Ausschnitt aus dem dritten Kapitel

Alice kam 1950 zur Welt, einige Monate, bevor man ihren Vater verhaftete, verurteilte, einsperrte. Alice hatte an all das keine Erinnerung, sie kannte es nur aus den Erzählungen der Verwandten. Die Mutter war jeden Monat zu ihm gefahren. Manchmal hatte sie Alice mitgenommen, aber Alice durfte sowieso nicht mit hinein und daher blieb sie bei der Tante im der Nachbarstädtchen. Und dann, zehn Jahre später, tauchte ihr Vater zu Hause auf. Alice kannte ihn aus den Erzählungen und von den Fotografien. Sie hatte Briefe von ihm bekommen, die ihr die Mutter vorgelesen hatte, und später, als sie lesen konnte, selber gelesen hatte. Sie empfand keine besondere Freude darüber, dass er ihnen Briefe schickte, denn auch wenn die Mutter es zu verbergen suchte, weinte sie meist, und Alice wusste das und bemühte sich, es der Mutter nicht zu zeigen. Dann, nach ihrem zehnten Geburtstag, wurde der Vater entlassen. Sie freute sich, alle freuten sich und alle waren nervös und glücklich. Zunächst war die Mutter auf irgendwelche Ämter gegangen, dann kamen immer öfter alle möglichen Verwandten und Bekannten vorbei, sahen mit der Mutter eine Menge Papiere durch, die sie schließlich auch ausfüllten und über die sie in einer Sprache sprachen, die Alice nicht verstand. Und dann hatte ihr die Mutter eines Tages gesagt, dass sie eine große Überraschung für sie habe, und diese Überraschung war, dass der Vater in genau zwei Wochen nach Hause kommen sollte, dass sie ihn schon nach zehn Jahren entlassen würden, nicht erst nach dreizehn, wie das Urteil ursprünglich gelautet hatte, und dass er wieder mit ihnen leben würde. Alice verstand nicht so ganz, was die Mutter sagte, denn der Vater sollte kommen, sollte zurückkehren, aber so weit sich Alice erinnerte, hatte er nie mit ihnen gelebt, für sie war es gar keine Rückkehr, sie hatte ihn nie weggehen sehen. Der Vater sollte am Donnerstag aus dem Gefängnis nach Hause kommen. Diese zwei Wochen mit der Mutter waren kaum auszuhalten. Alice verstand nicht, was in ihr vorging. Sie war froh, dass ihr Vati zurückkam, schon deshalb, weil er im Gefängnis war und man darüber so gut wie nicht sprechen durfte. Alice verstand, so jedenfalls hatte es Onkel Antonín ihr gesagt, dass ihr Vati ein mutiger Mann war, er hatte sich dem Unrecht entgegengestellt und dafür hatte man ihn eingesperrt, denn dieses Regime, hatte Onkel Antonín gesagt, das sind sowieso alles Verbrecher, von denen niemand etwas Gutes zu erwarten hat. Alice verstand nicht so ganz, was mit „dieses Regime“ gemeint war, aber sie dachte sich, dass es jemand eben so wichtiges sein müsse wie der Schulinspektor, vor dem nicht nur Frau Svobodová, die Klassenlehrerin, Angst hatte, sondern auch Frau Krausová, die Direktorin der Schule, und dass will schon was heißen. Alice wusste auch, dass es Dinge gibt, über die man nur zu Hause sprechen konnte, aber nicht in der Schule oder im Laden oder auf der Straße. Sie freute sich, dass ihr Vati nach Hause kam, auch wenn die Mutter unentwegt wusch, sauber machte, umräumte, Staub wischte. Einmal hörte Alice, wie sie sich mit Onkel Antonín beriet, ob sie auch streichen solle. Der Onkel überzeugte sie, es nicht zu tun, indem er sagte: „Beruhige dich, Květuš. Josef kommt zurück, er wird streichen. Ihr werdet zusammen streichen, wenn Du willst.“ Die Mutter hatte wie üblich zu weinen begonnen, warum sie nun aber wegen des Streichens weinte, das konnte Alice wirklich überhaupt nicht verstehen.

Onkel Antonín brachte der Mutter immer wieder Tabletten, und die nahm sie manchmal und dann war sie ruhiger, doch ab und zu, in der Bäckerei zum Beispiel, wenn sie Schlange standen, rollten der Mutter plötzlich Tränen über die Wangen, und wenn Alice sie am Ärmel zog, wollte die Mutter entweder nicht mit ihr sprechen oder sie sagte ihr meinetwegen, dass sie dort in der Bäckerei diesen oder jenen Kuchen gehabt hätten, Sachertorte zum Beispiel, und die hätte der Vati so gern gegessen. Alles, was mit dem Vater zusammenhing, war traurig, und Alice begann ihn langsam, aber sicher nicht mehr zu mögen, denn bei der Erinnerung an ihn weinte die Mutter und eigentlich war nicht klar warum. Die Wohnung war aufgeräumt, die Fenster geputzt, die Blumen umgetopft, selbst Alices Spielzeug hatte die Mutter mindestens viermal kontrolliert. Man konnte es wirklich mit ihr kaum noch aushalten und Alice war lieber bei ihrer Freundin Teresa. Dort brachte sie die Mutter manchmal hin, denn der Großvater von Teresa war auch im Gefängnis, allerdings in einem anderem als der Vater. Im Wohnzimmer bei Teresa hing ein Bild des Großvaters. Ein kräftiger, großer Mann mit großem Bauch, großem Schnurrbart und einem Blick, der durch Mark und Bein ging. Eine Hand hatte er in der Westentasche, aus der ein Uhrkettchen heraushing, und Teresas Großmutter sagte von ihm, dass er eine Seele von Mensch sei und nichts dergleichen verdient habe. Das glaubte Alice der Großmutter von Teresa nicht, denn von der Fotografie sah er sehr streng und unfreundlich herab. Und außerdem war sein Bauch so groß und sah ebenso streng aus wie sein Schnurrbart und sein unerbittlicher Blick.

Am Dienstag kam Tereska zu Alice in die Wohnung und wollte mit ihr zusammen Hausaufgaben machen. Die Mutter hatte sich in den letzten paar Wochen viele Dinge gekauft, die es früher in ihrem Haushalt nicht gegeben hatte, Lippenstifte, Kämme, auch Puderdosen waren hinzugekommen und sogar ein paar kleine Fläschchen Parfum. Alice und Teresa probierten sie durch. Die Erlaubnis von Alices Mutter dazu hatten sie, freilich war ihnen zugleich auch aufgetragen worden, vorsichtig mit allem umzugehen, denn es hatte viel Geld gekostet. Als es klingelte, war klar: dass konnte nur Frau Poláčková sein, die Mehl, Eier, Milch, Hefe oder sonst was ausborgen, vielleicht aber auch Mehl, Eier, Milch, Hefe oder sonst was zurückbringen wollte. Die beiden Mädchen sahen einander an und grinsten. Teresa sagte:

„Die Poláčková? Alice grinste noch einmal, sagte: „Liebes, haben Sie nicht zufällig Hefe da?“ und ging aufmachen. Als sie durch das Guckloch spähte, konnte sie niemanden sehen. Das war nicht die Poláčková, die Polačková stand immer so, dass man sie durch das Guckloch sehen konnte. Alice ging zu Teresa zurück.

„Wer war das?“ fragte Teresa.

„Niemand“, antwortete Alice, „da ist niemand, und wenn dort niemand ist, dürfen wir sowieso nicht aufmachen, also …“ Es klingelte wieder. Jetzt standen beide Mädchen auf und gingen zur Tür nachsehen.

„Da ist wer“, sagte Teresa, „schau mal.“ Alice schaute, da stand ein Mann, mit dem Rücken zur Tür, in der Hand eine Tasche. Die Mädchen sahen einander an, Alice machte auf. In der Tür stand ihr Vater. Dass es ihr Vater war, erkannte sie sofort, denn seine Fotos waren überall in der Wohnung, die meisten im Zimmer der Mutter. Er war aber viel, viel magerer als auf den Bildern. Als er sie sah, sagte er:

„Guten Tag, Alice.“ Alice stand da, hielt die Klinke fest und sagte:

„Guten Tag, mein Herr.“

„Ich bin dein Vati, Alice“ sagte der Herr.

„Ich weiß, mein Herr,“ sagte Alice.

„Kann ich reinkommen?“ fragte der Vater.

„Ja, Herr Vati“, sagte Alice und blickte unsicher zu Teresa hinüber. Teresa stand in der Ecke des Flurs, beobachtete alles, aber sagte nichts. Der Vater trat in den Flur und sah sie stehen. Er sah sie an und sagte:

„Und du musst Teresa sein, oder?“

Ja, mein Herr“, antwortete Teresa und nach kurzem Zögern fragte sie: „Sie sind der Vati von Alice?“

„Ja, das bin ich“, sagte der Vater.

„Aha“, sagte Tereska. Der Mann trat ein, schloss die Tür, beugte sich hinab und nahm Alice in die Arme. Er hob sie hoch, und Alice war fast an der Decke. Alice wusste nicht, was sie tun sollte, aber wenn Onkel Antonín, Tante Šarka oder Onkel Bedřich sie manchmal so hochhoben, dann legte sie immer die Arme um ihren Nacken. Und das tat sie nun auch. Der Mann lachte, das gefiel Alice, aber zugleich spürte sie, dass ihr Gesicht von seinem Gesicht feucht wurde, und das wiederum gefiel ihr nicht so, denn kurz zuvor hatte sie mit Teresa das neue rosa Puder ausprobiert, das so wunderbar duftete. Sie lehnte sich zurück und versuchte ihn unauffällig anzusehen, während er sie hoch über der Erde hielt. Nach einer Weile ließ der Vater sie auf den Boden hinunter, er zog ein großes Taschentuch heraus und schnäuzte sich. Das Taschentuch nahm Alice ganz gefangen, denn weder sie noch die Mutter benutzten so große Taschentücher. Sie lagen schön säuberlich gebügelt bei der Mutter im Schrank, dort, wo Vaters Sachen waren. Solche Taschentücher wurden nur für ein aufgeschlagenes Knie verwendet, oder um einen Schnitt in den Finger zu versorgen, den man sich beim Zerkleinern von Zwiebeln oder Möhren zugezogen hatte. In solche Taschentücher schnäuzte man sich nicht. Solche Taschentücher kamen dann in die Schmutzwäsche, wurden gekocht, gebügelt und bei der Mutter im Schrank ordentlich übereinander gelegt. Alice wandte sich um, rannte in das Zimmer der Mutter, öffnete den Schrank, nahm von dem Stoß zwei große, säuberlich gebügelte Taschentücher, die nach Seife dufteten, kehrte damit zum Vater in den Flur zurück und drückte sie ihm in die Hand. Der Vater sah sie flüchtig an, lächelte, sah ihr dann aber so unerwartet direkt in die Augen, dass es Alice durchfuhr und ihr der Atem fast stillstand, und sie wusste, wenn sie gerade etwas gegessen hätte, hätte sie sich verschluckt. So streng sah er sie an, dass sie nicht zu atmen wagte. Dass er sie so ansieht, dachte sie später, wird sie mit Teresa besprechen müssen. Sie so anzusehen, so merkwürdig und streng anzusehen, wo sie nichts getan hatte, das macht man doch nicht. Der Mann hob den Blick, sah sich im Flur um und strich ihr mit der Hand durchs Haar. Das wusste Alice, dass das die Erwachsenen so machen, wenn sie nichts zu sagen wissen und zu den Kindern nett sein wollen. Tereska war inzwischen in ihre Schuhe geschlüpft, machte eine kleine Verbeugung vor dem Vater, verabschiedete sich von Alice und ging nach Hause. Sie fühlte sich überflüssig, auch wenn sie nicht genau wusste warum.

Der Vater trat in die Küche. Er öffnete die Kredenz, zog einen großen Keramikbecher hervor, der in der zweiten Reihe stand und aus dem bisher niemand getrunken hatte, dann griff er zielsicher nach der großen Blechdose im Regal, in der sich der Kaffee befand. Er kennt sich hier aus, sagte sich Alice. Mein Vati, sagte sie sich, mein Vati kennt sich hier aus, hier bei mir zu Hause, hier bei mir in der Küche.

Sie hatte sich so gefreut, so gefürchtet, war ihm so böse gewesen, und jetzt wusste sie nicht, was sie mit diesem großen, hoch gewachsenen Mann eigentlich anfangen sollte. Sie stand da, sah zu ihm hinauf und er sah zu ihr hinunter, bis ihr fast ein wenig unwohl wurde, und überhaupt begann sich in ihrem Kopf von der Höhe, zu der sie zu ihm hinaufsehen musste, alles ein wenig zu drehen.

„Wo ist die Mutti?“ fragte er, während er sich Kaffee machte, sich setzte und zu seiner Tochter blickte.

„Sie ist was erledigen“, antwortete Alice. „Und außerdem, außerdem hat sie mir gesagt, dass Sie erst am Donnerstag kommen.“ Weder Alice noch der Vater konnten sich erinnern, wie lange sie in der Küche gesessen hatten. Alice führte ihn ein bisschen durch die Wohnung, in der während der zehn Jahre vieles unverändert geblieben war. Er wunderte sich, warum sie in siezt, wo sie sich in den Briefen doch geduzt hatten, und im Stillen staunte er darüber, was für ein großes Fräulein er zur Tochter habe, auch wenn die letzte Fotografie, auf der er sie gesehen hatte, kaum ein halbes Jahr alt gewesen war. Sie wiederum staunte im Stillen darüber, dass er trotz seiner Größe nirgends anstieß, geschickt den Lampen in Küche und Zimmer auswich, dass seine raue Hand ihr immer wieder durchs Haar strich, das sich manchmal an seinen Schwielen verfing. Sie merkte auch, wie sich der Stoff ihrer Bluse, wenn er sie über Arme und Schultern streichelte, in seiner rissigen Haut verfitzte, und Alice hatte ein wenig Angst, das seine Hände den Stoff zerreißen könnten. Ein bisschen waren sie wie ein Reibeisen, seine Hände, und brauchten sicher eine Maniküre oder zumindest musste man sie ordentlich eincremen, mit einer richtig fetten Creme, mit so einer, wie Mutti oder Tante Šarka sie verwendeten, aber laut sagen traute sie sich das nicht. Jedem anderen hätte sie es gesagt, aber er war ihr Vati, und das war etwas ganz anderes. Keiner der beiden erinnerte sich, wie lange sie ihm das Zimmer, die Küche, den Flur gezeigt hatte, keiner erinnerte sich, wie oft sie ihm die Namen ihrer drei Puppen wiederholt hatte, die, wie sie sagte, noch im selben Augenblick aus seinem Kopf verrauchten, in dem sie sie nannte. Alice bemerkte überhaupt, dass er seltsame Dinge tat, er setzte sich zum Beispiel mehrmals auf die Erde, das heißt auf den Boden im Zimmer und lehnte sich ans Bett, und so was, das weiß jeder, macht man nicht, denn man sitzt nicht auf dem Boden, auch wenn ein Teppich da liegt, man sitzt auf Stühlen oder in Sesseln, auf dem Boden kann man spielen, das heißt wenn man ein kleines Kind hat und nicht schon so ein großes wie sie. Alice wusste nicht, wie sie ihm das sagen sollte, denn er war so groß und sie hatte immer noch ein bisschen Angst vor ihm. Und dann auf einmal, ganz plötzlich, war es Abend und er saß im Dunkeln auf der Erde, da, wo man einfach nie sitzt, ans Bett gelehnt, und sie saß auf seinen Knien, und ihr war wohl, und auch wenn sie in einem dunklen Zimmer immer ein bisschen Angst hatte, jetzt hatte sie hier keine Angst, auch wenn sie vor diesen großen, mageren Mann freilich schon ein bisschen Angst hatte, aber ihr war trotzdem wohl. Und auf einmal klirrten die Schlüssel im Schloss und sie fühlte, wie sein Herz unter dem Hemd und dem Sakko sehr laut zu schlagen begann und wie er sie mit einem Mal so fest drückte, dass es ihr wehtat, wie er ihre Handgelenke umklammerte und dann wieder so seltsam zur Tür hin blickte, die zur Küche führte und nur angelehnt war. Und plötzlich stand er auf, nahm sie, ohne etwas zu sagen, auf den Arm und drückte sie noch immer ein bisschen fester als nötig, und Alice zuckte und kam sich vor wie ein Weißfisch im Netz. Er zog die Tür zur Küche weiter auf und durch die nächste Tür, die Tür zum Flur, die einen Spalt offen stand, war zu hören, wie die Mutter ihre Schuhe abstreift, sie wechselt, wie sie ihre Hausschuhe nimmt und fragt, wo Alice ist und ob Tereska schon weg sei. Und dann dreht sie sich um und sieht sie beide in der Tür stehen. Ihn, ihren Mann, der seine Tochter hält, und noch einmal bückt sie sich und richtet ganz unbewusst den Riemen an ihren Schuhen, aber sie schaut schon gar nicht mehr auf die Schuhe, sie geht auf die beiden zu und sagt nur: „Josef, Josef…“ und sagt den Satz nicht zu Ende, wie man das soll, sagt ihn so, wie ihre Tochter das tut, die sie dafür dann immer schimpft. Und sie kommt auf sie zu und streichelt ihr übers Haar und legt ihre Wange an die seine, und Alice hat das Gefühl, dass die Mutter ganz sicher gleich wieder weinen wird, und das ist ihr unangenehm, aber erstaunlicherweise weint sie nicht, sie hält nur ihren Mann an der Schulter und umarmt Alice und Alice merkt, dass das Herz ihres Vaters, das vor kurzem noch galoppiert ist wie eine Herde flüchtender Gazellen, die sie einmal im Zoo gesehen hat, inzwischen schon langsam schlägt, gleichsam bedacht, dann aber fühlt sie, das von der Hand der Mutter her ein kleiner, dünner, warmer Quell pulsiert, der ihr das Blut bis in die Finger treibt, die sie umklammern und streicheln, und dieser Quell verändert sich, er schwillt, beruhigt sich, stürmt. Dann setzte der Vater sie auf dem Boden ab, und irgendwie war klar, dass es jetzt Abendessen geben würde, und sie ging zum Tisch und setzte sich auf ihren Stuhl, und er setzte sich ihr gegenüber, und die Mutti kam nur ab und zu und streichelte ihr übers Haar und ihm auch, so wie man das nur bei kleinen Kindern macht, aber manchmal streichelte sie ihm auch – als wollte sie nicht, dass es jemand sähe – blitzschnell und gleichsam verstohlen über die Hände, die vor ihm auf dem Tisch lagen und so viel größer waren als die ihren. Und sie aßen und weil die Mutti gedacht hatte, dass der Vati erst zwei Tage später kommt, hatte sie gar kein Essen vorbereitet, weil sie in den Läden alles erst für den nächsten Tag bestellt hatte, damit es frisch ist, und deshalb aßen sie jetzt Käseaufstrich mit Schnittlauch, oder Schnittling, wie Tante Šarka immer sagte, und das schmeckte Alice zwar nicht gerade besonders, aber heute war das fast egal, denn aufrichtig gesagt, wusste sie gar nicht so genau, was sie aß. Sie sah ihren Vati an, ihre Mutti, die so völlig anders war als je zuvor. Und als sie gegessen hatten, gingen sie ins Wohnzimmer und setzen sich und die Mutti zeigte dem Vati zwei Schallplatten, die ihm sehr gefielen, das war zu sehen, denn auf seiner Stirn bildete sich so eine schräge Falte, was aussah, als wäre er über etwas böse, aber später stellte sie fest, dass das nur so aussah und in Wirklichkeit hieß, dass er höchst zufrieden war. Und auf dem Cover der einen Schallplatte waren Herren in Anzügen, die aussahen wie achtbare Pinguine auf einem Fest, wie der Vati später sagte, und dabei hatte er ein ernstes Gesicht gemacht und nur ihr zugezwinkert, unauffällig und so schnell, dass nur sie es bemerken und darüber lachen konnte, und auf dem Cover der anderen Schallplatte war der Kopf von irgendwem anders, der sehr lockige Haare hatte und eine kleine, lustige Brille, und auch ein Klavier war zu sehen, das ganz golden angemalt war.

„Das, Květuška, habe ich Jahre nicht gehört.“ Und die Mutti sagte:

„Jetzt wirst Du es hören können, Josífek, von mir aus zweimal täglich.“ Aber dass die Mutti Josífek zu ihm sagte, dass gefiel Alice nicht so sehr, und sie ging zu den beiden hin und sagte:

„Das ist mein Vati und kein Josífek.“ Und er sah sie wieder mit diesem Blick an, aber diesmal fuhr es ihr nicht so ins Mark, denn sie kannte es ja schon und war tapfer und er setzte sie zu sich auf den Schoß und sagte:

„Mutti, Alice hat Recht.“ Und sie war froh, dass sie auf seinem Schoß saß, denn von der Musik, die von der Schallplatte herüberklang, auf deren Cover der Herr mit der lustigen Brille war, wurde sie richtig traurig, auch wenn es ihr gleichzeitig vorkam, als ob ihr schön und erhaben zumute sei, aber sie wurde trotzdem immer trauriger. Und dann erinnerte sie sich nur noch, wie zwei große, starke Hände sie durch die Luft hoben und sie hinübertrugen und in ihr Bett legten und zwei kleinere ihr die Kleider auszogen und das Nachthemd über den Kopf streiften, und wie sie durch die Luft gehoben wurde, das gefiel ihr, und auch wenn Onkel Oldřich sie manchmal so trug, jetzt waren es die Hände von Vati, und das war etwas ganz anderes, und noch bevor sie ganz eingeschlafen war, sagte sie sich, dass sie mit der Mutti beratschlagen müsse, welche Handcreme sie dem Vati kaufen, den die, die die Mutti hatte, duftete zu sehr, und das könnte ihn stören, denn er roch eher nach Tabak, und das spürte sie noch beim Einschlafen, obwohl die Mutti Tabak nicht mochte und jeder, der rauchte, auf den Balkon musste, aber der Vati musste nie auf den Balkon, da war sie sich sicher, und an mehr konnte sie sich schon nicht mehr erinnern.

Übersetzt von Kristina Kallert.