Neustadt, Masaryk-Ufer

Dieses Haus hinterließ bei Spaziergängern, die das Moldauufer entlang promenierten, das Gefühl, dass es auf irgendeine Art nicht dorthin gehörte. Auf den ersten Blick war mit ihm etwas nicht in Ordnung, etwas war schief, an irgendeiner Stelle fehlte etwas oder ganz im Gegenteil war etwas zu viel, weiß der Teufel was. Es ging eine Disharmonie von ihm aus, der Blick glitt an ihm ab, als würde man in einen der schiefen Spiegel des Spiegellabyrinths auf dem unweit gelegenen Laurenziberg schauen. Die Fußgänger auf der Uferpromenade schauten meist zwei oder drei Mal neugierig zu ihm hoch, gaben dann aber auf – schließlich breitete sich vor ihnen am gegenüberliegenden Moldauufer das Panorama der Prager Burg aus und fesselte den Blick mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass kein Aufbegehren möglich war.

So erkannte kaum einer, dass das Mietshaus im Schatten des Nationaltheaters deshalb besonders war, weil kein Fenster dem anderen glich. Jedes nahm eine andere stilisierte Form an, eines war rechteckig, andere endeten in einem Halbkreis- oder einem Dreiecksbogen, wieder andere wurden durch Säulchen unterteilt, aber es gab auch zwei- oder dreigliedrige Fenster. Jedes von ihnen wurde zudem von einer anderen Ornamentik umrahmt. Aber der Unterschied – und das war eben das Verwirrende – lag im Detail. Die Ornamente veränderten sich stufenweise, von Stockwerk zu Stockwerk, hier und da unterbrochen von einer Dachgaube oder einem Balkon, die das ganze Gefüge noch undurchsichtiger machten. Deshalb hinterließ das Haus den Eindruck von Unordnung, Asymmetrie, Unstimmigkeit, ohne dass dem Vorübergehenden bewusst wäre, worin sie bestand.

Dieses Haus war das Werk des Architekten Gustav Papež, aber noch viel mehr als dessen Einfallsreichtum spiegelten sich darin die Wünsche des Bauherren. Baron von Mautnic, der letzte Nachkomme eine Prager Industriellenfamilie, hatte den Ruf eines Menschen mit Visionen, die seiner Zeit voraus waren, eines Menschen mit einer spektakulären Vorstellungskraft und Mut, der an Exhibitionismus grenzte.

Zwanzig Jahre vor der Geburt des kleinen, zukünftigen Künstlers und Visionärs Stowasser und fünfzig Jahre vor dessen Auftritt als Hundertwasser in Wien, bei dem er das Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur vortrug, ließ Baron Maximilian Albert von Mautnic im Jahre 1907 ein Haus bauen, von dem es hieß: „Das wird ein Bauwerk sein, von dem die Augen übergehen und die Münder vieler heulen vor Begeisterung, oder Abscheu, es wird der absurdeste Bau Prags sein, der am meisten gefeierte in ganz Böhmen und der am meisten betratschte in der ganzen Monarchie!“

 

Und nun gehörte das Haus wieder ihnen. Nach fast einem halben Jahrhundert hatten sie es schwarz auf weiß, der Restitutionsbescheid klebte an der Eingangstür, allen Mietern zum Trotz, die sie die ganzen Jahre behandelt hatten, als wären sie der letzte Dreck.

„Da lehrt die Not wohl sogar dem Fräulein Baronin das Arbeiten?“ spotteten sie, wenn sie auf den Knien von Stockwerk zu Stockwerk rutschte, mit Eimer und Lappen über die Stufen aus rosa Travertin gebeugt. Niemand sonst putzte sie, polierte sie, hielt sie instand. Nur Hedvika und ihre Mutter. Obwohl sich die Mieter mit der Hausordnung wöchentlich abwechseln sollten und sich so um das Eigentum kümmern, das zum Zeitpunkt der Verstaatlichung ihr gemeinsames geworden war, wussten alle, wenn sie ihre Arbeit nicht machten, wenn sie die Böden nicht wischten, den originalen Stuck nicht abstaubten, die Jugendstillampen und das schmiedeeiserne Geländer nicht blank putzten, hielten die Frauen es ja doch nicht aus und würden sich am nächsten Sonntag mit Kopftuch und Freizeithose durch das Haus schleppen und tun, was getan werden musste.

„Das Baroninnenkommando“, lachten die aufgezwungenen Mieter, die gerade von ihrer nachmittäglichen Kartenpartie zurückkehrten, sie statt eines Danks aus und ihre Ehefrauen fügten mit einer Grimasse hinzu: „Das tut ihnen gut, sonst würden sie nie mal richtige Arbeitsluft schnuppern.“

Als ob sie nicht wüssten, dass weder sie noch ihre Mutter Baroninnen waren, dass der Titel nur in direkter Linie vererbt wurde, die mit dem Onkel geendet hatte und mit dem Tod der Tante im Jahre 1974 endgültig erloschen war. Sie nahmen es nicht zur Kenntnis, nicht einmal dass nach der Gründung der Tschechoslowakei ihre Adelstitel ungültig geworden waren und dass sie selbst einen ganz anderen Namen trug. Auch so war ihr das Siegel der von Mautnic geradezu auf die Stirn geprägt, und wenn nicht dorthin, dann definitiv in ihre Papiere, in die ihr die Kaderkommission einst eingetragen hatte: zum Hochschulstudium der Naturwissenschaften ungeeignet.

Zum Schnuppern echter Arbeitsluft hatte sie dann genügend Gelegenheit gehabt – Mitte der 80er Jahre wurde sie nirgends anders angenommen als auf der Fachschule für Landwirtschaft, im Fach Floristik, nach ihrem Abschluss erhielt sie nur eine einzige Arbeitserlaubnis – fürs Krematorium. Fünf Jahre arrangierte sie Blumen in einer Zeremonienhalle, aber sie putzte auch, stellte Stühle oder hob gemeinsam mit der Trauerrednerin Särge auf den Katafalk, wenn ein Träger und der Leichenverbrenner zu tief in die Schnapsflasche geschaut hatten und die nächsten Hinterbliebenen vor der Tür schon ungeduldig von einem Bein aufs andere traten. Und in den ersten Jahren nach dem Februarumsturz von 1948 wechselte sie mehrmals den Beruf, von Lagerarbeiterin über die miserabel bezahlte Arbeit als Nachtwächterin in Mädcheninternaten, als sie dachte, sie könne tagsüber die Universität besuchen, bis zur Briefträgerin, die sie nun war.

Es war nicht zu ändern. Nachdem sie das Haus zurückbekommen hatten, musste sie sich von ihrem Studium verabschieden und für ein regelmäßiges Einkommen sorgen. Das über Jahre vernachlässigte und zu guter Letzt auch noch geflutete Haus forderte alles – ihre Zeit, all ihr Geld und ihre volle Aufmerksamkeit.

Und so begann sie um vier Uhr morgens mit dem Sortieren der Sendungen, um fünf brach sie zu ihrem Halbmarathon durch das Zentrum von Prag auf, während dessen sie Briefe und Zahlungsaufträge in Briefkästen einwarf, um mit zehn Kilometern in den Beinen die zweite Schicht anzutreten. Ab neun räumte und fegte sie, organisierte Handwerker, aber vor allem bettelte sie bei Banken um Geld, welches das Haus im wahrsten Sinne hemmungslos verschlang.

Hedvika seufzte und schaute sich müde im Zimmer ihrer Tante um, es war eins von zwei Zimmern der Wohnung, in der sie gemeinsam mit der Tante und den Eltern ihre Kindheit verbracht hatte.

Das einstige private Stockwerk des Barons von Mautnic war in zwei Wohneinheiten aufgeteilt und dazwischen ein Gemeinschaftsbad mit Toilette gezimmert worden. Dann ließ man sie dort einziehen – die Tante und Hedvikas Eltern in das ehemalige Arbeitszimmer und das Kabinett, wo der Onkel seine Sammlungen aufbewahrt hatte, und die Familie des Funktionärs Knotka in den Salon und das Rauchzimmer – ohne ihre Zustimmung, denn Wohnungsfragen wurden damals in Prag nicht diskutiert. Nach dem Februarumsturz konnte die Tante nur mit Mühe erreichen, dass das Haus in ihrem Besitz blieb; doch wer dort einzog, das lag nicht mehr in ihrem Ermessen.

Und so schallte eines Morgens das Wummern von Presslufthämmern, das Dröhnen von Bohrern und das mürrische Rufen der Maurer durch die Flure und auf dem schönen, glänzenden Parkett und den Fliesenmosaiken wuchsen Trennwände, die die geräumige Beletage in kleine Wohnungen für „Bedürftige“ unterteilten. Die mit Blick auf die Silhouette der Prager Burg und den Moldaustrom bekamen verdiente Revolutionäre, die mit den Fenstern in den Hinterhof nicht weniger verdiente Denunzianten. Im gesamten Dachgeschoss breitete sich Doktor Šimek aus – ein kühler, wortkarger, wie ein Geist durch die Gänge schleichender Doktor werweißwelcher Wissenschaft, der außer dem Schlüsselchen zu seiner Wohnung auch den Turmschlüssel besaß, wo in einem einzigen Zimmer, dem Adlerhorst hoch über den Dächern der Prager Neustadt, ein Auge thronte.

Das Auge des Fernrohrs, das sich manchmal durch ein Aufblitzen verriet, wenn sie bei ihrer Rückkehr prüfend zu dem einzigen Fenster des Turms aufschauten, das Auge des Fernrohrs, mit dem sich bequem das Geschehen auf der Uferpromenade verfolgen ließ, das sich unter dem Turm ausbreitete wie auf einem Handteller. Diesem Auge konnte keine verdächtige Regung eines Anwohners entgehen, kein Erscheinen eines Fremden, der etwa gekommen war, um die „Goldene Kapelle“ anzuschauen, wie das Nationaltheater im Volksmund heißt, geschweige denn einer der Dissidenten, die sich im nahegelegenen Kaffeehaus Slavia trafen und dort Pläne für den Sturz des Regimes schmiedeten. Oben und unten trennen nur ein paar Dutzend Meter, ideologisch waren sie jedoch Hunderttausende Lichtjahre voneinander entfernt…

„Was damit? Aufheben oder wegwerfen?“, riss der ältere Vorarbeiter der Umzugsleute Hedvika aus ihren Gedanken. Seit dem Morgen beräumten sie das Erdgeschoss und den ersten Stock, in die das Wasser eingedrungen war, trugen Möbel in die darüber liegende leere Wohnung oder zu dem bereitgestellten Container vor dem Haus.

Wenn dieses Hochwasser, das in einer stürmischen Julinacht über die Ufermauer getreten und vom Keller- über das Erdgeschoss bis dicht unter die Fenster ihrer Wohnung gestiegen war, überhaupt etwas Gutes hatte, dann dass sich dank ihm der Restitutionsprozess um Wochen, wenn nicht gar Monate beschleunigt hatte – der Gerichtsbedienstete besuchte sie mit dem Bescheid (datiert auf den Tag vor dem Hochwasser) gleich am zweiten Tag nach der Katastrophe. Und natürlich auch, dass deshalb ein Drittel der ungewollten Mieter ausziehen musste.

Hedvika dagegen hatte es kalt erwischt. Auch ohne das Hochwasser hätte sie sich die schrittweise Sanierung des über die Jahre heruntergekommenen, von den städtischen Behörden vernachlässigten Hauses nur mit Mühe leisten können. Nach dem Hochwasser jedoch musste sie auf einmal mit verschlammten Kellern, durchnässtem Mauerwerk im Erdgeschoss und Schimmel, der die Wände bis zu den Wohnungen im ersten Obergeschoss hinauf kroch, fertig werden. Alle Ersparnisse – die ihren und die der Mutter – gab sie in den ersten Tagen nach dem Hochwasser für Aufräumarbeiten aus. Für die Sanierung, die keine Woche, nicht einmal Tage Aufschub duldete, hatte sie kein Geld mehr. Der Bank war das jedoch egal. Hedvika bot mit ihrem lächerlichen Gehalt als Briefträgerin, ihrer alten Mutter und einem durchnässten Haus keine ausreichende Sicherheit für einen Kredit. Überall wurde ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen mit den Worten: „Wir raten Ihnen, sich bald davon zu trennen, verkaufen sie es ruhig auch unter Wert.“

Bei den Banken konnte Hedvika also nichts ausrichten, fragwürdigen „Sofort auf die Hand!“-Krediten misstraute sie und Freunde wollte sie nicht mit hineinziehen. Es blieb nur eine Möglichkeit – auf das dreiste Angebot von Doktor Šimek einzugehen.

Bei dieser Vorstellung überlief sie ein kalter Schauer. Ihr ganzes Leben hatte sie sich vor ihm gefürchtet, in den letzten Jahren hatte sie vergebens seine Klauen bekämpft, die bis in die Büros des Gerichts reichten, wo sie die Rückgabe ihres Hauses verzögerten, und nun sollte sie die Hälfte ihres Erbes an seinen Sohn verkaufen? Sie erinnerte sich, wie schmeichlerisch er sie aus den Untiefen seines Rollstuhls angelächelt hatte, als er hinzufügte: „Und es muss ja nicht bei der gemeinsamen Sorge um das Haus bleiben!“ Schon bei der Vorstellung irgendeiner Annäherung mit Šimek junior, einem beleibten, ständig schwitzenden Gnom, der ihr gerade bis zu den Brüsten reichte, die er bei jeder Begegnung unverhohlen anstarrte, schüttelte es sie vor Ekel.

„Ich fragte, was damit?“, wiederholte der Umzugsmann ungehalten und deutlich lauter. Im Arm hielt er den großen Schildkrötenpanzer, der jahrelang zusammen mit anderen unverkäuflichen Stücken aus der Sammlung des Onkels auf dem Schrank gelegen hatte, die sie sich jedoch aus Ehrfurcht vor seinem Erbe nie getraut hatten, zu entsorgen.

„Das ist der Panzer der Echten Karettschildkröte Eretmochelys imbricata bissa. Dieses Exemplar der stark bedrohten Art wurde bei einer Koralleninsel im Stillen Ozean gefangen. An ihrem Carapax ist vor allem der gezahnte Rand mit der wunderschönen schwarzroten Zeichnung bemerkenswert“, las Hedvika vor, was auf dem an der Bauchschale befestigten Schild stand. Als Kind hatte sie sich dies mindestens Tausend Mal aufgesagt.

Der Umzugsmann sah sie an, als hätte sie ihn mit dieser Information beleidigt und fuhr sie dann ungeduldig an: „Gut, aber wohin damit?“

Hedvika spürte, wie sie rot wurde, als sie schuldbewusst stammelte: „Aha… Na dann legen sie ihn, bitte, auch oben irgendwohin.“ Sie konnte sich vorstellen, was er wohl über sie dachte.

Diese feine, neureiche Madame, erst fiel ihr ein Haus am Moldauufer in den Schoß und dann belehrte sie ihn und seine Kollegen auch noch und kommandierte sie herum. Sie, die früheren Arbeiterkader, unlängst noch der Stolz der Nation, wie in Zeitungen, Radio und Fernsehen behauptet wurde, die Malocher, die damals mit ihrer Hände Arbeit genug verdienten, dass es für ein anständiges Auskommen, Urlaub und ein Auto reichte. Und nun, da die privatisierten Unternehmen entließen, mussten sie bei solchen, wie die eine war, um ein paar Heller betteln.

Unnütze, herumlungernde, neunmalkluge Erbinnen, deren Großväter ein Lotterleben geführt und durch die Ausbeutung jener, wie er einer war, am Prager Moldauufer ein Haus nach dem anderen einkassiert hatten. Was war daran gerecht?

Aus dem Flur, den sich die beiden Wohnungen teilten, hörte sie ein mürrisches Grummeln und das unsanfte Anschlagen von Möbeln, als die Umzugsleute Stück für Stück hinaustrugen. Hedvika kehrte dieser Grobheit lieber den Rücken zu und schaute aus dem Fenster.

Der Schildkrötenpanzer, ein ausgestopfter Hermelin und ein wie Dörrobst ausgetrockneter Frosch waren die einzigen Stücke aus der Sammlung zoologischer Präparate ihres Onkel, die die Tante, nachdem sie sich in ihrem eigenen Haus auf ein einziges kleines Zimmerchen hatte beschränken müssen, nicht dem Nationalmuseum vermachte. Ihre Großzügigkeit war aus der Not geboren, da sie die Sammlung, die Dutzende Exponate umfasste, beim besten Willen nicht in der kleinen Wohnung unterbringen konnte. Aber keine der verstaatlichten Institutionen durfte ihr damals die Sammlung abkaufen, also übergab sie sie schließlich – zähneknirschend – dem Nationalmuseum und begrub sie damit in staatlichen Depots. Genau so, wie man sich an höheren Stellen das Schicksal der Sammlung des Onkels, seiner berühmter Wunderkammer, vorstellte.

Zum Entsetzen der Tante machten sich die Museumsangestellten, die die Sammlung abholten, nicht einmal die Mühe, die wertvollen Gegenstände zu kontrollieren. Die Blätter mit den kompletten Beschreibungen, die ihnen die Tante aus den Katalogisierungsbüchern des Onkels herausgeschrieben hatte, stopften sie nur achtlos unter den Sitz des Lieferwagens.

„Wissen Sie, wie viel wir jetzt davon haben? Tonnen. Sie können sich nicht vorstellen, was die feinen Fürsten, Grafen und Barone zusammengerafft haben und wie viel Krempel wir jetzt im Interesse des tschechoslowakischen Volkes übernehmen“, sagte ihr damals der Fahrer, als er die Tür zum Laderaum schloss. Dahinter erkannte sie die riesige Silhouette des Grizzlybärs, der bis zu diesem schicksalhaften Tag an der Tür zu Onkels Salon die Gäste begrüßt hatte und nun da eingesperrt war wie ein aufgegriffener Sträfling; mit Seilen an Hals und Tatzen festgezurrt. Tante Magdalena erinnerte sich später, wie er seine zum Angriff erhobenen Pranken auf einmal zu ihr ausstreckte wie die Arme eines verzweifelten Kindes, sein Jammern – „Glaube ihm nicht, gib mich nicht fort, lass mich bei dir zu Hause!“ – ging im Lärm des startenden Autos unter.

„Keine Angst, Ihre ausgestopften Tierchen kommen in gute Gesellschaft“, rief ihr der Museumsangestellte angeblich noch zu, bevor er abfuhr.

Daran hatte Magdalena keinen Zweifel, sie ahnte, was sich der Staat in diesen Tagen alles unter den Nagel riss. Sie bezweifelte jedoch, dass er für die neu erworbenen Güter ein guter Verwalter sein würde, was ihr Mann, der Baron von Mautnic, der Amateurzoologe, -botaniker und -archäologe und zugleich leidenschaftlicher Sammler von Kunst und verschiedenster Kuriositäten zweifelsohne war.

Seine Sammlung hatte er über Jahrzehnte zusammengetragen und beim Bau des Hauses hatte er ein Stockwerk nur für sie konzipiert. Er weihte ihn der Wissenschaft und den Schönheiten der Kunst, er richtete sich dort ein Arbeitszimmer ein, einen Salon, in dem sich bedeutende Wissenschaftler, Denker und Künstler seiner Zeit trafen, dort hatte er seine Wunderkammer und sein Depot. An den Wänden hingen erstklassige Gemälde, im Raum standen Abgüsse weltbekannter Plastiken, in monumentalen Regalschränken, von denen nur dieser eine erhalten war, der nun linkerhand von Hedvika stand, hatten die interessantesten Exemplare zoologischer Raritäten ihren Platz. Der Riesenschmetterling Attacus atlas von der Insel Ceylon, so groß wie eine Turteltaube, der Schreckliche Pfeilgiftfrosch Phyllobates terribilis aus dem südamerikanischen Dschungel, der in den Poren seiner Haut das giftigste aller Gift verwahrte, eine echte Feder des legendären Vogels Phönix… Die Sammlung des Onkels war das Juwel unter den Prager Sammlungen, es hieß, dass selbst Kaiser Rudolf II. ihn sicher darum beneidet hätte.

Kein Wunder, dass die Tante nach der erzwungenen Herausgabe der Sammlung bis zu ihrem Tod mit solcher Beharrlichkeit um das Einzige kämpfte, das ihr von Baron von Mautnic geblieben war – das Haus der Familie am Moldauufer. Sie drängte Behörden, verlangte Informationen, die diese sich weigerten, herauszugeben, heuerte teure Rechtsanwälte an, die am Ende noch gegen sie vorgegangen wären, wenn nicht Dr. jur. Boháček treu an ihrer Seite gestanden hätte, der frühere persönliche Rechtsberater des Barons von Mautnic, der gleich 1948 suspendiert worden war und dann als Hilfsarbeiter im Gemüsebau arbeitete. Dank ihm erfuhr sie immer im letzten Augenblick noch, was getan, besorgt oder im Haus installiert werden musste, damit das Haus nicht aufgrund von Vernachlässigung der Instandhaltungspflichten enteignet wurde, wie es damals üblich war. Und dann holte sie jedes Mal irgendwoher ein Stück Schmuck, ein antikes Bild oder eine wertvolle Vase hervor, um es über den Staatsbetrieb Antiquitäten für einen lächerlichen, auf erpresserische Weise gedrückten Preis zu verkaufen, und schaffte es trotzdem, das nötige Geld zusammenzubekommen.

Deshalb stand sie auch immer unter Beobachtung der Mieter, des Nationalkomitees und schließlich sogar der Staatssicherheit. Irgendwann gaben sich unerwartete Besucher die Klinke in die Hand.

„Wie sind Sie zu dem Bild gekommen, das Sie am 7. November 1959 im Staatsbetrieb Antiquitäten für 1 900 tschechoslowakische Kronen veräußert haben?“, sollen die Herren in grauen Mänteln aus Ballonseide gefragt haben, die sich jedes Mal mit einem anderen Namen vorstellten.

„Ich habe noch ein paar Dinge von meinem Mann gefunden, wissen Sie, in dem Durcheinander während des Umzugs hatte ich den Überblick verloren, wo er was aufbewahrte“, soll die Tante jedes Mal geantwortet haben, während sie das sorgfältig geführte Haushaltsbuch vor ihnen ausbreitete.

Sie fragten, überprüften, manchmal brachten sie eine Durchsuchungserlaubnis der Wohnung, sie schnüffelten im Keller und auf dem Boden herum, fanden aber nichts. Bis auf das bisschen Tand, das bei ihnen an den Wänden hing, die Porträts von Familienmitgliedern, das Bild vom Haus, das über dem Bett der Tante hing, antike Möbel – bis auf die Dinge, für die sie eine amtliche Bestätigung hatte, dass sie in ihrem Besitz waren.

Bis zu dem Tag, an dem sich die Russen in Prag breit machten, gab man sich damit wohl auch zufrieden.

Aber nachdem sich vor dem Haus, gerade an dem Ort, auf den Hedvika nun aus dem Fenster ihrer Wohnung hinunter blickte, zwei Panzer eingenistet hatten, war jeder ihrer Besuche die reinste Hölle voller Drohungen und Einschüchterungen.

Hedvika konnte ihren Blick von diesem Ort, an dem sich die Uferpromenade zu einem kleinen Platz vor dem Nationaltheater öffnete, nicht lösen.

Heute war das Bild, das sich ihr bot, malerisch friedlich. Die Nachmittagssonne stand bereits hinter der Burg und spiegelte sich auf der Wasseroberfläche des Flusses, der wiederum so träge in seinem Bett floss, als wolle er sich nicht vom Ufer mit den Baumreihen, die in allen Schattierungen des beginnenden Herbstes gefärbt waren, trennen. Das Bild war ein vollkommen anderes als das, das sie von Fotografien aus jenem Spätsommer vor dreißig Jahren her kannte. Dank ihnen, den kleinen, leicht vergilbten Schwarzweißaufnahmen, und dank den regelmäßigen Erinnerungen ihres Vaters, ohne die keine Geburtstagsfeier auskam, hatte sie das Gefühl, bei diesem Ereignis selbst bewusst anwesend gewesen zu sein.

In jener Nacht vor dem 21. August 1968 hatten weder Magdalena noch ihr Vater, der am Morgen ihre Mutter mit der neugeborenen Hedvika aus dem Krankenhaus abholen sollte, ein Auge zugetan. Gebannt schauten sie auf die Straße und hörten mit angehaltenem Atem Radio, wo in einer Endlosschleife die Meldung wiederholt wurde: Gestern, am einundzwanzigsten August gegen dreiundzwanzig Uhr überschritten die Armeen der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, der Volksrepublik Polen, der Volksrepublik Ungarn und der Volksrepublik Bulgarien die Staatsgrenze der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik. Dies geschah ohne das Wissen des Präsidenten der Republik, des Vorsitzenden der Nationalversammlung und des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, nach deren Auffassung dieser Akt nicht nur gegen die grundlegenden Prinzipien der Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten verstößt, sondern auch eine Leugnung der grundlegenden Normen des internationalen Rechts darstellt… sie fordern jedoch alle Bürger der Republik auf, Ruhe zu bewahren und sich den vorrückenden Armeen nicht entgegen zu stellen, da die Verteidigung der Staatsgrenze zu diesem Zeitpunkt unmöglich ist…

Die beiden durchwachten damals schweigend die ganze Nacht und erst, als sie im Morgengrauen sahen, wie sich ein Strom von Truppentransportern und Lastwagen mit jungen russischen Soldaten auf den Ladeflächen das Ufer entlang wälzte, ergriff die Tante das Wort.

„Das ist das Ende“, sagte sie mit einer Stimme, die bei jedem Wort brechen konnte, und sie hatte recht. Zumindest was die Familie von Mautnic betraf.

Für sie, Hedvika, war das jedoch erst der Anfang. An diesem Morgen fand sie sich das erste Mal zwischen den Mauern dieses Hauses wieder und zu diesem bedeutenden Ereignis salutierten ihr die ausgefahrenen Kanonenrohre vor allem russischen Panzer, deren Mündungen auf die Fenster ihrer Wohnung gerichtet waren, wie auf den ersten Aufnahmen in ihrem Fotoalbum zu sehen ist. Der Vater wusste offenbar nicht, ob er zuerst das Neugeborene oder die versammelten Menschen fotografieren sollte, die die russischen Soldaten beschimpften, ob er mit dem Sucher auf die wutentbrannten Gesichter der Prager oder die verwirrten Mienen der jungen Rotarmisten zielen sollte, deren Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Es fehlte so wenig und die ganze Situation hätte in einem Massaker geendet, es fehlte so wenig und irgendein unvorsichtiger, aufgebrachter Ivan im Stahlbauch eines Panzers hätte einen Knopf gedrückt, das Geschoss abgefeuert, das durch die Fenster ihrer Wohnung geschlagen und für immer das stille Glück von Hedvikas Eltern und den beharrlichen Widerstand von Tante Magdalena zerstört hätte. An diesem Tag zündete noch kein Funke eine Sprengkapsel, die Katastrophe blieb aus – aber lange ließ sie nicht auf sich warten.

Zunächst wurde Mutter aus dem Erziehungsurlaub zurück an den Arbeitsplatz gerufen und wegen der adligen Abstammung ihrer Tante Magdalena aus dem Büro eines Bauunternehmens in ein kaltes Schraubenlager versetzt, kurz darauf verlor der Vater seine Arbeit. Er fand keine andere Anstellung als im Eisenwerk von Kladno, aus dem er immer ausgemergelter und gebeugter zurückkehrte, von Monat zu Monat magerte er mehr ab, bis er eines Tages überhaupt nicht mehr zurückkam. Er hatte einen Anfall von Atemnot erlitten und war in den Schmelzofen gefallen. Die Produktion wurde wegen ihm angehalten, aber obwohl man den Ofen herunterkühlte, so schnell es ging, hatte man darin natürlich nichts mehr gefunden. So sendete man ihnen aus dem Eisenwerk ein symbolisches Säckchen mit Eisenspänen und einen Brief, in dem ihnen der Direktor in einem einzigen Satz kondolierte und gleichzeitig damit drohte, dass, falls sich herausstellen sollte, dass Vaters Unvorsichtigkeit in Wirklichkeit Wirtschaftssabotage gewesen war, man die Summe, um die er das tschechoslowakische Volk durch den Produktionsstillstand gebracht hatte, von ihnen zurückfordern würde.

Als ob das nicht genug gewesen wäre, fanden sie ein Jahr später Tante Magdalena am Fuß der Kellertreppe liegend. Im Hinblick auf ihr Alter – sie war damals fast neunzig – bezeichnete es der Arzt, in dem er bedeutsam auf den weit entfernt liegenden Stock deutete, als unglücklichen Unfall. Die blauen Flecke an Hals und Armen oder aber ihre vor Schreck geweiteten Augen interessierten niemanden.

Hedvika kann dieses Bild bis heute nicht vergessen. Sie, die damals Sechsjährige, stand zwischen ihnen und starrte auf die weit aufgerissenen Augen der Tante, den vor Entsetzen verzerrten Mund, den Ausdruck, der so gar nicht mehr dem milden Gesicht glich, das sie kannte, das durchfurcht war von Falten und gerahmt von stets zurechtgemachten weißen Haaren.

„Tante ist eine elegante und dazu gebildete Frau“, pflegte ihre Mutter zu sagen. Und: „Hör auf deine Tante und lerne brav von ihr.“

Sprachen, Etikette, Naturkunde.

Das alles sollte sie von der Tante lernen, aber sobald sich die Zimmertür hinter ihnen schloss, zwinkerte die Tante ihr verschwörerisch zu und holte unter ihrem Bett das Kindertheater hervor, das zusammengefaltet in einer großen Kiste lag. Den ganzen Sonntagsnachmittag, den ihre Eltern mit Freunden verbrachten, schaute Hedvika Marionetten zu, die sich am Kopfende des altmodischen Betts der Tante tummelten.

„Es war einmal ein Baron von Mautnic“, begann eine von Hedvikas Lieblingsgeschichten, „der nahm eines Tages die Einladung des Náprstek-Museums an, den Damen und Fräulein des Amerikanischen Damenklubs einen Vortrag über seine Sammlung zoologischer Kuriositäten zu halten. Eine von ihnen, ein Waisenkind, dessen sich die Náprsteks angenommen hatten, und das sich später um die Katalogisierung der Sammlungen des Museums kümmerte, stellte dem Baron von Mautnic kluge und kundige Fragen. Die veranlassten ihn, ein wenig tiefer in ihre Augen zu blicken…“

Die Augen waren sicher das vornehmlichste, was Baron von Mautnic an der Tante faszinieren konnte.

Hedvika ging vom Fenster zu dem riesigen Regalschrank, der die ganze Wand verdeckte. Einst war er das Schaufenster für die Sammlungen des Onkels gewesen, heute ihre Bibliothek, aus der gerade einer der Umzugsleute, ein junger Mann mit dem T-Shirt-Aufdruck I love USA, auf dessen Rücken sich lange, fettige Haare kräuselten, eine Reihe Bücher nach der anderen herausnahm und in eine der bereitgestellten Kisten stapelte. Hedvika betrachtete das gerahmte Hochzeitsfoto, das in der Mitte auf einem Regalbrett stand.

Die ausgeblichene Fotografie mit dem Porträt des frisch vermählten Ehepaares von Mautnic aus dem Jahr 1908 zeigte einen alten Dandy, der zwar dünnes Haar am Scheitel, dafür aber einen dichten Backenbart und verschwenderische, volle Lippen hatte, neben einem jungen, kaum zwanzigjährigen Mädchen mit jungenhaften Zügen und streng geknotetem Dutt. Das Einzige, was an ihrem geraden, völlig schmucklosen Gesicht Aufmerksamkeit erregte, waren die wachen, nachdenklich ins Objektiv blickenden Augen.

Was der reiche und geachtete Baron von Mautnic wohl in Hedvikas Tante, dem Waisenkind von Vojta und Josefa Náprstek gesehen hatte, hatte sich Hedvika schon hunderte Male gefragt. War er ihrer Jugend erlegen? Hatten ihn ihre enzyklopädischen Kenntnisse aus dem Bereich der Naturlehre interessiert oder ihr gesunder Menschenverstand und ihr ruhiger Charakter? So oder so, kurz nach der Fertigstellung des Hauses führte er sie hierher, ohne sich um das Gerede zu scheren, das die ungleiche Heirat bei ehrwürdigen Bürgern auslöste, die sich an eine verknöcherte monarchistische Moral klammerten. Um so mehr feierte ihn die tschechische patriotische Gesellschaft, die seine Gutherzigkeit pries, da er sich so großzügig eines Waisenkinds ohne Aussteuer annahm, und seine Fortschrittlichkeit, da die Tante damals als eines der emanzipiertesten und gebildetsten Mädchen in Prag galt.

„Das war tatsächlich eine sehr moderne Ehe. Das junge Mädchen war dem alternden Wissenschaftler nicht nur eine gute Ehefrau, sondern auch eine unersetzliche Mitarbeiterin, mit deren Hilfe er seine umfassenden Sammlungen ordnete und mehrere Studien über exotische Fauna herausgab…“, erzählten die Marionetten im Märchen. „Das gemeinsame Studium ersetzte ihnen auch das fehlende Kind, und wenn Baron von Mautnic nicht eines Tages im afrikanischen Urwald verschollen wäre, wohin er zu einer Forschungsreise aufgebrochen war, wären sie miteinander glücklich gewesen bis zum Ende der Welt“, rief sich Hedvika ins Gedächtnis, was die Puppen immer am Ende sagten.

Das Geräusche von splitterndem Glas riss sie aus ihren Gedanken. Das Foto, das soeben noch auf dem Regalbrett gestanden hatte, lag nun inmitten von Scherben auf der Erde.

„Vorsicht!“, stieß Hedvika zu spät aus.

Der junge Mann grinste statt einer Entschuldigung: „Nichts passiert, Madame“, sagte er und als er das Foto in die Kiste legte, fügte er hinzu: „und überhaupt: Scherben bringen Glück!“

Hedvika fiel auf, dass sein Madame gar nicht so spöttisch klang, wie Baronin, womit die Mieter sie ständig – und in diesen Tagen um so nachdrücklicher – traktierten. Und darüber hinaus – Glück brauchte sie nun definitiv.

 

Wenig später war die Bibliothek leer; der große Regalschrank stand auf einmal nackt da und die Umzugsleute, die bereits die Nebenwohnung leer geräumt hatten, trugen nun auch von dort die letzten Möbel nach draußen. Ihre Schritte hallten in dem kahlen Raum wie in einer Höhle.

„Dieses Bild brauchen Sie nur abzunehmen und an die Wand zu lehnen, das räume ich selbst weg“, sagte Hedvika, als sie sah, dass einer der Arbeiter auch das Bild vom Haus herunternahm, das über dem Bett der Tante gehangen hatte. Das Bild vom Haus war geradezu ein Familienmitglied, geradezu der Mittelpunkt der Welt.

„Das wäre alles, die Etage ist sauber“, meldete ihr schließlich der mürrische Vorarbeiter der Umzugsleute und in dem leeren Raum klangen seine Worte noch eine Weile nach.

„Alles steht im oberen Stock, und was Sie aussortiert haben, bringen wir zur Deponie. Hier ist die Rechnung“, sagte er und musterte sie kühlen Blickes. Sicher dachte er, dass sie jetzt von irgendwoher eine Rolle mit Fünftausendernoten hervorziehen und mit einer geringschätzigen Geste – Den Rest können Sie behalten – ihm einen davon zuteilen würde.

Stattdessen öffnete Hedvika ihre Geldbörse und zählte verlegen die vorher vereinbarte Summe ab – auch wenn er nicht so widerlich und ein Trinkgeld wert gewesen wäre, hätte sie ihm keines geben können.

Stadthausbesitzerin und geizt so herum, riet sie seine Gedanken, als ein Schatten von Verachtung über sein Gesicht huschte, während er die Scheine in die Tasche steckte.

Hedvika war das peinlich, mehr noch belastete sie aber der Blick in das leere Portemonnaie.

Der Zeitpunkt, zu dem sie sich am absoluten Ende ihrer Möglichkeiten befand, war gerade gekommen: Morgen früh kamen die Maurer und sie hatte keine müde Krone für sie. Nun blieb ihr tatsächlich nichts anderes übrig, als hinauf unters Dach zu steigen, an der Turmwohnung zu klingeln und auf das widerwärtige Angebot von Doktor Šimek einzugehen. Sie spürte, wie ihr bei dieser Vorstellung bang wurde, sie ertrank darin, wie ihr Haus unlängst in der Moldau.

„Wenn es dir einmal schlecht geht, schau auf dieses Bild“, hatte ihr die Tante gesagt. „Das ist dein Zuhause, dein Platz auf der Welt. Dieses Haus ist alles, was von der Baronenfamilie von Mautnic übrig geblieben ist. Eines Tages wird es dir gehören. Kümmere dich gut darum, dann kümmert es sich auch um dich.“

Hedvika kümmerte sich tatsächlich gern um das Haus. Wegen ihrer Tante und wegen ihrer Mutter, die sich so viele Jahre Vorwürfe gemacht hatte, dass sie das Haus der von Mautnic, das ihr die Tante testamentarisch vermacht hatte, nicht hatte halten können. Dass man sie gleich bei der ersten Gelegenheit – der verpflichtende Einbau eines Fahrstuhls – drangekriegt und enteignet hatte. Da der entstandene Rückstand für die Bauarbeiten in Höhe von 1.215 tschechoslowakischen Kronen nicht zum Termin bezahlt wurde, geht die Immobilie in das Eigentum des Staates über, stand in der amtlichen Mitteilung, wegen der ihre Mutter damals viele Nächte durchweinte. Wem und wie viel sie zu zahlen gehabt hatte, davon hatte sie nicht die geringste Ahnung. Die Bauarbeiten hatte das Nationalkomitee koordiniert und alle Zahlscheine, die man ihr schickte, hatte sie gewissenhaft, bis zur letzten Krone, bezahlt. Bis auf den letzten, den sie nie erhalten hatte.

„Dieses Haus hat uns schon so viel Kraft gekostet, jetzt wäre es an der Zeit, dass es sich revanchiert“, seufzte Hedvika und hockte sich vor das abgenommene, auf dem Boden stehende Bild.

Gegen den blau gemalten Himmel hob sich das Haus mit den sorgsam ausgearbeiteten Details deutlich ab. Festons, Maßwerk in den Balkonbrüstungen, jedes Fenster anders, genau so, wie es in Wirklichkeit war. Sie studierte Stockwerk für Stockwerk, Fenster für Fenster. Dann stutzte sie. Sie zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte vorsichtig, ganz behutsam die feine Staubschicht von dem Gemälde. Dann beugte sie sich so weit über das Bild, dass ihre Augen nur ein paar Zentimeter von der Leinwand entfernt waren, und untersuchte es genau. Und tatsächlich – im Stockwerk des Onkels, dort, wo sie sich gerade befand, stand jemand am Fenster. Die zarte, mit dünner Pinselspitze gemalte Gestalt eines jungen Mannes mit vertrauten Umrissen. Er schaute sie durch die Fensterscheibe an, rotwangig, mit vollem, schwarzen Haarschopf (der auf dem Hochzeitsfoto schon längst von der Stirn zurückgewichen war und nur noch eine weiße Krone um den Scheitel bildete), mit einem Halstuch gebunden wie bei einem romantischen Dichter, in einem taillierten, weinroten Sakko. Zweifelsohne war das Baron von Mautnic.

Doch woher sah er sie an? Hedvika schaute sich überrascht im Raum um. Durch ein einziges Fenster drang Licht herein.

Sie schaute sich das Gemälde von Neuem aufmerksam an.

Kein Zweifel, das äußerste Zimmer dieses Stockwerks sollte danach zu urteilen zwei Fenster haben.

Eine Sekunde später wehte ein warmer Hauch Altweibersommer herein – die Luft roch nach dem nahem Wasser und nach ersten modrigen Blättern – und Hedvika, aufs Fensterbrett gestützt wie eine Turnerin auf die Barrenstange, lehnte sich so weit hinaus, dass sie beinahe hinunterfiel, neugierig, was die Fassade des Hauses verraten würde.

Dort, wo innen der Raum durch die riesige, sich über die gesamte Länge der Wand erstreckende Bibliothek abgeschlossen wurde, gab es von außen tatsächlich noch ein Fenster.

 

Sie brauchte einige Stunden.

Mehrere Male dachte sie daran, aufzugeben. Sich für den nächsten Tag eine Axt zu besorgen und sich dann irgendwo durch diese Bibliothek zu schlagen, um auf die andere Seite zu gelangen. Doch plötzlich ertastete sie einen Hebel, der so geschickt unter einem der Regalbretter versteckt war, dass er am tragenden Balken anlag. Sie brauchte nur ganz leicht daran ziehen, dann bewegte er sich so geschmeidig, als ob ihn jemand erst gestern benutzt hätte. Ein Teil der Bibliothek öffnete sich vor ihr mitsamt der Regalbretter und gab einen Durchgang frei, gerade so hoch und breit, dass ein erwachsener Mensch hindurchpasste.

Hedvika zögerte einen Moment, dann ging sie langsam und vorsichtig hinein.

Das erste, was sie an dem dunklen Raum überraschte, war die trockene, nach Altem und Moder riechende Luft. Die fuhr ihr so rasant in die Nase, dass sie unwillkürlich die Hände vors Gesicht schlug. Dann tastete sie nach der Tür und stieß sie weit auf, damit frische Luft hineindringen konnte. Damit fiel auch mehr Licht in den Raum und offenbarte ein schmales Zimmer, das vom Boden bis zur Decke mit den verschiedensten Dingen vollgestopft war, Bilder, Plastiken, Möbel. Ganz hinten erspähte sie ein Bett, auf dem stapelweise große Kisten aufgetürmt waren, die mit den Buchstaben des Alphabets gekennzeichnet waren. Neben dem Bett stand ein Schaukelstuhl und darauf befand sich etwas, das auf den ersten Blick wie ein wirrer Haufen zerknitterter Kleidung aussah. Erst als Hedvika genau hinsah, wurde sie gewahr, dass daraus ein zusammengeschrumpfter Kopf herausschaute, trocken wie Zunder, mit leeren Augen und heruntergefallenem Kinn, das einen furchtbar weit aufgerissenen Rachen freigab. Wie aus den Ärmeln des khakifarbenen Sakkos Knochenhände ragten, die an die Armlehnen des Sessels gebunden waren. Dass die schmalen Knöchel, von trockener Haut überzogene Gelenke, in festen Wanderschuhen steckten.

Hedvika schrie auf und wich zurück, bis sie mit dem Arm hart an die Rückwand der Bibliothek stieß. Mit lautem Klirren fiel ein mit Eisenspitzen beschlagener Riemen zu Boden, daneben landeten mit einem leisen Seufzer Fotografien und Zeitungsausschnitte. Was, zum Henker, war das – eine Mumie? Und was hatte die merkwürdige Installation zu bedeuten, die sie gerade zerstört hatte?

Mit laut schlagendem Herzen wendete sie den Blick von dem Toten im Schaukelstuhl ab, und während sie sich den schmerzenden Arm rieb, schaute sie sich die Collage an, die sich an der Rückseite der Bibliothek wie ein Spinnennetz ausbreitete. Sie bestand aus so sonderbaren Dingen wie Gurten und Peitschen, an einem unweit der Tür eingeschlagenen Nagel hingen Handschellen, dazwischen waren Magazinausschnitte, aus Kalendern ausgerissene Farbfotos oder schwarzweiße Amateuraufnahmen angebracht, die offenbar in dem Raum aufgenommen worden waren, in dem sie sich befand. Sie zeigten nackte junge Menschen, manchmal auch Gruppen in allen denkbaren Anordnungen – als Pferdegespann oder Hunderudel – auf anderen waren vergrößerte Details ihrer Genitalien zu sehen. All diese Grüppchen führte der nackte, flitterbehangene Baron von Mautnic mit einer Peitsche in der Hand an.

„Nicht zu fassen!“, stieß Hedvika schockiert aus. Was sie sah, erschütterte sie fast noch mehr als die Mumie im Schaukelstuhl.

Sie schaute sich erneut staunend in der sonderbaren Höhle um. Langsam dämmerte ihr, dass sie darin ein unbekanntes Kapitel der Baronenfamilie von Mautnic entdeckt hatte, ein Kapitel, das im sonntäglichen Marionetten-Theater nie erwähnt worden war. Was hatte sich hier, im Verborgenen, wohl abgespielt, was für ein Geheimnis hüteten die von Mautnic, fragte sie sich.

Dann fiel ihr Blick auf einen kleinen Schreibtisch unter dem Fenster, das sorgsam mit Transparentpapier abgeklebt war. Auf dem Tisch stapelten sich ähnliche Magazinausschnitte und weitere Schwarzweiß-Fotografien waren ausgelegt wie bei einer Patience. Darauf lag ein Notizbuch, direkt vor dem Stuhl, man brauchte es nur zu öffnen, den Stift in die Hand zu nehmen und loszuschreiben.

Hedvika ging ein paar zögerliche Schritte zum Tisch hin und öffnete mit zittriger Hand das Notizbuch.

 

  1. September 1925

Vor Kurzem war seine Beerdigung. Was für eine Farce! Der Sarg ohne Körper, die einzige Hinterbliebene ohne Trauer. Trauer! Ha! Ekel und Hass waren es, die mir während der Zeremonie das Gesicht verzogen, keineswegs unterdrückte Tränen. Und damit ich mich nicht länger verstellen muss, gehe ich allen lieber aus dem Weg. Die Bediensteten habe ich angewiesen, mich allein zu lassen und nicht in meinem Kummer zu stören, Gäste werden abgewiesen, noch bevor sie sich vorstellen können. „Die Frau Baronin empfängt niemanden“, höre ich die tragische Stimme des Lakaien von der Eingangstür her, „sie trauert“. So habe ich endlich Zeit, meine Gedanken zu ordnen – die vergangenen zwei Tage waren so turbulent!

Also erstens: Ich bereue nichts.

Sein Tod – der dank dieses Froschs schnell und schmerzlos einsetzte – ist für mich eine Befreiung. Keinerlei Gewissensbisse stören meinen ruhigen Schlaf, er hat bekommen, was er verdiente! Wie hätte ich diesem Schuft einen Erben schenken sollen, wenn er mich kaum anschaute und lieber Jungen aus der Nachbarschaft in sein Loch führte, sogar unseren Diener? Soll er in der Hölle schmoren für alle Kränkungen, die er mir zugefügt hat, soll er nur schmoren, der Saukerl!

Und zweitens: Es kommt sowieso niemand dahinter. Dr. Boháček hat seine Afrika-Mission einwandfrei erfüllt und die Nachrichten, die er aus der Wildnis schickte, konnte von hier aus auch beim besten Willen niemand überprüfen. Und wer würde nicht dem Stempel des Konsuls Glauben schenken? Sobald ein Schriftstück von einem Stempel geküsst wird, findet sich hier keiner mehr, der die damit bestätigte Mitteilung anzweifeln würde. Es besteht keine Hoffnung mehr, stand da, und so schlugen die Beamten die Hacken zusammen, der Baron wurde für tot erklärt – und mein Leben kann endlich beginnen!

Ich werde nicht mehr nur die treue Ehefrau sein, die großzügig über die Schweinereien ihres Gatten hinwegsieht, ich werde nicht mehr nur der dressierte Pudel sein oder wandelnde Kartothek und Stifthalter – die nächste Studie wird meinen Namen tragen und die Welt wird endlich erfahren, dass auch ich…

 

Hedvika erschauerte vor Erregung.

Die Geschichte der von Mautnic erschien ihr plötzlich in einem ganz anderen Licht und die Mumie des Onkels – das kurioseste Exemplar seiner eigenen Sammlungen zoologischer Präparate, die sie aus dem Winkel des Zimmers aus anstarrte, jagte ihr nun nicht mehr die geringste Angst ein. Er hatte bekommen, was er verdiente, klang es in ihrem Kopf nach, als sie sich wieder den Seiten des Tagebuchs ihrer Tante zuwandte.

Viele Einträge waren nicht darin. Es sah so aus, als hätte die Tante nur gelegentlich etwas geschrieben – vielleicht nur dann, wenn sie in den Raum ging, um ein wertvolles Stück zu holen, mit dessen Verkauf sie dann die Verstaatlichung des Hauses abwendete. Es reichte, kurz zu blättern und Hedvika war auf der letzten Seite angelangt.

 

  1. Januar 1974

Šimek hat wieder herumgeschnüffelt. Ich weiß, dass er etwas vermutet und er weiß, dass ich weiß. Aber er findet nichts, dieses Versteck ist schwer zu entdecken und so lange ich lebe, bekommt er keine Gelegenheit. Soll er sich nur den Kopf zerbrechen, woher ich die Dinge nehme, mit denen wir jedes Mal um Haaresbreite der Verstaatlichung des Hauses entgehen, soll er mir drohen, soll er in der Nische oben im Treppenhaus auf mich warten, soll er sich nur anstrengen – aus mir bekommt er nichts, und sollte er mich die Treppe hinunterstoßen. Ich wiederum werde mich darum bemühen, Hedvika weiterzugeben, was ich kann – so, dass sie das Geheimnis dieses Hauses durch ihre Kindheit trägt, ohne dass ich es verrate, und gleichzeitig so, dass sie sich daran erinnert, wenn sie es wirklich braucht. Die kleine Hedvika, die Zukunft des unglücklichen Geschlechts der von Mautnic, die kleine Hedvika, das Kind mit den wachen Augen und dem klaren Verstand, die eines Tages vollenden wird, was ich begonnen habe. Sie wird die Sammlungen zurückbekommen, meine Studien veröffentlichen, deren Autorenschaft mir dieses Pack von Akademikern, chauvinistischen falschen Kumpanen des verstorbenen Barons nicht zuerkennen wollte, sie wird dafür sorgen, dass wieder Gerechtigkeit und Ordnung in das Haus der von Mautnic einkehrt. Die kleine Hedvika, sie wird das schaffen…

 

*

 

  1. März 1998

Es hat anderthalb Jahre gedauert, um zu den vorausgegangenen Aufzeichnungen dies hinzuzufügen zu können. Aber endlich haben wir es geschafft. Das Haus ist wie neu, alles wurde in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt, und unten, dort wo früher das Farbengeschäft war, habe ich eine Galerie eröffnet.

Die Ausstellung trägt den Titel „Leben und Werk der Baronin von Mautnic“.

Zur Vernissage kamen unzählige Menschen – aus der Nachbarschaft und völlig unbekannte, und sogar die Presse. Auch Herr Šimek kam aus dem Obergeschoss heruntergefahren. In den Rollstuhl gekauert, mit einem Gesicht so runzlig wie eine faule Kartoffel, aber mit den Augen warf er Blitze – nach den ausgestellten Exponaten an den Wänden und nach mir. Er gratulierte mir mit glühendem Eifer, als ob er sich nie etwas anderes gewünscht hätte, als Wohlergehen für die von Mautnic. Also habe ich ihm mit einem genauso herzlichen Lächeln ein Glas Wein angeboten und abgewartet, bis der letzte Schluck durch seine vor Wut zusammengeschnürte Gurgel geflossen war, dann habe ich mich zu ihm hinuntergebeugt und geflüstert: „Wie konnten Sie so unfähig sein? Es war doch so einfach!“

Die Beschimpfungen, die er heiser herauspresste, haben meine Stimmung gehoben, ganz im Gegensatz zu den entrüsteten Besuchern, durch die hindurch der erschrockene Gnom Šimek jun. den Rollstuhl zurück zum Fahrstuhl manövrierte. „Ich werde es Ihnen noch zeigen!“, drohte er, bevor sich hinter ihm die Tür schloss.

Ich vermute, dass er keine Gelegenheit mehr haben wird, seine Drohungen wahr zu machen. Der Zauber des Pfeilgiftfroschs ist vielleicht über die Jahre schwächer geworden, aber das Herz von Doktor Šimek auch. Schon am nächsten Tag ging im Haus die Nachricht um, er habe einen Herzinfarkt erlitten. In seinem Alter wunderte das jedoch niemanden…

Dieser Abend hätte dir, liebe Tante, gefallen.

 

Aus dem Tschechischen von Iris Milde