Markéta Baňková

Kleinigkeit

2015 | Argo

JETZT

Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, ließen meine Eltern mich abends immer öfter allein. Sie gaben mir einen Gutenachtkuss und gingen irgendwen besuchen. Ich lag dann in meinem Bett und blickte ins Dunkel. Die Regale voller Schachteln, auf dem Schrank der Koffer und am Kleiderhaken der Bademantel schienen im Dunklen größer. Als warteten sie still. Aber ich habe mich nicht gefürchtet. Ich habe gewartet, bis das Gartentor ins Schloss fiel und die Stimmen von der Straße her schwächer wurden. Bis das Hundegebell aus den Nachbargärten, das die Schritte meiner Eltern begleitete, verklang. Dann habe ich mich aufgesetzt. Ich habe dem Ticken des Weckers gelauscht, dem Rauschen des Blutes in meinen Ohren, und ich habe gespürt, wie die Sekunden auf die Rückkehr meiner Eltern zulaufen. Auf diese Rückkehr habe ich mich gefreut, und doch wollte ich den Moment festhalten. Der war nicht wichtiger als irgendein anderer. Aber ich hatte ihn ganz für mich allein. Und darum wollte ich mir diesen Moment in allen Einzelheiten einprägen. Bis heute ist er mir – mittlerweile etwas unscharf – absolut präsent: mein Kinderbett in dem dunklen Zimmer, vor dem Fenster fährt zuweilen ein Auto vorbei und projiziert vorüberhuschende Lichtstreifen auf den Schrank. Die scheinen auf, werden größer, erstarren, beschleunigen schließlich schräg auf die Wände zu, und dann versinkt alles erneut im Dunkel. Von draußen ertönt vereinzeltes Hundegebell, weiteres Gebell aus dem Dorfsüden folgt, dann Gebell auch aus dem Norden, dem Osten … ein Hund überbellt den anderen, markiert laut die Grenzen seines Territoriums. Und ich nehme mir vor: „Diesen Moment werde ich nie vergessen.“

Zeit. Ich denke an die Zeit, aber nicht wie andere Menschen, die sich nur über deren Mangel mokieren. Zeit fasziniert mich. Mit den Fingern durchkämme ich das Dunkel, als könne ich die Gegenwart einfangen, die sich in der Vergangenheit verliert. Bis heute bemühe ich mein Gedächtnis, oder ich nehme meine Kamera zur Hand. Doch was immer ich auch versuche: Schon in der nächsten Sekunde ist das JETZT dahin.

Das JETZT des heutigen Samstagmorgens würde ich am liebsten vergessen. Der Boden schwankt und im halbblinden Spiegel des Badezimmerschränkchens, von dem der Lack abblättert, sehe ich ein altbekanntes, etwas müdes Gesicht. Ich schlurfe aus dem Bad ins Zimmer zurück. Unter der Daunendecke des Nachbarbettes lugen Socken hervor; deren zehenentblößende Löcher sind das regelmäßige Ziel meiner Witze, aber jetzt nehme ich einzig deren Gestank wahr. Aus den Sockenlöchern ragen drei nackte Zehen hervor, die Stinker gehören, Student der Mathematik und Physik – seine drei Zehen ein Denkmal für unser dreckiges Zusammenleben. Seit drei Jahren dieses gemeinsame Zimmer im Studentenwohnheim. Wenigstens ist Stinker öfter fort. Resigniert hole ich Luft. Vorträge über grundlegende Hygienestandards halte ich längst nicht mehr. Weibliche Besucherinnen, auf die ich noch immer hoffe, könnten vermuten, dass Stinker nicht mehr unter den Lebenden weilt und bereits vor sich hingammelt, besonders da er so häufig im Bett rumliegt. Jetzt bloß nicht daran denken, um wie viel mehr er stinken würde, wenn er …

Ich lege mich hin. Unter meinen verschlossenen Augenlidern stürzen wasserfallartig Bilder auf mich ein:
Ein blasser Mädchenhals, von einer Straßenlaterne flirrend beleuchtet.
Die geschminkte Froschfrau, Einzelheiten ihres Dreiers schildernd.
Martin, sich schwerfällig bewegend, da betrunken.
Auf dem Sessel verknäuelte Mädchenbeine. Von der Bar her dunkles Bassgedröhn.
„Ah, vom Partymachen zurück!“
Stinker setzt sich im Bett auf und greift nach seiner Brille.
„Erzähl schon!“
„Später …“
„Jetzt. Ich muss gleich los nach Königgrätz.“
„Hör mal, kannst du mal das Fenster aufmachen? Ich will nämlich nur ungern kotzen. Diese Socken werde ich dir wohl noch eigenhändig waschen müssen.“
„Nur zu!“, lacht Stinker und entblößt zufrieden seine gelblichen Zähne. „Die Unterhosen kannste gleich mitwaschen!“
Homo sapiens sapiens, einhundertsiebenundfünfzig Zentimeter groß, dreiundzwanzig Jahre alt. Den Blick hinter den Brillengläsern irgendwohin nach innen gerichtet. Etwas fettige Haare, die er sich immer wieder rauft, obwohl er wohl noch keine Läuse hat. Juckt es ihn, sich irgendwann zu vermehren? So ignoriert vom zarten Geschlecht, trotz all der wilden Geschichten, die er mir abends immer erzählt. An blühender Fantasie herrscht bei ihm keinerlei Mangel, zuweilen komme ich beim Zuhören aus dem Staunen nicht heraus. Ich habe schon ein paar Beziehungen hinter mir, aber momentan bin ich – und das schon seit längerem – ein so genannter Single. Stinker interessiert sich wohl hauptsächlich für irgendwelche Integrale.
„Ständig meckerst du wegen meiner Socken rum, dabei miefst du doch selber ganz schön!“
„Wonach denn?“
„Nach Schlampe!“
Die Froschfrau und ihre Augen in diesem Aufzug.
Ich drehe mich auf die Seite. Das Bett schlingert. Ich greife mir an den Kopf, als erinnerte ich mich an etwas. Stinker verrenkt sich vor lauter Neugier fast den Hals.
„Du, Stinker, kann ich dich mal was Persönliches fragen?“
„Na klar. Sechzehn Zentimeter.“
„Glückwunsch. Ich meinte eher, dass ich nicht verstehe, warum für dich jede Frau eine Schlampe ist.“
„Eher verstehe ich dich nicht. Bei den Biologen habt ihr doch echt richtig geile Schnitten!“
„Aber wie kommst du darauf, dass das vergangene Nacht Schlampen waren? Das waren völlig normale Mädels.“
Stinker rümpft die Nase und schüttelt langsam den Kopf.
„Mit ehrlicher Arbeit kriegt man das Geld für so ein Parfüm nie zusammen.“
Ich schließe die Augen und versuche, die Übelkeit zu unterdrücken, indem ich mir die langen Haare vorstelle, den warmen Atem, die Taille unter der Berührung meiner Finger. Obwohl diese Bilder durchaus angenehm sind, können sie meine Enttäuschung nicht übertünchen. Warum musste das so enden?
Ich schiebe mir das Kissen unter dem Kopf zurecht. Ich liege ziemlich bequem. In Gedanken kehre ich zurück, lasse alles noch einmal Revue passieren, suche nach irgendeinem Fehler, den ich vielleicht übersehen habe …

JULIE

Ich mache einen Zeitsprung zurück zum Anfang des Geschichtsfadens, zurück zu diesem trägen Donnerstagnachmittag Anfang November: Ich saß im Kaffeehaus, vielmehr in der Studentenkneipe „Ryba“ in der Benátska-Straße in Prag, nur wenige Schritte entfernt von der Naturwissenschaftlichen Fakultät, wo ich im zehnten Semester Genetik studiere. Infolge eines ausgiebigen Mittagessens war mir nach Siesta zumute und mein Organismus gab sich dem wohligen Fließen seines Verdauungsprozesses hin. Das zerkleinerte Essen lag in meinem Magen und schickte sich an, seine Weiterreise in meinen Dünndarm anzutreten, um seine Polysaccharide auf zauberhafte Weise in Glukose zu verwandeln, die schließlich über die Blutbahn in mein Gewebe gelangen würde mit seinem Netz aus Mini-Elektrizitätswerken, den so genannten Mitochondrien. Hier käme es dann zur eleganten Verbindung von Nährstoffen mit Sauerstoff, womit die Energie erzeugt wird, die meinen jungen, gesunden und ehrlich gesagt auch schönen dreiundzwanzigjährigen Körper antreibt.

Ich war dort nicht allein, an meinem Tisch saß auch Koreš, charismatisches Prager Genie, Pathologe, Professor der Neurowissenschaften, Hobbymaler, Fotograf, Magier, Hypnotiseur … Vor Allem aber: mein Onkel. Ich bin ein Adoptivkind. Vor einiger Zeit hatte ich Koreš und seine Mutter als meine einzigen Blutsverwandten ausfindig gemacht, und nun näherten wir uns vorsichtig einander an. Mein Onkel Koreš hielt manchmal Vorlesungen an der Medizinischen Fakultät, die nur eine Straße weiter entfernt lag als die Biologische Fakultät, an der ich studiere. Ich schätzte mich glücklich, einen solchen Verwandten ausfindig gemacht zu haben. Ich traute mich kaum zu atmen, um ihn nicht wie ein Trugbild zu verscheuchen. Ich siezte ihn und er duzte mich, was nur ein weiterer Beleg war für das Zerbrechliche unserer beginnenden Beziehung. So saß er am Tisch und las Zeitung, während ich mich redlich bemühte, unser Gespräch in Gang zu halten.
„Noch ein Bier, Herr Professor?“
„Aber ja doch.“

Ich winkte die Kellnerin herbei. Der Professor blätterte raschelnd um. Das vor dem Fenster liegende Bild der stillen, kopfsteingepflasterten Straße wurde zerteilt durch an der Scheibe herabrinnende Tropfenbahnen, die sich kreuzten und miteinander verschwammen, und die beschlagenen Scheibenränder gaben der ganzen Szenerie den romantischen Anstrich alter Prager Postkarten.

Eine Platinblondine trat an unseren Tisch und knallte wohlwollend zwei Biergläser vor uns hin.

Lebende Objekte wie die Kellnerin zeigen sich mir so, wie sie sich zeigen – alles nur eine Frage meines unvollkommenen Blicks. Im Gegenlicht, das durch das teilweise beschlagene Fenster schien, wirkte die Kellnerin wie ein Ganzes, und dabei bestand sie aus Milliarden allerkleinster Teilchen: aus vibrierenden Atomen, geschaffen vor allem aus leerem Raum und einem unbestimmten Minimum an Masse. In der Realität war dieser üppige Kellnerinnenleib durchsichtig wie ein Sieb und hätte sich durch eine stärker wirkende Schwerkraft auf die Größe einer Erbse oder gar noch mehr zusammenpressen lassen, falls dieser Leib – wohl zu aller Überraschung – auf einem Neutronenstern gelandet wäre. Dort hätte ihn die Schwerkraft zu Staub zermalmt. Die den Kellnerinnenhintern bewegenden Atome versammelten sich in einer Choreographie zu Molekulargruppen, wie wir sie an einem anderen Ort der Milchstraße noch nie haben sehen können; noch scheinen uns diese Atome nicht lebendig, wiewohl ihre Verhalten diese Lebendigkeit für sich einfordert – sie bewegen sich, kooperieren, kopieren sich und räumen hinter sich auf, nähren ihre Umgebung, kämpfen gegen Pathogene; Proteine, Lipide, Organellen, Membranen mit Ionenkanälen, all das formt eine still vibrierende elektrische Landschaft, die dann für lebendig gehalten wird. Die Zelle. Ein uralter und immer neu sich bildender Bestandteil des Lebens. Und neben der einen Zelle eine weitere. Und noch eine. Hunderte, Tausende, Millionen und Abermillionen zum Erzeugen einer freundlichen weiblichen Rundung. Haut, Muskelmasse, speckige Fettzellen, ein ganzer Vorrat an Adenosintriphosphat, dem Maß für Zellenergie. In Zeiten der Not hätte dieses Vollweib von einer Kellnerin sicher ein paar Tage überleben können.
„Darf’s noch was sein?“
Ich schüttelte den Kopf. Sie warf kokett ihr Haar zurück. Sie hatte meinen Blick bemerkt.

Runde, gefurchte, langgezogene oder verzweigte Zellen mit einem Zellkern und darin gespeicherten Informationen. Immer dieselben Informationen, nur dass eben jede Zellenart einen anderen Abschnitt nutzt. Die DNA: beachtenswert nicht so sehr wegen ihrer Form – wie die Spirelli, die gerade auf einem Teller an uns vorbeigetragen werden – beachtenswert vielmehr als Träger eben jener Informationen. Die DNA ist eine Nachricht, die den dichten Schleier der Vergangenheit durchdringt, eine Nachricht aus der Urzeit, eine Matrix, die still und leise, ganz wie beim Lesen von Blindenschrift, von Enzymen ertastet wird. Diese entwirren die Doppelhelix und lesen aus einer ihrer beiden Stränge die aus Molekülen bestehenden Buchstaben aus. Behände fertigen sie eine Abschrift an, einen chemisch nahezu identischen Strang namens RNA, und aufgrund der RNA wiederum erzeugen sie blind Proteine. Die in der Materie verborgene Nachricht wandeln die Enzyme in eine andere Materie um. Die ursprüngliche Nachricht rüttelt die Enzyme auf, aktiv zu werden.

„Die Tschechen haben verloren? Ich muss an die frische Luft.“
Ich wurde aufgerüttelt wie der Professor durch den Sportteil seiner Zeitung. Er stand auf und durchsuchte seine Sakkotaschen.
„Ich muss sowieso noch nach Hause wegen der Kamera, an der Fakultät muss ich was fotografieren.“
„Ich hab meine Kamera dabei!“ Ich fischte meinen Aluminiumvorwand für ein Wiedersehen aus dem Rucksack. „Behalten Sie sie ruhig, solange Sie wollen! Und gönnen Sie sich noch ein Bier.“
Ich hob mein Bierglas.
„Danke.“
Er setzte sich wieder hin.
„Hiermit schalten Sie die Kamera ein“, erklärte ich ihm, „und dann müssen Sie nur noch auf den Auslöser drücken. Darf ich Sie fotografieren?“
Ich drückte ab und zeigte ihm das Foto auf dem Bildschirm.
„Na ja. Fotografier lieber jemanden jüngeren.“
Ich reichte ihm die Kamera. Er nahm sie. Seine Zeitung schob er so angewidert beiseite, dass sie zu Boden fiel. Ich hob sie auf.
„Neulich hab ich in der Zeitung gelesen, dass es irgendwo … wohl in Kalifornien … irgendwelchen Wissenschaftlern gelungen ist, mithilfe eines Computers das Gehirn einer Kakerlake nachzubilden“, erzählte ich. Dann legte ich die Zeitung auf dem Tisch zusammen, lehnte mich in meinem unbequemen Holzstuhl zurück und wartete.
„Interessant.“
Der Professor saß etwas vorgebeugt da in seinem bräunlichen, abgetragenen Cord-Sakko und kniff die Augen zusammen, in die ihm eine gewellte Haarsträhne fiel.
„Und wozu soll das gut sein?“
„Wie, ‚wozu‘?“
„Ich gehe mal davon aus, dass es in Kalifornien bereits genug Kakerlaken gibt. Wozu also eine weitere nachbilden?“
„Aber Herr Professor! In deren Computer haben die jetzt ein perfekt funktionierendes Kakerlakengehirn! Das ist alles andere als witzig! Die arbeiten doch schon längst an einer Nachbildung des Menschen! Verstehen Sie denn nicht, dass die eines Tages sogar Ihr Gehirn werden nachbilden können? Die kopieren einfach all Ihre Neuronen, Ihre Erinnerungen, Ihren Charakter, Ihre Träume … Und selbst wenn Sie sterben, gibt es noch immer Ihre Kopie: einen mit Computerhilfe simulierten Professor Koreš, den künftige Studenten konsultieren werden! Obwohl das für die Amis natürlich eine weit größere Herausforderung sein wird, als die Simulation irgendeines Kakerlakengehirns.“
„Danke für das Kompliment.“
„Herr Professor! Verstehen Sie denn nicht, in was für einer Zeit des Umbruchs wir leben? Das Gehirn ist ein Netzwerk! Und jedes Netzwerk lässt sich nachbilden! Perfektionieren! Man wird Computer direkt in unsere Gehirne implantieren, und in Ihrem werden Sie zum Beispiel die gesamte Wikipedia abspeichern können! Und mit irgendeinem Spezial-Chip werden Sie Röntgenstrahlen erfassen! Oder im Dunklen sehen können! Und das alles, darauf wette ich, passiert garantiert noch zu unseren Lebzeiten!“

Der Professor dachte nach, nahm einen Schluck von seinem Bier, dessen Schaum verschwunden war, sah mich skeptisch an, schüttelte den Kopf und zauste sich das wuschelige Haar.
„Glauben Sie mir etwa nicht?“
„Ich versuche mir nur gerade vorzustellen, wie wir solchermaßen optimierte Menschen schließlich obduzieren werden.“
„Puh! Also ich hab ja noch nie jemanden obduziert.“
„Wie werden wir diese ganze Optimierungstechnik schließlich entsorgen?“, setzte der Professor seine Überlegungen fort. „Per Biomüll wohl kaum. Und die Körper einfach kremieren? Wohl eher zusammenpressen und recyceln. Aus den Särgen würden irgendwelche Trödler die Edelmetalle doch glatt rausstehlen.“
„Ich hoffe ja, dass Sie bei meiner Exkursion der betreuende Prof sein werden. Mit Gewebekulturen hab ich keinerlei Probleme, aber in irgendeinen Körper reinschneiden, der aussieht wie ein Mensch … Ich schaff es ja noch nicht mal, eine Gewebeprobe zu nehmen. Irgendwem in die Haut stechen oder da irgendwas rauskratzen, selbst wenn derjenige schon tot ist … puh …“
„Ich beschränke mich bei meiner Arbeit ja meistens auf’s Gehirn.“
„Pfui, das mag ich mir gar nicht erst ausmalen, dass irgendwer mal mein Gehirn seziert.“
„Und warum würdest du dein Gehirn mit ins Grab nehmen wollen? Ich hab mein Gehirn längst der Fakultät vermacht. Das Einzige, worauf ich hoffe: dass sie es dort nicht allzu früh bekommen.“
„Stinkt es im Seziersaal eigentlich sehr?“
„Kommt immer darauf an, wer gerade auf dem Seziertisch liegt.“
„Wie bitte?“
„Den meisten mögen ja alle Leichen gleich riechen, aber ich hab inzwischen ein richtiges Näschen dafür entwickelt. Manchmal kann ich schon am Geruch erkennen, woran jemand gestorben ist.“
„Klingt ziemlich unappetitlich!“
„Aber mit lebenden Menschen ist es doch ganz genauso: Du merkst einfach, wenn jemand schwitzt vor lauter Stress, und eine Frau erkennst Du auch. Am Geruch eines Menschen kannst du auch erkennen, ob er sich einen Hund hält. Und Hunde erst! Die erkennen einen Kranken quasi auf den ersten Riecher. Es gibt Testreihen, bei denen Hunde an menschlichem Urin riechen und die Krankheit des Betreffenden dann besser erkannt werden kann als durch herkömmliche Tests. Wo genau diese Testreihen gemacht werden, hab ich aber vergessen.“
Er nahm einen Schluck von seinem Bier.
„Wohl irgendwo in Kalifornien.“ Beide mussten wir lachen.
„Ich hab von diesen Simulationen gehört. Einiges machen die Amis, anderes wiederum die Europäer. ‚Human Brain Project‘ nennen sie das. Aber sogar bei euch an der Fakultät werden ja allerhand Versuche durchgeführt.“
„Ich freu mich, dass ich wieder anfange. Dass ich in Prag bin. Dass Herbst ist“, sagte ich und sah aus dem Fenster. Ich geriet ins Stocken. Vor dem Fenster lag eine friedliche, mit Bäumen gesäumte Straße, und im Abendhimmel strahlte die untergehende Sonne all ihre Farben auf Wolkenfetzen.

„Ich bin froh, dass es Sie gibt – Sie als meine wirkliche Familie“, wollte ich sagen, aber ich fürchtete mich vor jedweder Sentimentalität. Die Espressomaschine hinter der Bar stieß eine Dampfwolke aus, was das Nostalgische des Augenblicks noch sanfter wirken ließ. Nein, ich wollte ihn auf keinen Fall mit voreiliger Warmherzigkeit vergraulen. Und meinen Adoptiveltern gegenüber wollte ich mich nicht als undankbar erweisen. Dafür, dass ich sie aus meiner Vergangenheit verbannte, schämte ich mich etwas. Aber warum ihrer beider Irrtum leugnen? Mein Vater mit seiner johlenden Mundöffnung, wie er abends mit seiner Bierflasche vor dem Fernseher saß. Qualitätskontrolleur in einer Fabrik. Was hatten wir schon gemeinsam? Meine Mutter wiederum war zwar ein guter Mensch, aber ehrlich gesagt: Ihren IQ würde ich nur ungern erben. Mein biologischer Verwandter dagegen lehrte zufälligerweise nur eine Fakultät von meiner entfernt. Das konnte doch kein Zufall sein! Ich erinnerte mich an die Umarmung meiner Mutter, an ihren muffigen Geruch nach Baumwolle und Küchendunst, daran, wie sie mir mit ihrer vom Kochen feuchten Hand übers Haar strich, und ich schämte mich. Mama. Sie hatte sich diese Bezeichnung wirklich verdient, wie auch immer sich die Gene in den längsten Molekülen meines Körpers zusammensetzten. Ich erinnerte mich an meines Vaters lautstarkes, von Bierdunst begleitetes Sein, an seine derben, aber gutmütigen Scherze, seine Bauernschläue, die durchaus ihre eigene Logik hatte … Irritiert von der Gegensätzlichkeit all dieser Vorstellung starrte ich die auf dem abgeschlagenen Tisch liegende Kamera an. Ein silbernes Digitalgerät mit abgegriffenen Knöpfchen. Ein Kristallgitter aus Aluminium, die Oberfläche von Bakterien besiedelt. Ich wollte dem Professor irgendetwas Persönliches erzählen, zum Beispiel wie glücklich es mich machte, dort mit ihm zu sitzen, wie glücklich, ihn endlich ausfindig gemacht zu haben, aber auf einmal konnte ich ihm nicht in die Augen sehen. Mein Herz klopfte und ich spürte Wärme in meiner Brust aufsteigen.

„Sie haben … ein wirkliches schönes Sakko“, stieß ich schließlich hervor.
„Ernsthaft?“, wunderte sich der Professor. „Das ist doch schon völlig abgetragen. Schon lange sag ich mir, dass ich ein neues brauche, aber so ein schönes wie das hier hab ich eben seit gut zwanzig Jahren nicht mehr auftreiben können.“
Die Tür knallte ins Schloss und in die überfüllte Kneipe drang vom Regen gereinigte Luft.
„Sowieso sag ich mir, dass diese Chips aus irgendeinem biologischen Material bestehen müssen. Irgendein Collagen-Gerüst, auf dem funktionstüchtige Nerven mit Sensoren gedeihen können. Wie sonst sollte man das Ganze ins Gehirn einpassen?“
Er nahm die Kamera vom Tisch und richtete sie auf mich.

„Diese Sache mit den Kakerlaken ist ja auch umstritten. Für euch Biologen ist die Welt lediglich ein aus korrekt zusammengesetzten Komponenten bestehendes Ding. Mein erster Blick auf die Medizin war ein ähnlicher. Jetzt weiß ich allerdings, dass sich nicht alles so erklären lässt. Ein Computer besteht aus einem Betriebssystem, Programmen, einem Prozessor und so weiter und so fort … aber ein Gehirn? Neuronen bilden wie von selbst Verbindungen zwischen sich aus, verstärken wie von selbst häufig genutzte Verbindungen, schaffen neue Verbindungen, ersetzen verschwundene …“, er hielt inne und kniff die Augen zusammen, „selbst wenn sie dir die Hälfte deines Gehirns rausschneiden: Du wirst es überleben – aber ein Computer? Nimm nur mal den Transistor aus einem Chip heraus oder verschütte dein Bier über der Tastatur, und prompt stellt der Computer, dieses Wunder der Zivilisation, seinen Betrieb ein.“

Die Kamera machte ein paar Mal „Klick”. Ich bemerkte, dass ich nicht mehr Mittelpunkt der Komposition war, und drehte mich um.

In der Tür standen zwei junge Frauen. Eine Dunkelhaarige mit Wollmütze und halb ausgezogenem Mantel sah sich in der Kneipe um und eine etwas kleinere Aschblonde nahm gerade ihre Mütze ab und versuchte, sie auf der Spitze des völlig überladenen Kleiderständers zu platzieren. Als ihr das gelungen war, zog sie ihren Pullover glatt, und dann bahnten sich beide Frauen ihren Weg durch die überfüllte Kneipe. Für ein paar Sekunden wurde es still – die Dunkelhaarige in ihrem Minikleid gehörte zu der Spezies, wegen der Unterhaltungen zuweilen ins Stocken geraten.

„Solange sie es bei den Kakerlaken belassen: meinetwegen“, fuhr der Professor mit der Kamera in der Hand fort. „Aber sobald sie anfangen, ein menschliches Gehirn zu entwickeln, das wirkliche Emotionen empfinden kann und vielleicht sogar die Zukunft simulieren, haben wir ein Problem. Wenn ein solches Gehirn nämlich wirklich menschlich sein soll, muss es auch über ein Bewusstsein verfügen. Und spätestens dann wird es Menschenrechte einfordern.“

Er legte die Kamera auf den Tisch, sah aus dem Fenster und verschränkte die Arme.

„Und das will ich wirklich nicht mehr erleben, dass irgendein Computer das Wahlrecht kriegt.“

(aus dem Tschechischen von Doris Kouba)