist auf unserer Seite, Genosse Präsident. Davon bin ich überzeugt, ich treffe sie täglich und habe kein einziges Anzeichen beobachtet …“

„Nett, was sie da sagen, lieber Jiří“, er lachte. „Aber mit der Jugend ist das eine schwierige Sache. Sie gerät so leicht unter schlechten Einfluss. Ein ideologisch schädliches Buch, ein Lied, und so ein junger Mensch wird in seinen Standpunkten verunsichert, beginnt zu zweifeln. Sie wissen wohl, dass Zahl der Neumitglieder im Verband der sozialistischen Jugend gesunken ist?“

„Die schwachen Jahrgänge sind mit der Oberschule fertig …“

„Nein, Jiří. Das ist diesmal kein schwacher Jahrgang, und auch sonst nichts von der Sorte. Der Jugend von heute fehlt die revolutionäre Begeisterung. Das ist es!“, sagte er entschieden und schaute mir in die Augen. Sein Blick war feurig, und eine große Kraft lag darin. Er litt wirklich an den Dingen, von denen er sprach. „Ich erinnere mich an die Fünfziger Jahre, unmittelbar nach der Revolution. Damals war noch nichts gewonnen, der Feind war überall und wenig hätte gereicht, damit alles den Bach runter geht. Aber damals war es das kommunistische Jungvolk, das den neuen Staat aufbaute. Sicher, es wurden Fehler gemacht. Ich selbst habe für sie büßen müssen. Aber an der Arbeit, die diese Generation geleistet hat, gibt es keinen Zweifel. Ohne sie wären wir heute nur ein Bundesland der BRD. Und Sie wissen sicher, was mir aus jener Zeit am meisten im Gedächtnis geblieben ist, mein lieber Jiří?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Die Lieder. Wir haben gesungen, von morgens bis abends. Die Lieder waren es, die den revolutionären Geist in uns geweckt und die dunklen Erinnerungen an die Zeit der Okkupation vertrieben haben. Mit ließ es sich besser arbeiten und besser ausruhen. Sie stammten von den besten Musikern, die den Krieg überlebt hatten, und ihre Texte waren von unseren besten Arbeiter-und-Bauern-Dichtern: Kundera, Kohout, Kainar … Heute noch, wann immer ich eines dieser Lieder vor mich hinsumme, läuft mir glatt kalt den Rücken runter! Und ich kriege wieder Lust, so eine Fünfzehn-Stunden-Schicht im Stahlwerk oder bei der Hopfenernte anzutreten!“

Die Jugenderinnerungen hoben seine Laune. Als zäher Kämpfer wusste er jedoch, dass er sich nichts anmerken lassen durfte.

„Und Jiří, wenn Sie sich die Jugend von heute anschauen … Was tun die? Singen sie?“

Mir brach der kalter Schweiß aus. Worauf wollte der oberste Vertreter unseres Staates mit solchen Fragen hinaus? Und warum hat er mich überhaupt zu sich gerufen?

Er wartete nicht, bis ich etwas sage, sondern antwortete selbst.

„Wenn ich hier eine Delgation vom Jugendverband habe, tragen alle gebügelte Hemden und Krawatten, aber ihre Gesichter sind leer. Ihnen fehlt die Freude, die Begeisterung. Ich wüsste zu gern, was sie den ganzen Tag über machen. In Sitzungen herumsitzen, diskutieren, Beschlüsse formulieren und abstimmen. Höchstwahrscheinlich. Als wäre ihnen gar nicht klar, dass sie die Avantgarde der Jugend sind und ein Besipiel geben müssen. Und das nicht bedeutet auf Sitzungen herumzuhängen.

Träger der revolutionären Tradition sollten sie sein, aber statt dessen tragen sie ihre Uniform und genießen die Privilegien, die wir ihnen gegeben haben. Agitieren sollten sie, aber sie irritieren. Sie sollten ihre Altersgenossen in die Revolution führen, und stattdessen öden sie sie an.“

Zornesröte stieg ihm ins Gesicht.

„Die denken wohl, hier gibt es nichts mehr aufzubauen! Und dass man nicht mehr kämpfen braucht, wo wir hier doch nicht an der Front sind! Aber das ist ein großer Irrtum. Der Krieg war nie vorbei, mein lieber Jiří. Er tobt weiter, nur spielt er sich nicht mehr in den Gräben ab, sondern in den Köpfen der Menschen. Und auch diesen Krieg müssen wir gewinnen!“

Er umrundete den Tisch und betrachtete gedankenverloren die Bibliothek.

„Der Feind ist ständig unter uns und wartet auf den richtigen Zeitpunkt um zuzuschlagen. Und unterdessen treffen die jungen Verbandsbürokraten sich nur auf Sitzungen und stimmt ab. Den Kontakt zur sozialistischen Jugend haben sie in Wahrheit schon verloren. Wir, die Partei, wir haben ihnen geglaubt, haben Fonds für sie eingerichtet, denn die Jugend ist von je her unsere Priorität gewesen. Und schau, wohin uns das gebracht hatt!“

Er sah wütend aus. Während er sprach, hatte er mehrmals mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Jetzt stand er auf, ging um den Tisch herum und trat an mich heran.

„Jiří, sie tanzen nicht, sie singen nicht einmal!“

Er sah mir in die Augen und ich nickte instinktiv dazu.

„Geben wir der Jungend genügend Gelegenheit sich bewusst zu werden, dass sie alles, was sie hat, der Partei verdankt? Und die, was machen die? Sie hören zweifelhafte Musik, lesen zweifelhafte Bücheru und schauen sich im Kino zweifelhafte Filme an. Aber wir müssen eine gemeinsame Sprache mit ihnen finden, und wenn der Jugendverband versagt hat, wozu sind dann die Künstler da? Sind sie politisch bewusst genug, um der Jugend zu sagen, wie die Dinge stehen?! Haben sind sie ideologisch genügend ausgestattet, um die richtigen Gedanken weiterzugeben?“

„Sie müssen doch alle diese Vorspiele absolvieren, und die Partei verfügr über ein Zensurorgan …“

„Die Vorspiele? Ich weiß genau, wie das dort vor sich geht. Man braucht nur ein paar Lehrsätze auswendig zu lernen, schon kriegt man seinen Stempel. Das Problem liegt woanders. Diese Künstler …“, er hätte das Wort wohl kam schadenfroher aussprechen können, „sind Witzfiguren, die vor allem ihr eigener Ruhm interessiert.

Dass die Partei sie ganz hübsch bezahlt, vergessen sie recht häufig. In ihren Lieder, da ist nichts als Liebe, blablabla, ich liebe sie, sie liebt mich nicht. Nur dass das die Produktivität bei uns in den Fabriken nicht steigert. Oder ist das so eine dekadente Pose, und sie füttern auf die Weise den Teufel mit unserem Fleisch. Wenn sie der Jugend kein sozialistisches Beispiel geben, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir da hingekommen sind, wo wir jetzt stehen.“

„Einige von ihnen sind bei den Jungen äußerst populär ….“

„Weil wir hier nichts anderes haben! Wir hätten besser aufpassen sollen. Die Genossen in China haben bei ihrer Kulturrevolution große Säuberungen durchgeführt und wir sehen heute, dass sie riesige Erfolge feiern. Aber hier bei uns ist es für so eine Aktion schon zu spät. Ein paar wirklich rebellische Künstler haben wir mitleidlos beseitigen müssen, aber der Rest? Schade um die Worte.

All diese pomadisierten Sänger im netten, modischen gechnittenen Sakko und diese Sängerinnen in zerrisenen Jeans … Jiří, vielleicht sind die doch gefährlicher als Kryl und Hutka zusammen. Wir könnten sie für Stupidität einbuchten und ohne Zaudern eine weitere Generation von Unterhaltern auf die Bühne bringen. Nur dass die keinen Deut besser sind.“

„Da ist doch aber noch …“

„Da ist niemand mehr, Jiří! Ich sagen Ihnen, wann sich Eliten bilden, wann Ideen geboren werden, wann über die Zukunft entschieden wird … Haben Sie Lenins Schriften durchgearbeitet?“

„Natürlich …“

„Dann kennen Sie den grundlegenden Lehrsatz der Dialektik, demzufolge Quantität in Qualität umschlägt und Qualität sich wiederum auf Quantität reduziert …“

„Sicher …“

„Jiří, wir wissen heute schon, dass unsere Revolution Fehler hatte, die uns auf unserem Weg in eine bessere Zukunft belasten. Dessen sind wir hier im Zentralkommitee uns bewusst, weil wir es selbst am deutlichsten sehen. Schuld daran sind unsere Väter, aber es wäre falsch, sie dafür verantwortlich zu machen, schon deshalb, weil ohne sie hier gar nichts wäre.

Sie haben das alles geschaffen, und die Fehler, die sie gemacht haben, sind nur die Folge dessen, dass das, was sie schufen, so radikal war, dass sie an viele Dinge einfach nicht denken konnten. Und wir haben jetzt die Fehler unserer Väter am Hals. Da ist eine Kluft aufgerissen zwischen den Idealen der sozialistischen Revolution und dem tatsächlichen Zustand unserer Gesellschaft. Und unsere Aufgabe ist es, den Sozialisimus von neuem in die Realität zurückzubringen, unters Volk. Verstehen Sie mich?

„Ein bisschen …“

„Wir haben uns, um es so zu sagen, zu sehr den materialistischen Verhältnissen der menschlichen Existenz gewidmet. Verstaatlichung, Fabriken errichten, Wohnungsbau: All das war nötig und es ist uns gelungen. Aber wir haben vergessen, dass der Mensch auch erlebt und überlegt. Und da haben wir uns nicht eben geschickt angestellt. Es muss einfach eine neue Revolution geben. Man darf nichts überstürzen, man muss sorgfältig sein, aber kaonsequent, um so ein für allemal mit diesen Fehlern aufzuräumen. Ich hoffe, Sie verstehen mich?“

„Genosse Präsident, entschuldigen Sie meine Begriffsstutzigkeit, … aber ich habe immer noch nicht verstanden, was meine Rolle dabei sein könnte?“

„Geduld, Jiří, hören Sie gut zu, was ich ihnen jetzt sage. Ich weiß, es gibt hier junge Menschen, die noch wissen, was das ist: die sozialistische Revolution. Die für sie brennen. Wir, diePa rteiführung, sind nicht mehr die jüngsten. Daher haben wir beschlossen, die fähigsten Männer und Frauen der jüngeren Generation zu den Waffen zu rufen.

Einer davon sind Sie. Kein rotziger Jugendbündler, sondern ein Mann der Tat. Ich habe ihre Arbeit gelesen und muss sagen, dass deren Esprit mich an meine eigene Jugend erinnert. Mit solchen Leuten, wie Sie es sind, hat unsere Revolution noch Hoffnung!“

Das unerwartete Lob ließ mich erröten. Aber er gab mir keine Gelegenheit mich lange in meinem Glück zu sonnen. Denn das, was nun folgen sollte, verschlug den Atem.

„Sie, Jiří, stellen eine Arbeiter- und Bauern-Rockband zusammen, die unserer sozialistischen Kultur den wahren revolutionären Geist zurückgibt und die Jugend zurück auf unsere Seite bringt.“

Ich schwieg, und in der Stille dehnten die Sekunden sich zu Ewigkeiten. Ich fand keine Worte.

Und so sprach er für mich: „Natürlich muss die Musik die richtige ideologische Ladung haben. Aber sie muss gleichzeitig auch fröhlich sein und den Menschen Freude machen. Sozialistisch arbeiten, sozialistisch leben und sich sozialistisch amüsieren. Das haben wir immer schon gesagt. Das wird nicht leicht, aber Sie sind jung und engagiert und haben unser vollstes Vertrauen.“

Ich brachte keinen Mucks heraus, rang nach Luft und in meinem Kopf wummerten hundert Rammböcke.

„Ich … bin mir nicht ganz sicher …“, begann ich zu stottern.

Der Präsident lachte auf und schaute mir in die Augen.

„Keine Angst, Genosse. Wer nichts tut, kann auch nichts verderben. Aber Sie sind der richtige Mann am richtigen Ort. Wir haben Sie lange beobachtet und wissen, wir hätten keine bessere Wahl treffen können.“

Diese Worte beruhigten mich ein wenig. Wenn er mir vertraute, gab es keinen Grund, mir selbst nicht zu vertrauen.

„Sie stellen eine funky Band zusammen, koste es, was es wolle“, sagte er. „Die gibt dann eine erfolgreiche Platte raus und spielt auf der nächsten Sspartakiade auf dem Hauptpodium.“ Das klang nicht nach Befehl, sondern eher, als sähe er in die Zukunft und konstatiere etwas, was sich schon erfüllt hatte. Nur deshalb sprach er im Futur. Dagegen kam ich nicht an.

Ich piepste: „Ja, Genosse Präsident, ich werde es versuchen. Ich mache das.“

Der Präsident drehte sich zu mir um, als warte er noch auf etwas.

„Ich mache das“; sagte ich noch einmal und bemühte mich, diesmal viel entschlossener zu klingen.

„So gefallen Sie mir, Jiří. Man sieht Ihnen an, dass das Sprichwort wahr ist: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“

Meine Audienz schien vorbei zu sein, aber diese Anspielung auf meinen Vater konnte ich nicht einfach übergehen. Ich konnte nicht anders.

„Genosse Präsident, darf ich Sie etwas fragen? Sie kannten meinen Vater?“

 

Aus dem Tschechischen von Kathrin Janka