Das indigoblaue Band

Damals, als wir begannen zusammenzuleben, oder schon eine Zeit zusammenlebten, aber noch nichts so gewiss schien, fragtest du mich einige Male, warum ich überhaupt bei dir sei. Du saßt im weißen Sessel bei der Bücherwand, über deinem Kopf wiegten sich im sanften Luftzug die bunten Lesezeichen, die aus den Büchern ragten, und du fragtest: Warum bist du eigentlich bei mir? Ich habe gelächelt und die Aussage verweigert, oder vielleicht eine Dummheit rausgehauen von der Sorte, wer viel fragt, erfährt viel. In Wahrheit traf mich die Frage durchaus ein wenig, es enttäuschte mich, du könntest wirklich denken, das alles hätte womöglich einen konkreten Grund, den ich aus der Großen Kartei der Gründe hervorziehen, ihn dir zeigen und zurückordnen könnte, etwa so, wie man eine Karte behutsam in den Tarockstapel zurücksteckt. Warum ist einer von uns eigentlich beim andern? Du wolltest wohl eine Eigenschaft von dir hören, die dir besonders wünschenswert erschien, wäre sie auch für mich noch so unbedeutsam, oder ich sollte den bunten Strauß an Freuden erwähnen, den mir der Glanz deiner Jugend und die Kelche deines Körpers bringen. Aber geschwiegen hab ich und gespürt, dass ich wirklich aus keinem bestimmten Grund bei dir war, aber dass es wohl schon seinen Zweck habe, dass es so sein solle und dass dazu weiter nichts zu sagen sei.

Wenn ich nun beschließe, doch zu sprechen, dann aus Gründen, die so leicht nicht zu erklären sind. Wir glauben, dass Fragen des Herzens ohne ihre Antworten bleiben, aber vielleicht verpassen sie sich auch nur fatal in der Zeit. Anstatt an jenem frühen Abend dem Ariadnefaden meiner eigenen Worte zu folgen, die sich durch das Labyrinth wanden, in dessen Mitte das schöne Ungeheuer wohnt, stumm, nahm ich ein Buch aus dem Regal und öffnete es dort, wo ein indigoblaues Band die Seiten teilte. Eine gewisse Kontinuität der Verzweiflung bringt schließlich Freude hervor. Und dieselben Männer, die im Kloster von San Francesco vor roten Blumen leben, haben in ihrer Zelle den Totenschädel, der ihre Meditationen nährt… Wenn ich nun fühle, dass ich mich an einem Wendepunkt meines Lebens befinde, dann nicht durch das, was ich erreicht, sondern durch das, was ich verloren habe. Das hatte ich einstmals in den Notizbüchern Albert Camus‘ gelesen, aber die von den Worten aufgewühlte Luft gesellte sich nur der sanften Brise bei und wehte hinaus in die Gärten, wo sie den grünen Duft des Grases annahm. Wir schauten uns an und ahnten, dass ich aus der Lostrommel der Zeit die Antwort auf eine andere Frage gezogen hatte, als auf die von dir gestellte. Inzwischen weiß ich, dass es die Antwort war auf eine Frage, die ich dir nach ein paar Jahren immer und immer wieder stellen sollte: Warum gehst du von mir fort? Aber du schwiegst. Du spürtest wohl, dass es aus keinem bestimmten Grund war, aber dass es wohl schon seinen Zweck habe, dass es so sein solle und dass dazu weiter nichts zu sagen sei.

Und das ist eigentlich alles. Ich sag es euch lieber direkt, damit ihr nicht unnötig gespannt seid. Es ist nur eine weitere Geschichte, die geliefert werden muss, die zurückgegeben werden muss, durchlebt.

 

Toskana

Wir fallen tausend Kilometer gen Süden.

Brünn – Wien – Graz – Villach – Udine – Padova – Bologna – Schläfrigkeit.

Ich fahre und du fütterst mich mit den ersten Zwetschgen. Ich fahre und du legst CocoRosie auf und Charlotte Gainsbourg. Ich fahre und du blätterst durch den Taschenführer und pickst Wissenswertes heraus. Ich fahre und du sagst, dass du dich daheim mit deiner Mutter gestritten hast, du wägst ab, ob du ihr nicht schreiben solltest. Ich fahre und du wirst zum Hörbuch.

Die erste italienische Nacht. Wir parken in der Kurve einer Nebenstraße am Rand einer Weide, aus der Dunkelheit hört man die Kühe muhen. Wir recken die starren Körper, zuerst ein jeder für sich und dann gegenseitig, es knackt in deinem Rücken über meinem. Wir essen die letzten belegten Brote von daheim, und da es kühl wird und man sowieso nirgendwohin kann, gehen wir ins Auto zurück. Du angelst im Koffer nach einer Creme, auch wenn wir uns geeinigt hatten, dass man für einen Ausflug wie diesen im Grunde nur Unterhosen, Handy und Kreditkarte braucht. Wir klappen die Sitze um, vor uns breitet sich der Himmel aus wie eine Filmleinwand. Eine orange-violette Wolke vor uns ergänzt die Form des Berges zu einem geometrischen Ganzen, als brauchte auch die Welt ihre Gestalt.[1]

„Bei dir fühl ich mich sicher“, sagst du. Die Lichter eines vereinzelten Wagens, der hinter uns durch die Kurve fährt, tasten sich durch unser Schlafzimmer, am Himmel erscheint ein erster Stern.

Es geht um das Ferienende, um eine Hochzeitsnacht / oder ein nächtliches Verhör. Um das Gefühl einer Versicherung / oder einer Strafe, schreibt Vladimír Holan in Toskana.

Ja, es ist Ferienende. Du hast ausgeblichene Haare, wie kein Friseur sie tönen könnte, sondern nur Wasser und Sonne in wiederkehrenden Zyklen, und um die Nase Sommersprossen, deren Unmengen ich nicht zählen kann, so wie wir nicht die Sterne zählen können auf dem Gesicht des Weltalls.

 

 

2.

Wir erwachen früh am Morgen. Dichter Tau liegt auf dem Gras und die Kühe kommen, uns von Nahem zu betrachten. Hinter uns fährt ein Traktor vorbei, und als der Fahrer dich erblickt, weißer Schaum um den Mund, brummelt er überrascht etwas vor sich hin. Vielleicht begreift er nicht, dass du dir nur die Zähne geputzt hast.

Lucca (die Stadt, die im ersten Satz von Krieg und Frieden vorkommt).

Die Piazza Napoleone, Platanen und der erste italienische Kaffee. Genauer gesagt cappuccino, caffè americano e brocca d’acqua, per favore. Als du im Innern des Cafés bestellst, wissen es alle. Das Anita Ekberg-Syndrom.

Holan: Um sie herum ein paar Alte / lutschten am Süßholz der Lüste.

„Hier wären wir also“, bemerkst du.

Hier: ein Haus mit schmiedeeisernem Gitterwerk an den Balkonen, die so schmal sind, dass man darauf nichts weiter tun kann als Blumen pflanzen. Hier: alte Räder, an die umliegenden Bäume gelehnt, Räder, von denen man noch im Fahren herunterspringt, mit einer Hand am Lenker und der anderen schon gezückt zum Gruß der Freunde. Hier: Platanen mit blättriger Rinde und Beulen an den Stämmen, so beschnitten, dass sie eher in die Höhe als in die Breite wuchsen und einen Baldachin über dem obersten Stockwerk des Hauses bildeten. Hier: jene Häuser mit den einfachen Sandsteinfassaden und den schmalen Fenstern, von dunkelgrünen Läden verdeckt. Etwas schmucker das Hotel Universo, aus dessen Fenstern man auf die Statue Giuseppe Garibaldis schaute, und gegenüber dem Hotel Universo, schäbig, die Bar Astra.

„Gut, was?“ zeigst du.

„Stell dir mal vor, du verliebst dich in jemanden in der Sternbar“, sagte ich, „und am nächsten Tag wachst du mit ihm in einem Zimmer vom Hotel Weltall auf.“

„Und stell du dir mal vor, dass du von jemandem das ganze Hotel Weltall vererbt bekommst, aber alles Vermögen gegenüber in der Sternbar versäufst.“

„Wir sollten Drehbücher zusammen schreiben.“

Über die zwölf Meter hohen Stadtmauern, die die Stadt umringen, traben braune Männer in Shorts durch die Dreißig-Grad-Schwüle, immer wieder kontrollieren sie die Uhr an ihrem Handgelenk. Mit unseren Zwischenzeiten ist es nicht weit her. Wir schlendern durch die Kastanienschatten und grübeln, ob wir Rad oder Roller leihen sollen, um die Luft aufzuwirbeln, und wohin dann zum Mittagessen. Es gewinnt die Piazza dell’Anfiteatro, ein kreisrunder Platz, der seine Form von einem alten römischen Amphitheater geerbt hat. Eine gezackte Häuserlinie, die vom azurblauen Himmel abbeißt. Schau her: Ein Fenster mit geöffneten weißen Läden, in dessen einer Hälfte sich ein dunkles Zimmer verliert und dessen andere von einem weinroten Vorhang verdeckt wird. Dort müsstest du stehen und ich müsste hinter dir stehen, ich lutsche aus Langeweile mein eigenes Holz der Lüste und schlürfe mit dem Strohhalm vom Sprudel.

„Dieses Appartement hat sich ein japanisches Paar gemietet“, sagst du, wohl weil es scheint, als paraphrasiere der weiße Fensterladen mit dem roten Vorhang die japanische Flagge.

 

3.

Tirrenia, Sunset bar.

Und tatsächlich: knapp nach Sonnenuntergang. Man sitzt hier auf Bambusmatten, aus Schüsseln flackern Feuer so wild, als versuchten sie, die dicken Dochte aus dem Wachs zu reißen.

Ein dunkles Meer und der dunkelnde Himmel darüber.

Weiter: ein kleines Mädchen im bauschigen Kleid, das zwischen den einzelnen Boxen mit Bambusmatten umhergeht und mit einem Stöckchen das Feuer auf alle Schüsseln pfropft, die noch nicht brennen. Dann bückt sie sich, greift eine Handvoll Sand und hat in einem endlos langen Augenblick, der in Wahrheit Gegenwart heißt, mit Sand eine Flamme durchsiebt, Körnchen für Körnchen, ganz so, als wolle sie in dieser Gegenwart drinnen die Zeit erfinden. Die Zeit ihres Mädchenlebens, aus dem das Leben einer jungen Frau, dann einer Erwachsenen wird; die Zeit ihres Lebens, da es darum gehen wird, wer das Rennen macht: der Sand erstickt das Feuer, oder das Feuer schmilzt aus dem Sand durchscheinendes Glas.

Wir sind wortkarg, aber jeder aus seinen eigenen Gründen.

Das Meer zuckt ein paar dutzend Meter von uns entfernt wie ein Raubtier an der Kette.

 

4.

Wir kampieren gleich gegenüber der Sunset Bar. Aber jetzt ist es Morgen und die Sonne geht auf. Gleichzeitig geht sie am blassen Himmel und an der Zeltwand auf.

Du schläfst mir zugewandt, von Nahem betrachte ich deine halb geöffneten Lippen. Es entsteigt ihnen ein Atem aus Gummi, schwer, aber biegsam.

Ein Mensch erwacht und sieht auf das schlafende Gesicht dessen, den er liebt, und weiß nicht, was anfangen. Er sieht auf das schlafende Gesicht dessen, den er liebt, und nur als der Schatten von etwas Unbekanntem streift ihn das Gefühl, er müsste doch ein weiteres Mal erwachen, um in jenem Gesicht wirklich sein eigenes Gesicht zu erblicken. Ich betrachte deine Wimpern, an den Wurzeln dunkel, aber schon drei Millimeter von ihrem Bett im Lid erblassen sie schlagartig. Ich betrachte das Häutchen, das sich in den Winkeln deiner Augen abgelagert hat, die sich unmerklich öffnen und halb wieder schließen, als die letzten Wellen des Schlafs über dich hinwegrollen. Ich betrachte deine Brauen und bekomme Lust, mit dem Finger gegen ihre Wuchsrichtung zu fahren und zu beobachten, wie die restlichen Haare wieder ihre ursprüngliche Neigung suchen. Ein Wunder, dass ich nicht in die Nasenlöcher schaue oder dir mit einem scharfen Fingernagel die Haut von der Schläfe löse und nachsehe, was darunter ist. Ich müsste natürlich eine Trepanation des Schädels durchführen, überlege ich.

Du schläfst mir zugewandt und ich bin wie ein kleiner Junge, der glaubt, dass, wenn er die Taschenuhr zerschlägt und sich die winzigen Rädchen in ihrem Innern nur ordentlich beschaut, er das Wesen der Zeit schon noch begreifen wird.

 

5.

Komm, tun wir lieber wieder so, als wären wir Touristen. Pisa, notiere ich.

Dein Part: Du streichelst die Grashalme und sagst versonnen im Schatten des schiefen Turms: „Die angenehme Zeit des Tages ist, wenn ich mir morgens aussuche, welche Unterhose ich anziehe.“

Baptisterium, Dom und Turm wirken heute Morgen so zerbrechlich und leicht, als wären sie aus Zucker, oder als wären sie von einer Filmproduktion hier vergessen worden. Wir sitzen auf dem Gras und verfolgen die Gender-Unterschiede, die sich bei der Inszenierung der obligatorischen Fotografien äußern: Männer drücken gegen den Turm, damit er fällt, und Frauen stützen ihn. Ich schließe die Augen halb und du rahmst dir die Aussicht mit Händen. Es ist folgendermaßen: Die Männer drücken mit aller Kraft ins Leere, während ihre Partnerinnen versuchen, sie in allen möglichen Sprachen der Welt hier nach links, dort nach rechts zu schieben, damit die Komposition hinhaut, während kaum einer einfällt, sie könnte selber ein Stück rücken. Frauen wiederum nehmen eine Position ein und strecken die Hände und stützen eifrig, lächelnd und in verspiegelter Sonnenbrille. So irgendwie entsteht ein komisches Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern, sichtbar allerdings nur im idealen Raum all der Fotografien, die hier entstehen: wir drücken ins Leere und stützen die Leere.

Du kannst es dir nicht verkneifen und gehst dir diese sonderbare Choreografie von oben ansehen, aus der einzigen Perspektive, aus der heraus dieses menschliche Gewimmel hoffentlich Sinn ergibt.

Dann suchen wir in der Stadt jene Aufschrift, die Camus sich von einer Pisaner Wand notierte: Alberto fa l’amore con mia sorella. Nur dass Alberto, die sorella und jener, der dies schrieb, letzten Endes auch Albert Camus, dass all die längst tot sind und von ihrem Liebesabenteuer keine Spur mehr ist. (Um drei Liebesabenteuer handelt es sich: das jener, die sich lieben, das jener, die sich lieben, mit dem, der es über sie sagt, und das jener, die sich lieben, und dessen, der es über sie sagt, mit Camus, der all dies verzeichnet. Genau genommen vier: denn wir finden sie hier jetzt schon nicht wieder und sind darüber traurig.)

Wir sind traurig und haben Hunger. Der ältere Gemüsehändler in der Schürze packt gerade seinen Stand zusammen. „Quattro pomodori?“ lächelt er dir zu. „Va bene! Ciao!“ Geld lehnt er energisch ab.

 

 

6.

Am frühen Abend zuckeln wir über die schmale Uferstraße, so langsam, dass uns die Mopeds überholen. Von der einen Seite duften die Pinienhaine, dahinter klatscht die Sonne immer wieder auf die Masse des Meers. Auf der anderen Seite zieht sich eine Reihe Bungalows, Campingplätze und Restaurants dahin. Deinen Sitz hast du so weit wie möglich hinuntergelassen und die Beine oben aufs Armaturenbrett gestreckt, eine große Sonnenbrille auf der Nase, der Wind geht dir durchs Haar. Charlotte Gainsbourg singt ihren Hit „Heaven can wait“, der die offizielle Hymne unserer Reise geworden ist, und du stimmst hie und da mit ein. Wir fahren immer weiter, wir verschieben die Unterbringung in der Hoffnung, dass uns dort, noch weiter, etwas Besonderes erwartet, aber natürlich haben wir keine Vorstellung, was das wäre. Was Besonderes halt, wäre uns recht. Heaven can wait.

Es wird ein Campingplatz, dessen Kojen ausschließlich durch blühende Rhododendronbüsche gebildet werden. Wir belegen eine kleine dreieckige Koje am Keil zweier Wege. Du kochst und ich baue das Zelt auf.

Und die Zikaden drehen voll auf.

Nach dem Abendessen nehme ich deine Hand. Auf den Hauptwegen des Campingplatzes gehen gerade die Lampen an, wir schlendern durch diese paradiesisch erblühte Stadt und schauen die göttliche Welt: Hier spielt in einem von Grashalmen zerfransten Rechteck aus Licht ein altes Ehepaar Karten auf einem kleinen Klapptisch und unter einem Stuhl keucht ein kleiner weißer Hund mit kleiner rosa Zunge. Halleluja. Hier rüstet sich eine italienische Großfamilie zum Abendessen, eine korpulente Frau schöpft Nudeln aus einer riesigen Schüssel, ihr ausgemergelter Mann öffnet eine Flasche Weißwein und auf großes Geschrei hin laufen die Kinder aus allen Himmelsrichtungen zusammen. Halleluja. Auch hier macht man sich zum Abendessen bereit, aber erst wird gegrillt, ein gebräunter Junge bestreicht Fleischstücke mit Öl und hinter den erleuchteten Fenstern eines Caravans tauchen zwei Mädchen auf, die nach allem zu schließen gerade vom Meer kommen, denn als eine der beiden auf der Veranda erscheint, hat sie nasse Badeanzüge in der Hand und schüttelt die Haare. Halleluja. Hier liest man gemeinsam, jeder sein Buch, ein Glatzkopf mit Brille schaut und nickt zum Gruß, als wir an ihnen vorbeikommen, und auch die Frau in geblümten Kleidern sieht uns freundschaftlich an. Halleluja. Hier steht ein Caravan mit österreichischem Kennzeichen und welch Wunder, von hinter dem erleuchteten Fensterchen mit dem gerafften Vorhang ist wirklich gedämpft Mozarts Requiem zu hören – für eine Weile halten wir inne und lauschen, wie die Chöre das Rex herausschreien, schlicht unpassend und doch so überzeugend inmitten dieses Mittelmeerabends. Halleluja.

Einer würde heulen und eine würde es nicht verstehen.

 

 

7.

Die Rhododendronblüten schließen sich sanft zur Nacht, wir nicht.

Wir sitzen im Auto und legen Philipp Glass auf. Hinter der Vorderscheibe steigt der Mond am Himmel. Ich nehme deine Hand in meine, erforsche deine Finger Glied um Glied, ertaste deine Sehnen und deine Knöchelchen unter der Haut. Wie lange die Evolution wohl gebraucht hat, bevor aus einer Flosse des Urozeans ein Flügel wurde, aus dem Flügel der tierische Gang und daraus die menschliche Hand und jetzt ist das deine Hand. Nur dass du Bescheid weißt. Und ich nehm sie in den Mund und beiß dich in die Knöchel und mit der Zunge fahr ich dir über die Reste der Schwimmhäute, die du zwischen den Fingern hast, denn auch du, Liebling, auch du stammst vom Meer. Und eine schöne kleine Meereskreatur bist du, denn du versuchst mich an dieser Zunge zu packen, und als es dir nicht gelingt, zwickst du mir wenigstens in die Backen. Aber das darf man natürlich nicht, jungen Männern in die Backen zwicken, und so zieh ich dir zur Strafe das Unterhemd aus und neben dem Vollmond schwingen die zwei Halbmonde des weißen BHs aus, die fürchterlich schnell anwachsen, als ich ihn dir ungeduldig abstreife.

Und so lieben wir zwei uns.

Gewöhnlich verbeißen wir uns ineinander wie ein Vampirpärchen, du neigst dich meinem Hals zu und durchtrennst meine Schlagader und ich tu das Gleiche und so sind wir ineinander verhakt, bis einer den anderen trockengesaugt hat. Aber an diesem Abend nehmen wir unsere Körper anders wahr, wir nehmen sie als das, was sie irgendwo tief in den Zellen wirklich sind: Ausdruck einer völlig anderen Wahrheit, die mit uns nichts gemein hat.

Wir wechseln ins Zelt, die Körper von einem Schweißfilm bedeckt wie von einer lichtempfindlichen Emulsion. Wir gleiten übereinander wie zwei Hälften eines eingelegten Pfirsichs, den man am Fließband halbiert hat, um den Stein herauszuziehen. Wer sind wir, meine Liebste? Bloß Mann und Frau, verraten in ihren physischen Sehnsüchten und ihren metaphysischen Hoffnungen. Wir streicheln und suchen uns. Wir durchsuchen jeden Winkel unserer Körper, überall sehen wir mit der Zunge hinein und lecken, um auch das zu sagen, was unaussprechlich ist, und versuchen den verlorenen Stein zu finden, den wir wie das verlorene Schem wieder in unsere Mitte setzen würden und diese blitzschnell mit glatter Muskulatur überwachsen lassen. Und einen Moment lang habe ich das Gefühl, diesen Stein wirklich zu spüren, ihn völlig in dich gesunken auf deinem Grund zu spüren, wo die Scheidenmuskeln verwachsen. Aber ich wüsste nicht, wie ihn herausziehen, und so klopfe ich nur an ihn, wie wenn man mit einem Hämmerchen Nüsse knackt, stark genug, dass die Schale platzt, aber nicht so stark, dass es den Kern zerschlüge.

Nur dass auf dieser Welt alles eine einzige Fratze ist. Weißt du das? Die Segeltuchbehausung unserer Liebe ist nicht fest genug überwölbt. Genauer gesagt, die Konstruktion unseres Zelts rechnet nicht damit, dass sie von dir gepackt wird wie das Kopfende des Betts, wie du es gewohnt bist. Und so stürzt es auf uns ein, als wir gerade gut dabei sind, und aus heiterem Himmel sind wir wie eine Fledermaus, eingewickelt in ihre eigenen Flügelhäute.

Als wir uns herauswinden, herrscht bereits überall völlige Stille, nur die Zikaden zirpen weiter in die Nicht hinaus.

Es klingt, als fahre die ganze Erdkugel soeben im Leerlauf durchs Weltall.

 

Die dargestellte Welt

Was gibt es hier eigentlich noch Unbekanntes? Ich sitze auf einer Bank und warte, bis du erscheinst, und versuche zwischenzeitlich etwas zu finden, worüber nur ich reden könnte. Es ist angenehm, wie mir die Sonne aufs Gesicht fällt, aber das Wetter ist es schon mal nicht, das Wetter entspricht der Vorhersage und den meteorologischen Modellen, unnötig also, es zu beschreiben. In alle Richtungen queren Menschen den Platz, den ich fassen könnte, wäre er nicht längst erfasst, in Katasterkarten, auf Bildern, auf Kameras, sogar im Wandel der Zeit. Ich könnte die Fassaden der umliegenden Häuser beschreiben, aber es gibt Visualisierungen dazu, architektonische Pläne und eine Unmenge technischer Zeichnungen mit Ingenieursnetzen, ganz zu schweigen davon, dass alle Materialien, die während des Baus verwendet wurden, den leicht nachzuschlagenden ISO-Normen und technischen Spezifikationen entsprechen. Unmittelbar vor mir steht ein Brunnen mit einem Vers von Jan Skácel, man könnte ihn zitieren, ja rezitieren, aber diese Verse stehen schon in anderen Büchern, und über Leben und Werk des Dichters gibt es weitere Bände und die haben sie in der Bücherei fünfzig Meter von hier. Hinter mir bellt ein Hund, den jemand für eine Weile dort angebunden hat, ein Stück Natur, könnte man sagen, aber allein im letzten Jahr sind auf der Welt wohl sechshundert Dissertationen über Hunde erschienen und rund fünftausend Fachartikel publiziert worden. Vom Kind am Brunnen lieber erst gar nicht anfangen, sein niedliches Gesichtchen ist in Wahrheit Kampfplatz von Experten, Pädiatern, Entwicklungspsychologen, Pädagogen, Diätologen, Juristen und Bildungsberatern, die ihr Wissen durchs Pauspapier der Eltern in den Körper des Kindes hindurchschreiben.

Und all das ist nur die alte Welt, der materielle Korpus, der Baumstumpf, der unlängst von digitalen Flechten überwuchert wurde. Ich könnte von den Menschen reden, sicher, aber jeder zweite hat ein Smartphone in der Tasche, das mehr als genug über ihn aussagt, seine genaue Position in mehrere Applikationen gleichzeitig hinaussendet, und diese paaren sie je nach Algorithmus mit anderen Informationen, zum Beispiel mit den Freizeitaktivitäten und den sexuellen Präferenzen der Klienten der gleichen Dating-Plattform, von der ich nicht einmal weiß. Von jedem Menschen existiert eine unglaubliche Menge an Daten, zu denen er keinen Zugang hat, im besten Fall hat er nur vage ihrer Anhäufung und Verarbeitung zugestimmt, die freilich schon längst nicht mehr vage ist. Es ist die Frenesie der Beschreibung, ringsum einzig binäre Codes, indizierte Skripte und Algorithmen in voller Tätigkeit, nicht wie der Trupp Arbeiter ein Stück weiter, die sich mir nichts, dir nichts gegen ihre Schaufeln lehnen und sich nach Mädels umschauen. Die Nische dieses Platzes wird potentiell eingefasst in einer erschöpfenden multidisziplinären Studie, es würde schon genügen, die verfügbaren Daten passend zu kombinieren, oder besser gleich ein Programm zu schreiben, das es dann mit allen anderen Plätzen auf der Welt durchführt. So ist das, ich sitze auf einer Bank inmitten eines gänzlich beschriebenen Umfelds, und ich könnte auf jedweder anderen Bank auf der Welt sitzen und es wäre genau gleich. Ein ziemlich langer zivilisatorischer Prozess war das von der Erfindung der Schrift bis zum Web 3.0, aber die Aufzeichnung der Wirklichkeit ist im Grunde vollendet. Der nächste unausweichliche Schritt wird ihre Überschreibung sein, sei es durch Eingriff in den genetischen Code, mithilfe von Biotechnologie, Nanotechnologie und Kybernetik, sei es durch Nutzung der virtuellen Realität an sich.

Gönnen wir uns einen Schluck Nostalgie. Einst glich die Arbeit des Schriftstellers der Tätigkeit von Anthropologen. Wir beschrieben Welten und das menschliche Verhalten in ihnen. Bronisław Malinowski, einer der Begründer der Anthropologie, riet seinen Schülern, im Feld alles zu verzeichnen, was von Wichtigkeit sein könnte. Und ähnlich gingen die Schriftsteller vor – wir saßen in Caféwinkeln und versammelten in unseren Blocks Beobachtungen über die Umgebung, über alles, was geschah und was interessant sein könnte, denn man weiß nie, was sich womit verbindet, und wohin es einen führt; daneben existierte der Traum vom Großen Wissen, derzeit zumindest als Travestie verwirklicht, oder des Totalen Romans, der alles umfassen möchte. Allein, was bleibt einem Schriftsteller-Anthropologen bzw. Anthropologen-Schriftsteller in einer Welt, in der alles in Echtzeit verzeichnet wird und dann eingelagert auf Servern in Gebäuden so groß wie Zeppelinhangars, wenn auch hinabgesenkt in den Keller? Wir leben in einer total beschriebenen, total hergezeigten, total dargestellten Welt. Wenn wir heute in Amazonien einen unberührten Stamm entdecken, taucht sein Anführer morgen bei Oprah Winfrey auf und Hundertmillionen Nutzer sozialer Netzwerke werden den Inhalt teilen, das ist, wie wenn ihr ein Stück Wurst in einen Ameisenhaufen werft, damit mal was los ist, und gleich ist was los.

Aber all das setzt noch eine andere Welt voraus, die sich beschreiben, herzeigen und darstellen ließe. Doch die Logik des Dokuments weicht allmählich den Regeln einer Reality Show, aus der rückwirkend wieder Realität wird. In einigen Bereichen, wie zum Beispiel der Boulevardpresse, wird die Wirklichkeit verzeichnet, verarbeitet und gewissermaßen in ausgebesserter Gestalt oder als ungefähre Replik, die den Bedürfnissen der Nutzer angepasst wurde, an ihren Platz zurückgelegt, wo sie ihnen bald zur neuen Ausgangswirklichkeit wird.

So sitzt also ein Mann auf einer Bank und wartet auf die Frau, die sich längst nähert. Das Einzige, was eigentlich noch immer unbekannt ist und was zumindest ein wenig der Beschreibung trotzt, und gerade darum hat es Sinn, davon zu schreiben, ist das Feld, das sich zwischen ihnen bildet, das sich zwischen uns bildet, wenn ich dir in die Augen sehe und du mich anlächelst und winkst. Opportunistische Schreiberlinge verkünden, dass Google und Facebook uns besser kennen, als wir uns selbst, und vielleicht werden sie schlussendlich einmal Recht haben, wenn es so weitergeht, aber noch immer ist es doch so, dass wir uns viel besser nicht kennen, und dieses Unbekannte hält uns am Leben.

Und so bekomme ich das Gefühl, dass du das Einzige bist, worüber ich mit dir reden kann. Nicht einmal das Selbstverständliche ist wahr, denn jedermann kann über dich reden, und es redet auch jedermann über dich, zum Verrücktwerden ist das, wie viele Leute über dich reden, aber keiner redet so über dich wie ich. Und was soll ich sagen, alles andere wäre sowieso nur das Dreschen leeren Strohs, die Beschreibung des Beschriebenen, das Erzählen des Erzählten, die Große Kompilation. Oder aber ich könnte mir was aus den Fingern saugen, irgendeine weitere Geschichte, eine Fiktion, die anstatt der Spannung zwischen unseren Augen der Spannung einer Verwicklung den Vorzug gäbe, in welcher diese Augen etwas Schreckliches anschauen müssten, etwas durch und durch Schreckliches. Aber auch das ist nur alter Krempel aus dem Lehrbuch der Drehbuchschreiber, eine Arbeit mit Erwartung, Überraschung, Spannung und verzögerter Auflösung, kognitive Psychologie, angewendet auf die Bedürfnisse der Kulturindustrie.

 

Aus dem Tschechischen von Martin Mutschler

[1] Im Original deutsch. (Anm. d. Ü.)