David Zábranský

Logoz

2019 | Větrné mlýny

Motto:

Die Sonne, der nichts anderes blieb, schien auf so viel Neues …

 

1.

Einst hatte Robert Holm eine Idee. Eine Art Erleuchtung, worauf er, geleitet von jenem Licht und dennoch rundum geschützt durch völlige Dunkelheit, vorwärts schritt und die Welt aus ihren Angeln hob.

Dies geschah im Zeitalter des Tippens (und mitnichten im digitalen Zeitalter, wie man sich damals einreden wollte). Im Zeitalter des Tippens also, dessen Bezeichnung sich von der damals so typischen menschlichen Bewegung herleitete: nämlich vom erniedrigenden Rumgetippe auf glatten Display-Oberflächen zur Auswahl von Buchstaben. Damals tippte ein jeder immer und überall.

Das Zeitalter des Tippens mit diesen seinen Usancen. Die Robert Holm jedoch verachtete, und sicher hatte er seine helle Freude daran, sobald er einen dieser Tipper gegen einen Laternenpfosten laufen sah. Beim Gehen wird gegangen und mitnichten getippt, du Tipp-Depp, du!

Für Robert stand dieses ewige Rumgetippe – einschließlich des eigenen – im Gegensatz zur Freude an der Erleuchtung, die ihn damals in Shanghai ereilte. Und dennoch …

Robert tippte routiniert. Seine Tweets, mit deren Hilfe er die Welt letzten Endes wirklich aus ihren Angeln hob, waren wie in Stein gemeißelt. Robert verfügte über ein Konzept und kannte die Lösung. In der Tat war er Europäer, und zwar Europäer qua Geburt; doch sein Unwille, Dinge nur zu umkreisen und zögerlich anzugehen, sein zielgerichteter und aufrechter Gang, sein Lauf, ja Flug, der so untypisch war für damalige Europäer … Die Leute kamen aus dem Staunen nicht heraus.

Nun ist Robert tot, und soeben sind seine Memoiren erschienen. Sie beginnen mit einer recht langen kritischen Einleitung, und der Text selbst ist gespickt mit Hunderten skeptischer Anmerkungen, was Robert sicher nicht gefallen würde. Aber so ist das eben. Und Robert kann sich nicht mehr wehren.

Als er starb, war er achtzig Jahre alt. Achtzig mit Ausrufezeichen, wie er selbst sagen würde, er, der einen Großteil seines Lebens hinweg nicht müde wurde zu betonen: „Alles hat ein Ausrufezeichen! … Alles verdient ein Ausrufezeichen, denn jede Sekunde ist ein Wunder!“

Jede Sekunde ist ein Wunder. Deshalb muss der Mensch immer wieder den ihm innewohnenden Élan vital wecken, und zwar jede Menge Élan vital, was Robert dadurch tat, dass er jeden Satz – und das galt auch für Fragesätze – mit einem begeisterten Ausrufezeichen versah. Das tat er unermüdlich. Was in seinen letzten Jahren wirklich anstrengend wurde.

Roberts Memoiren. Ich bin davon überzeugt, dass zu Roberts Geschichte, die er souverän zu unserer Geschichte gemacht hat, auch ich etwas beitragen kann. Ich zählte Robert Holm zu meinen Freunden. In New Berlin haben wir zahlreiche Nächte im Gespräch verbracht. Abgesehen davon, dass wir beide länger als fünfzehn Jahre gemeinsam sagen wir mal „ökologisch gewirtschaftet“ haben.

Wiewohl ich gut dreißig Jahre jünger war, standen wir uns recht nahe, und als Robert sich vor einem halben Jahr auf sein eher ungewöhnliches Sterbebett gelegt hat – hart („bewusst hart!“, was nicht stimmen konnte, denn dieses Bett hatte er nicht selbst ausgewählt) -, war das ich, den er mit dem Lektorat und der Herausgabe seiner Memoiren betraut hat. Seine diesbezügliche Anweisung war eindeutig:

„Bloß nichts ändern! Keine Zeile, kein Jota, kein Nichts … Ich bin Robert Holm. Ich bin groß. Ich bin ein Macher. Ich bin der Schmetterling, dessen Flügelschlag vor vierzig Jahren das gesamte Universum erschüttert hat! … Folglich weiß ich, was wie formuliert gehört! … Ach, und was das Erscheinungsjahr anbelangt, so muss es unbedingt ‚A.D. 40‘ lauten! Das darfst du auf keinen Fall vergessen!“

Mit Roberts letzter Bemerkung war „vierzig Jahre nach mir“, also nach Robert Holm gemeint. Vor allem aber vierzig Jahre nach seiner so großen Idee.

„Du weißt, welche Idee das war, nicht?!“ hat er mich gefragt, als er mir das etwa zwei Zentimeter dicke, in braunes Leinen gebundene Notizbuch überreichte, dessen Seiten zu mehr als zwei Dritteln in Schönschrift vollgeschrieben waren, worauf er sich in seinem Hausmantel aus beigefarbenem Leinen auf die andere Seite wälzte und auf sein schmales Ärmchen stützte, das mich aus begreiflichen Gründen an klassische Essstäbchen aus Holz erinnert hat – ein weiteres schönes und haptisch angenehmes Naturmaterial, mit dessen Hilfe nicht wenige von uns in New Berlin versuchten, Essen in unsere Münder zu bugsieren, nur um Robert eine Freude zu machen – und dann nahm er aus seinem Tonschälchen einen Schluck grünen Tee.

Du weißt, welche Idee das war, nicht? Diese Frage enthielt eine kaum zu überbietende Portion Heimtücke. Diese Frage enthielt den ganzen – alten („bewusst alten!“) und anstrengenden – Robert Holm.

„Selbstverständlich, Robert, weiß ich, welche Idee das war“, sagte ich und versuchte, mit der Hand so weit wie möglich in seinen kleinen Käfig hineinzureichen, um ihm das Kissen in den Rücken zu stopfen. Was mir jedoch nicht gelang, denn mein Arm war zu kurz.

„Ohne dich wären wir ja gar nicht hier“, fügte ich noch hinzu, um ihm zumindest eine kleine Freude zu machen. „Nicht hier … und woanders auch nicht.“

An jenem Tag, an dem er mir sein schriftliches Vermächtnis überreicht hat, rechnete auch Robert selbst damit, nur mehr wenige Wochen, höchstens Monate zu leben. Vor dem Tod fürchtete er sich nicht. Beim Überreichen des Notizbuches sagte er noch irgendetwas über Sokrates und dessen Aussöhnung mit dem endgültigen Urteil. Aber zu all dem komme ich noch; zum Leben, zum Prozess, zum Lebensprozess … Zur Herrlichkeit, die in Roberts Fall von vornherein an einem solch dünnen Faden gehangen hatte.

Der Grund für meine Entscheidung, mich ebenfalls hinzusetzen und etwas niederzuschreiben, ist simpel und leicht zu erraten. Roberts Memoiren. Ich habe sie exakt so belassen, wie er sie mir überreicht hat. Ich habe mein Versprechen gehalten, und dafür, in welcher Form die Memoiren schließlich veröffentlicht wurden, trage ich keinerlei Verantwortung. Diese wirklich kritische Einleitung und die zahlreichen Anmerkungen in Bezug auf Roberts Ausdrucksweise stammen vom Herausgeber. Er war es, der sein Versprechen gebrochen hat, weswegen er und ich auch im Streit auseinandergegangen sind. So ist das eben. Nichtdestotrotz schreibe ich also einen Nachtrag zu Roberts Memoiren, und zwar zugunsten der Wahrheit. Zugunsten der Wahrheit. Und mitnichten, um hier Roberts Platon zu mimen!

Daneben gibt es aber einen anderen Grund. Den langen, und – sagen wir mal – hohen Weg, von dem ich vor ein paar Monaten zurückgekehrt bin. Bis jetzt schmerzt mein verstauchter Knöchel, aber ich beschwere mich nicht. Ich weile wieder unter euch hier auf Erden. Und weiß nun ganz genau, wie es um unseren Planeten bestellt ist und wie viele Menschen in etwa darauf leben. Da wären Herr Dumitrescu, Herr Lewandowski, Herr Fu, Herr Bystrický, Herr Ferencz, mein Junge Szymon, mein Töchterchen Zofia … Auch weiß ich jetzt, dass es an den Flüssen Euphrat und Tigris geheime und extrem leistungsstarke Kläranlagen gibt. Ich weiß etwas, was höchstwahrscheinlich nicht einmal Robert wusste. Worauf ich hinauswill: Dieser Abschnitt über meinen verstauchten Knöchel und meine Rückkehr auf die Erde hat nichts mit Robert Holm und seinen Memoiren zu tun.

Beginnen muss ich freilich woanders.

Ich beginne also mit diesem alles entscheidenden Tag in Shanghai.

 

2.

An diesem Frühlingstag trug Robert Holm eine schwarze Brille der Marke Prada. Das Brillengestell war aus patentiertem Spezialmaterial gefertigt, das die geschützte Markenbezeichnung Optyl trug. Die superdünnen, entspiegelten Brillengläser der Marke Zeiss hatte sich die Firma Zeiss patentieren lassen … Und so weiter.

Wer Lust hat auf das Studium historischer Dokumente, der kann sich ruhig versuchen an einer vollständigen Aufstellung der Eigentümerstruktur in Bezug auf Roberts damalige Grund- sowie modische Ausstattung. Ich hingegen gestehe auch ohne Folter, meine Nachforschungen anhand einschlägiger historischer Dokumente nach einer halben Stunde eingestellt zu haben. Mit Sicherheit kann ich also nur sagen, dass Optyl nicht zur Prada Group, S.p.A., sondern vielmehr zur Safil-Gruppe gehört hat, die wiederum mit einem weiteren Hersteller von Brillen und anderen Produkten der Marke Carrera zusammenhing. Über die Brillengläser der Firma Zeiss und deren patentierte Oberflächenbehandlung schweige ich mich lieber aus, denn dadurch würde das ganze Geflecht aus Beziehungen und Ansprüchen noch verwirrender.

Selbst ohne die Kenntnis weiterer Einzelheiten muss man die damals auf Roberts Nase sitzende Brille aus schwarzem Plastik als kompliziertes, vielschichtiges System betrachten; als multinationales Gebilde, gar als multinationales Unternehmen (als multinationales Unternehmen mit schwarzem Rand und schwarzen Bügeln). Was da über lange Stunden hinweg geduldig auf Roberts Nase saß, war ein technologisches, vor allem aber rechtliches Konglomerat ungeahnten Ausmaßes, das sich darüber hinaus ständig transformierte und mit dem weltweiten Aktienhandel der börsennotierten Unternehmen Carrera, Prada, Zeiss und Safil von der einen unsichtbaren Hand in die nächste überging.

Solchermaßen also hat man gelebt. In einer extrem komplizierten und komplexen Welt, in einer Traumwelt. Zwölf Stunden täglich trug Robert ein unförmiges Luftschloss auf seiner Nase, ein fortwährend sich wandelndes Kaleidoskop aus x-fach fremdem „geistigen Eigentum“.

Rückblickend gesehen eine ziemlich geschmacklose Mixtur. Bestehend einerseits aus dem Hochmut und der mit arroganter Grenzüberschreitung vermengten Unverschämtheit einzelner Körperschaften. Und andererseits aus menschlicher Dummheit. Doch die Konsumenten fühlten sich weder peinlich berührt noch irgendwie missbraucht. Robert – und wer verhielt sich damals schon anders? – stellte sein fremdes geistiges Eigentum sogar allgemein zur Schau, verdeckte nicht ein einziges Logo mithilfe blickdichten Klebebands, und das galt nicht nur für seine Brille. An den Füßen trug er markenrechtlich geschützte Schuhe von Nike, an den Beinen markenrechtlich geschützte Jeans von Levi’s und am Oberkörper eine markenrechtlich geschützte Jacke von North Face. Faktisch trug er fremde Schuhe, fremde Jeans und eine fremde Jacke. Einfach lächerlich. Aber ein jeder gefiel sich darin. Wegen eines Paars Schuhe mit dem richtigen Logo hat man sogar aufeinander geschossen. Wohl in der festen Überzeugung, mit dem richtigen Logo das ewige Leben zu erlangen.

Roberts schwarze Brille der Marke Prada ist mittlerweile Teil einer Dauerausstellung im Museum von New Berlin. Von meinen geliebten Kindern wird hier noch genug die Rede sein, aber bereits jetzt will ich mir die Gelegenheit, sie zu erwähnen, nicht entgehen lassen. Es ist nämlich noch gar nicht so lange her, dass ich mit Szymon und Zofia im Museum war, wo wir uns Roberts Brille angesehen haben. Ich hatte einen Stift dabei und habe notiert, was auf dem Schild an der Vitrine geschrieben stand:

 

A.30 / Robert Holms Brille und der damit zusammenhängende manische Markenschutz

 

Markenrechtlich geschützt waren das schwarze synthetische Material, dessen konkrete Zusammensetzung sowie die entsprechende Herstellungstechnologie. Desweiteren geschützt war das Logo Optyl und die Gestellform an sich, also das Zusammenspiel der Rahmenlinie mit den Bügeln und deren Verbindung mittels kleiner Metallgelenke.

Vor allem anderen jedoch markenrechtlich geschützt war die fünfstellige Buchstabenkombination, die den Namen der mailändischen Modemarke bildete: PRADA. Diese fünf für ganz bestimmte Zwecke vorgesehene Buchstabenkombination war kein anderer befugt zu verwenden.

Keiner! Nicht mal ein Kind!

Szymon prustete vor Lachen los. Zofia – deren blonde Ponyspitzen exakt auf Höhe des oberen Vitrinenrandes lagen, so dass sie Roberts schwarze Brille quasi Aug in Aug vor sich hatte –, Zofia also blieb nach Lektüre der obigen Aufschrift der Mund offen stehen.

Nachdem beide sich wieder gefasst hatten, überstürzten sie sich mit Fragen:

„Und deshalb wurde die Brille also … Moment mal … Vor dem Höchsten Gerichtshof?“

Ich legte meinen Finger auf die Lippen und führte die beiden aus dem Museum auf den Platz hinaus.

„Ich werde euch alles erzählen.“

 

3.

Robert hatte damals eine ganz bestimmte Angewohnheit. Während all seiner zahlreichen Meetings und Präsentationen pflegte er seine Brille regelmäßig ab- und wieder aufzusetzen. Dies tat er bestimmt gleich mehrmals pro Stunde. Man könnte vielleicht sogar behaupten, Robert habe seine Brille beim Arbeiten öfter in der Hand als auf der Nase gehabt, und zwar selbst dann, wenn es auf der Projektionsfläche irgendwelche Tabellen, Daten oder Visionen seiner Kunden zu begutachten galt.

Sobald Robert seine Brille in Händen hielt, machte er sich ans Untersuchen der Außen- und Innenseite der Bügel. Und nicht im Mindestens gab er vor, sich etwa für die Reinheit der Brillengläser zu interessieren, was noch verständlich gewesen wäre – putzt man sich doch die Brille, um danach besser zu sehen; und ein solches Brilleputzen steht keinesfalls für Desinteresse und Geringschätzung, sondern vielmehr für Interesse und Einsatz – worum es Robert jedoch mitnichten ging. Robert Holms Interesse galt in der Tat und völlig unverhohlen all den Aufschriften und Logos, also seinen bedruckten und gravierten Brillenbügeln. Was unhöflich war. Nichtsdestotrotz haben Robert Holms Auftraggeber ihn nie vor die Tür gesetzt. Und er wurde stets ordnungsgemäß bezahlt.

Robert war nämlich ein Meister seines Fachs. Und nicht nur das. Entscheidend ist meines Erachtens darüber hinaus die Tatsache, dass Robert ein halber Künstler war, zumindest in den Augen bestimmter Leute; womit ich keinesfalls behaupten will, dass es damals in Bezug auf Robert irgendeine Opposition gab, bestimmte Leute also, in deren Augen er wiederum kein Künstler war, sondern vielmehr lächerlich – nein, also das mitnichten; da würde ich schon lieber behaupten, dass Robert ein Künstler war, wie er im Buche steht, und zwar in den Augen aller. Aber ohne Weiteres eine solche Behauptung aufzustellen, wäre irreführend. Eine Analyse dessen erfordert Zeit. Waren Menschen von Roberts Schlag nun Künstler, nur halbe Künstler oder lediglich Kreative? Und gab es innerhalb der damaligen Gesellschaft wenigstens eine klitzekleine gegen diese Menschen gerichtete Opposition? Oder, anders ausgedrückt: Wo zum Teufel steckten während Roberts beruflichem Wirken die Antikapitalisten, und was – wenn es sie überhaupt gab – haben sie getan?!

„Ganz genau, meine kleine Zofia, da ist was dran. Keine Antikapitalisten weit und breit. Irgendwo da liegt der Hund begraben“, sagte ich, als wir nach unserem Museumsbesuch den Platz der Eleaten hinter uns ließen und fast schon zu Hause waren.

Robert konnte sich seine künstlerischen beziehungsweise kreativen Eigenarten, sein arrogantes Brillengetue und ähnliches einfach erlauben dank des allumfassenden Siegs des Kapitalismus. Für Aufsichtsrat-Mitglieder und Topmanager war Robert Holm eine Art genialer Idiot. Ein Beethoven des Marketings. Ein van Gogh der Public Relations.

„Jetzt aber zurück zu diesem alles entscheidenden Tag, in Ordnung? Und dabei dürft ihr auf keinen Fall Roberts Brille vergessen! Auf der PRADA geschrieben stand, nicht wahr? Na, dieselbe Aufschrift stand nämlich – allerdings in Gold und fast meterhoch – über dem Eingang des Gebäudes, dessen Drehtür Robert Holm mit ein paar weiteren Leuten an diesem Tag durchschreiten sollte.“

 

4.

Robert Holm und drei weitere Teilnehmer der Konferenz „China Brand Day“ schritten an diesem Tag zu einem späten Lunch. Der Umstand, dass das Logo auf Roberts Brille der fast meterhohen Aufschrift an der Shopping-Mall entsprach, in deren siebten Stock die kleine Gruppe seinen Lunch einnehmen wollte, war jedoch alles andere als zufällig.

Es handelte sich vielmehr um eine angeborene Vorliebe. Roberts Universum nötigte ihn, laufend um solch überaus ästhetisch … zugepisste Orte zu kreisen (man verzeihe mir meine Ausdrucksweise, denn worin unterscheidet sich schon des Menschen mit der Aufschrift PRADA versehenes Geschäft von des Hundes mittels Pisse markierter Mülltonne?!).

Also Roberts Aszendent. Und falls selbst Roberts Aszendent seine angeborenen Vorliebe für Shopping-Malls nicht hinreichend erklärt, dann füge ich noch hinzu, dass ständiger Bestandteil von Roberts beruflichem Wirken zudem sein fortwährender Kontakt mit dem Sternenhimmel war, mit einer ganzen strahlenden Galaxie in Form einer kleinen Füllfeder der Marke Montblanc bis hin zu einem großen Wagen der Marke Mercedes.

Robert Holm war, wie nicht wenigen Lesern bekannt sein dürfte, Markenspezialist. Ein Spezialist für den Aufbau von Marken und Warenzeichen, für deren Stärkung, Relaunch und Erhaltung. Für seinen Beruf hat Robert sich nie geschämt, wiewohl er im Grunde ständig das Gefühl hatte, vielleicht eines Tages dafür geringgeschätzt zu werden. Er fürchtete sich vor Stigmatisierung, vor Verachtung oder gar noch mehr. Dass es keinerlei Verdikt gab, dass man ihn weder bespuckte noch seinen Kopf forderte, lag zweifellos in diesem Dickicht begründet, das wir weiter oben vorerst nur gestreift haben. Menschen vom Schlage Robert Holms hatten in den ersten Jahren des dritten Jahrtausends keinerlei natürlichen Feinde.

Shopping-Malls gehörten zu Roberts Tagesgeschäft. Ein Gärtner mit seiner Gartenschere zum Beschneiden von Bäumen und Ernten von Früchten betrat seinen Garten nicht anders als der Markenspezialist Robert Holm irgendeine Shopping-Mall. Hier lag sein Labor. Seine Sternwarte, von deren klimatisiertem Erdgeschoss aus er ein sich über mehrere Stockwerke hinweg erstreckendes und ihm so nahes Himmelszelt betrachten konnte; einige der Sterne darin waren sein Werk, und solchermaßen konnte Robert in jeder Shopping-Mall weltweit darüber wachen, wie sein Werk wuchs und gedieh. Manchmal nahm er im ewig schönen Wetter einer Shopping-Mall seine Gartenschere und schnitt sich einen Zweig voll saftiger Pfirsiche ab. Zwar war diese Welt keine vollkommene, aber unter ihrem künstlichen Himmelszelt fehlte zur Vollkommenheit kaum etwas. Stellen wir uns das Ganze also als eine Welt unter einer Glaskuppel vor.

*

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk hatte wenige Jahre vor Roberts Reise nach Shanghai eine Abhandlung veröffentlicht mit dem Titel Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der terrestrischen Globalisierung.

In diesem Buch beschreibt Sloterdijk, wie die Entwicklung der damaligen globalisierten Welt zu einem Ende kam und das neu sich formierende kapitalistische System zum alles entscheidenden Faktor wurde, der schließlich die Lebensbedingungen aller Menschen auf der ganzen Welt prägen sollte. Ein Sinnbild für diese Entwicklung sieht Sloterdijk im Londoner Kristallpalast, einem Bau aus Glas und Stahl, den der britische Architekt Joseph Paxton für die erste Weltausstellung 1851 im Hyde Park errichten ließ. Besucher dieses größtenteils transparenten Gebäudes werden aus dem Staunen kaum herausgekommen sein. So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen: eine so luftige Leichtigkeit und so viel natürliches Licht, was man ohne Weiteres verwechseln konnte mit offener Ehrlichkeit.

Für Sloterdijk illustriert der Kristallpalast auf das Trefflichste die Architektur einer globalisierten Welt. Ihm zufolge hatte die Globalisierung die Welt zweigeteilt in anderthalb Milliarden Sieger, die in einer klimatisierten Welt unter einer durchsichtigen, aber undurchlässigen Glaskuppel lebten, und drei Milliarden Verlierern, die draußen bleiben mussten und dort unkontrollierbaren Natur- und anderen Katastrophen ausgesetzt waren. Drinnen Menschen im Glashaus. Und draußen zum Beispiel Syrer, die auf der Flucht aus ihrem kriegsgebeutelten Heimatland nach Europa angesichts dieser Glaskuppel im Mittelmeer ertranken.

Sloterdijk war ein großer Dichter seiner Zeit, und sein Sinnbild der Glaskuppel und des Lebens darunter scheint mir auch für meine Erzählung zutreffend. Denn auch die Shopping-Mall, die Robert Holm an diesem Tag zu betreten sich anschickte, war ein idealer Raum. Unter einer Kuppel künstlich erzeugte Frischluft, sanfte Easy-Listening-Musik und Ruhe.

So also sah sie aus, die Welt unter der Glaskuppel. In einer solchen Welt schwebte alles mindestens auf Augenhöhe.

 

5.

Es war vier Uhr nachmittags. Rechteckige, 150 Zentimeter hohe und 30 Zentimeter breite rote Banner mit der schwarzen Aufschrift „China Brand Day: International Forum on China Indigenous Brands and Brand Development, Shanghai, 5th – 8th May“ wehten an diesem Tag an sämtlichen die Shanghaier Hauptverkehrsadern säumenden Laternenpfosten und zogen ohne größeren Aufwand die Augen aller westlicher Menschen auf sich, die zwischen Flughafen und irgendeinem Hotel oder auf anderen Shanghaier Hauptstraßen unterwegs waren. Jeder Marketingspezialist musste die Leichtigkeit bewundern, mit der diese Banner ihren Zweck erfüllten. Damals war China ein Land, in dem alles zu gelingen schien. Und wenn chinesische Konferenzorganisatoren beschlossen hatten, die Augen westlicher Besucher auf ihre englisch beschrifteten Banner zu lenken, dann bitte: schon geschehen! Man fasste einen Entschluss, steckte sich ein Ziel, und mit Hilfe gut gewählter Farben erreichte man es auch.

Das Rot schärfte die Aufmerksamkeit der westlichen Besucher. Hunderte, gar tausende Meter roter Farbe ergossen sich wie Milch aus einer riesigen Kanne in die westlichen Köpfe, und zusammen mit diesem Rot fluteten die wichtigsten Informationen die Gehirne: Name der Veranstaltung, Veranstaltungsort, Veranstaltungszeit. Die Organisatoren des China Brand Day durften sich die Hände reiben. Robert hätte darauf wetten können, dass die westliche Aufmerksamkeit bereits durch das erste an der Flughafenausfahrt angebrachte rote Banner geweckt worden war. Auch darum reisten die Menschen aus dem Westen ja hierher: um dieses Rot zu sehen und all die anderen Überbleibsel des Kommunismus. In welchem Zustand musste sich so ein westliches Hirn befinden, wenn Speichelfluss ausgelöst wurde durch ein real chinesisches, kapitalistisches Beefsteak in einem trockenen kommunistischen Brötchen?

Damals jonglierten die Chinesen mit der gesamten doofen kleinen Welt. Die Verleihung des Titels „Größte globale Wirtschaftsmacht“ war hinfällig geworden, denn die Chinesen waren Dauer-Titelträger. Von den zwanzig größten Unternehmen der Welt waren laut Ranking „Make a Fortune 500“ die Hälfte chinesisch. China entwickelte sich in alle Richtungen. Unter Dutzenden chinesischen Städten wurden U-Bahnen in einem solchen Tempo gebaut, dass die Graphikdesigner nicht hinterherkamen mit dem Entwurf neuer U-Bahn-Pläne. Überirdisch schossen wiederum Sendemasten, Solaranlagen und Wolkenkratzer in die Höhe. Und das ganze Land glich einer Festtafel, deren Zierbänder neue Autobahnen bildeten und Trassen für Hochgeschwindigkeitszüge. In Wissenschaft und Forschung wurden Milliarden von Yuan investiert, und wer eine der prestigeträchtigen chinesischen Universitäten besichtigte, der sah etwas, was es in anderen Teilen der Welt damals kaum noch gab, nämlich hervorragend ausgestattete Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Und weil China beschlossen hatte, aus einem der beiden Verfasser des Kommunistischen Manifests eine Ikone und einen Exportschlager zu machen, so geschah auch das. Entsprechend stiftete man beispielsweise zu Marx’ Ehren ein Denkmal in seiner Geburtsstadt Trier – ganz als ob man auf dem europäischen Schachbrett seinen König zu positionieren trachtete.

Und doch war nicht alles so, wie es schien. In Shanghai weilten an diesem Tag wenigstens ein paar Dutzend Experten, die ganz genau wussten, dass die vielen oben und unten mithilfe von Aluleisten am übermäßigen Flattern gehinderten roten Banner dennoch bebten vor lauter Schrecken und Nervosität. Trotz des Anscheins lag eine Bürde auf der Stadt. Ganz China wartete gespannt darauf, was diese Shanghaier Konferenz bringen würde. Informationen über die Konferenz waren bereits vorab verbreitet worden in den Nachrichten des staatlichen chinesischen Fernsehens CCTV. In den Pekinger Hutongs schlurften die Alten in ausgetretenen Lederpantoffeln herum und schimpften über die „verfluchte Markenwelt“.

Damals war China auf wirklich allen Gebieten erfolgreich. Außer auf einem. Während sich das vier Millionen Einwohner zählende Dänemark auf dem Show-Kai mit Handelsmarken wie Bang & Olufsen, Maersk, LEGO®, Carlsberg, JYSK und Ecco brüsten konnte, hatte China – wenn man einmal absah von den Marken Karl Marx und Kommunistisches Manifest – nur irgendeine Firma namens Tencent bieten. Zweifellos erwirtschaftete Tencent in China und darüber hinaus Milliarden von Dollar, aber das menschliche Hirn blieb von der Marke Tencent unberührt, es sehnte sich einfach nicht danach. Desweiteren gab es Baidu, Alibaba, Huawei, Lenovo … Damit war der Vorrat wertvoller chinesischer Marken aber auch schon erschöpft.

Welch trauriges Bild. Huawei war ein Handy für den osteuropäischen Markt. Hervorragend ausgestattet und schnell. Aber hielt irgendein Huawei-Besitzer sein Handy auf der U-Bahn-Rolltreppe stolz so, dass jeder in Gegenrichtung Fahrende es auch erkennen konnte? Das US-amerikanische iPhone hingegen stand für den Logos an sich, und für alles andere musste man sich schämen. Der US-amerikanische Logos, made in China. Genau darin lag das chinesische Verhängnis. Die US-amerikanische Marke Dr. Scholl’s, spezialisiert auf Schrundenbeseitigung, war eine Marke mit weit größerem Impact als selbst das Schmuckstück irgendeines chinesischen Unternehmens. Kein Mensch träumte von der Internet-Plattform Alibaba. Lediglich Lenovo entwickelte sich zum chinesischen Markenhit – allerdings zum einzigen. Dennoch musste auch Robert feststellen: „Wenn schon irgendwer von einem Lenovo träumt, so hat selbst derjenige wohl eher die US-Marke IBM vor ihrem Verkauf an die Chinesen im Sinn.“ Interesse zu wecken, das gelang den chinesischen Firmen und Werbeagenturen durchaus. Eine wirkliche Sehnsucht jedoch nach Immateriellem und Flüchtigem, das nicht.

Dem Begleitmaterial zur Konferenz war das zwar nicht zu entnehmen, aber der chinesische Tiger, der tobte. Und verkündete den chinesischen Film, das chinesische Jahrtausend. Das Einzige, was ihm im Weg stand, war die „fucking world of brands“, diese verfluchte Markenwelt! Der chinesische Tiger beherrschte weltweit alles: Wiesen, Wälder, Wüsten, die Wissenschaft, die Forschung, die künstliche Intelligenz. Aber was die Welt der Marken anbelangte, so sah sich der chinesische Tiger überhäuft von Nadeln, die von irgendeiner euroamerikanischen Kiefer rieselten.

Dank dessen durfte Robert sich in China wohlfühlen, gebraucht fühlen, vielleicht sogar überlegen fühlen. Europäer, denen es vergönnt war, sich im damaligen China solchermaßen zu fühlen, waren mittlerweile eine ziemliche Seltenheit, so etwas wie allerletzte Mohikaner. Produzenten der Sehnsucht eben. Glückskinder, die in einem allerletzten geschützten Bereich arbeiten durften, der der ganze Stolz des chinesischen Wirtschaftswunders war, und in dem sich diese Glückskinder tummeln konnten wie Freibadbesucher nach Kassenschluss, die ansonsten ein Leben mit bedingungslosem Grundeinkommen hätten führen müssen, wie damals die trendige Bezeichnung lautete für das faktische Subventionieren von nicht in Arbeit zu bringenden Menschen.

Roberts Magen knurrte, und ein wenig plagten ihn auch ein paar andere Sorgen einschließlich des Älterwerdens – aber das alles ließ sich aushalten. De facto fehlte Robert beim Durchschreiten der Drehtür der Upscale-Shopping-Mall Iapm im Viertel Puxi so gut wie gar nichts. Er hatte Arbeit und verdiente gutes Geld, wiewohl er weder ein Chinese noch irgendeine künstliche Intelligenz war. Und im Inneren dieser Shopping-Mall, in deren siebten Stock, erwartete ihn ein äußerst delikates Entenconfit.

 

6.

Insbesondere aufgrund Shanghais kolonialer Vergangenheit zeichnet sich der westliche Einfluss an jeder Straßenecke ab, und das Stadtviertel Puxi gehört zu den europäischsten überhaupt. Vom Verkehrsknotenpunkt Shaanxi South Road, dem Geschäftszentrum des Viertels, gehen zahlreiche kleinere Straßen ab, die gesäumt werden von zumeist zweigeschossigen Gebäuden, die zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert auch von europäischen Architekten entworfen worden sind. Die hier wachsenden Platanen formen Alleen, die den darunter liegenden Auslagen von Boutiquen ausreichend Schatten spenden, und auch den Cafés, in denen in minimalistischen Vasen jeweils eine Blume steht mit langem, nacktem Stängel auf Tischplatten aus Grobspan, der stumm für die europäische Ausweglosigkeit steht. Darüber empathisch und unschuldig die Platanen.

Das Treiben um die U-Bahn-Station Shaanxi South Road entspricht dem Treiben in beliebigen Großstädten weltweit. Die hiesige siebenstöckige Shopping-Mall liegt direkt vor ihnen. Und wiewohl nur ein paar hundert Meter entfernt minimalistische Interieurs ihren trügerischen Traum von Exklusivität träumen, haben sie auf diesen belebten Ort lediglich eine Wirkung: die Steigerung des Lebensgefühls. Nur wer in der Wüste ein paar Straßen weiter dem höllischen Getöse einer Kaffeemaschine ausgesetzt war, weiß die Ernsthaftigkeit und Relevanz des hiesigen Massengehupes zu schätzen.

Robert steht bei Rot an der Ampel. Wie immer arbeitet sein Gehirn und ist überaus aktiv; wenn Robert etwas Exklusives erleben will, so malt er es sich aus. Es freut ihn, dass er hier auf Grün warten muss. In den vergangenen zwanzig Jahren hat er die halbe Welt bereist. Er hat Städte besucht, in denen es keinerlei Ampeln gab; das hat er x-mal erlebt, das braucht er nicht mehr. Er kennt diese kindliche Freude, die sich einstellt, sobald man umgeben von Ortsansässigen versucht, eine vielbefahrene vierspurige Straße zu überqueren, als spränge man in die aufgewühlte See beim Cabo de São Vicente. Für Europäer sind solche Sprünge ein Spektakel. Bei dem natürlich auch der Nervenkitzel zählt. Die Größe der Wellen. Robert kennt die Bedeutung solcher Erlebnisse. Die Kenntnis des menschlichen Wesens ist eine Grundvoraussetzung für seinen Beruf. Große Wellen für große Kinder. Gibt es eine bessere Definition für Shopping-Malls?

Robert, Urheber dieser Definition, hat keine geringe Meinung von sich selbst. Sein Geist entspricht dem eines Kolonialisten. Dabei ist Kolonialismus schon längst nicht mehr das, was er mal war; die kolonialistischen Methoden sind mittlerweile wesentlich kultivierter. Das sieht dann zum Beispiel folgendermaßen aus: Robert weiß, dass der Kolonialismus eine unverzeihliche Ungerechtigkeit gewesen ist, ein Resultat übertriebener westlicher Arroganz, was er nicht müde wird, überall in China zu betonen. Hier lässt er von chinesischen Angelegenheiten die Finger, erteilt keinerlei Ratschläge und weiß von nichts. Robert ist ein besserer Mensch (und besserer Kolonialist) als all seine europäischen Vorgänger. Robert hält in jeder Hand eine Machete: Die eine ist klassisch souverän und kennt sich aus bei Gesprächen über Marken; die andere weiß nichts und wirkt recht bescheiden, ja ahnungslos, sobald das Gespräch darauf kommt, wie Chinesen ihr Land in den Griff bekommen könnten. Mit diesen beiden Macheten also fuchtelt Robert in China je nach Bedarf herum und kämpft sich ungehindert und mit doppelter Geschwindigkeit voran. Warum er das macht, weiß er nicht, aber was er weiß, ist, dass er diese koloniale Technik niemals wird ablegen können. Sein Wissen ist Macht. Aber auch sein Unwissen ist Macht.

Wäre ihm als Waffe auch eine absolut korrekte Nichteinmischung genehm? Also das Wissen darum, den Konkurrenten schlicht dadurch ausscheiden zu lassen, dass er sich in den eigenen blöden Schwanz beißt?

 

 

aus dem Tschechischen von Doris Kouba