1. Mein Onkel war ein Legionär …

Die Zuza Ptáčková, also falls die keinen Mist redet, die ist letztes Jahr mit einem gegangen, der war Schlagzeuger bei einer Band, die hieß „Hirschgestank“. Heute nach dem Sport musste ich da dran denken, in der Umkleide war nämlich wieder so ein grauenvoller Mief, dass man’s kaum ausgehalten hat. Da ist mir eingefallen, dass „Mädchenumkleidegestank“ auch ein ziemlich guter Name wäre, bloß ein bisschen lang. Interessant, dass es bei den Jungs nicht so riecht, das ist mir schon in der Unterstufe aufgefallen. Die stinken auch, aber irgendwie anders. Auf dem Heimweg von der Schule hab ich den Honza Kaplan getroffen, wir sind zusammen zur Straßenbahn. Ich war schon drauf und dran ihn zu fragen, ob er in Sachen Mädchenumkleide denselben Eindruck hat, hab ich aber nicht.

„Weißt du was? Du erinnerst mich schon die ganze Zeit total an irgendwen, aber an wen …?“, hat er gesagt. „Wart mal, ich weiß, jetzt fällt mir’s ein. Du siehst aus wie der Garfunkel.“

Aber das ist Schwachsinn. Ich seh aus wie der Simon, bloß meine Haare sind wie beim Garfunkel.

Die Jungs haben neulich mal so eine dämliche Umfrage gemacht, welche Mädchen aus unserer Klasse ihrer Meinung nach einen Minirock anziehen können. Wir sind insgesamt vierunddreißig, davon zehn Jungs, und die haben sich dann geeinigt, dass es nur fünf solche Mädchen gibt. Ich angeblich auch, aber ich würde nie im Leben auf die Idee kommen, so was Peinliches anzuziehen. Die sollen mir ’n Buckel runterrutschen. Die Musilová, die hat mir ja vor ’ner Weile mal gesagt, dass ich zwar ganz hübsch bin, aber dass ich viel zu schlau aussehe, und das versaut ein bisschen den Gesamteindruck. Ich und schlau! Die hätte mich gestern in der Drogerie sehen müssen.

„Ich hätte gern die Präservative dort“, hab ich zur Kassiererin gesagt, mit so normaler Stimme wie möglich. Ich hab mir Mühe gegeben, so zu tun, als ob nix wäre, aber in Wirklichkeit hätt’ ich um ein Haar meine Seele ausgehaucht. Bloß, die hat überhaupt nicht reagiert, sie hat mich nur so komisch angeguckt. Ich hab meinen ganzen restlichen Mumm zusammengenommen und es noch mal wiederholt. Zur Sicherheit hab ich gleichzeitig mit dem Finger auf die Schachtel gezeigt, die ich gemeint hab, um alle Zweifel auszuräumen. Nichts. Ich hatte keine Ahnung, was jetzt das Problem war. Verkaufen die Gummis etwa nur an Kerle? Oder gibt’s die erst ab achtzehn? Aber woher soll die denn wissen, dass ich noch nicht achtzehn bin? Die Verkäuferin hat einen noch schlimmeren Flunsch als vorher gezogen. Verdammt, ich werd doch jetzt in letzter Minute nicht aufgeben! Dann hat sie sich endlich aufgerafft und mir die kleine Schachtel gebracht, auf die ich gezeigt hatte.

„Mein’ Sie das hier?“, hat sie gefragt. „Das ist aber Tiger-Balsam.“

Ich hab die drei fünfzig bezahlt und bin vom Anděl bis nach Hause gerannt. In meinem ganzen Leben setz ich keinen Fuß mehr in die Drogerie dort! Peinlich! Und so ist das mit mir andauernd. Dick bin ich zwar nicht mehr, aber dusslig immer noch genau so. Das ist gestern passiert, aber ich zittere jetzt noch am ganzen Leib deswegen. Gibt’s das überhaupt? So was! Was ich für’n blöder Dämlack bin! Ach Mensch … Da will man nun vernünftig sein und nichts dem Zufall überlassen, damit’s keinen Schlamassel gibt – und dann? Man darf zu so was eben nicht so doof sein wie ich.

Meine Eltern fahren Freitag nach Zákopy, Sonnabend früh soll der Antoša zu uns kommen, und da hab ich mir gedacht, wenn irgendwas passieren sollte … Es sieht nämlich schon längere Zeit so aus, als könnte was passieren. Der Antoša würde gern, das kann man ihm an der Nasenspitze ansehen, und ich bin auch ziemlich neugierig. Wir gehen zwar noch nicht besonders lange zusammen, am Sonnabend sind’s erst drei Wochen, aber das macht ja wohl nix. Allerdings weiß ich eigentlich nicht, ob ich echt in ihn verliebt bin, schwer zu sagen. Ich weiß nicht mal, ob man das überhaupt immer ganz genau wissen muss. Ich bin vorher mit noch niemand so richtig gegangen, weil mir von den Jungs, die was von mir wollten, nie einer gefallen hat, und denen, die mir gefallen haben oder in die ich verliebt war, denen hab ich das nie gesagt. Erst jetzt beim Antoša hat das auf beiden Seiten geklappt. Er gefällt mir total gut, soll meine Mutter doch sagen, was sie will, der ist echt hübsch. Und außerdem gefällt mir auch das Rumlaufen. Dieses Jahr haben wir so einen schönen Herbst, die Sonne scheint noch, aber schon schwächer, richtig angenehm – genau richtig für Jackett und T-Shirt.

Obwohl ich ja jetzt eigentlich gar kein Jackett habe. Das alte Manchestersakko vom Papa, das ich immer so gern angezogen hab, das hab ich letztes Jahr im Frühling der Krsická geborgt, als ihr jemand in der Umkleide den Pullover versaut hat, und es hat gerade geregnet und es war kalt. Naja, was heißt Pullover … Das war so ein höllischer lila Pulli mit schwarzen und rosa Rauten drauf, und irgendein Scherzkeks hat ihr da vorn und hinten eine große Raute reingeschnitten. Das ist schon irgendwie seltsam, die Krsická, guckt einem nie in die Augen, wenn man mit ihr redet, und wenn sie einem die Hand gibt, dann ist das wie ’n nasser Lappen. Keiner kann die besonders leiden, aber sie hat mir leidgetan, ich hatte an dem Tag noch einen langen schwarzen Pullover, da hab ich ihr das Sakko geborgt. Bloß, sie hat mir’s dann ewig nicht zurückgegeben, und als es nicht mehr anders ging, da hab ich sie gefragt: „Jiřina, du, was ist denn jetzt mit dem Jackett?“

Die Krsická hat dann eine Weile irgendwas auf dem Fußboden angestarrt, und dann hat sie gesagt: „Mit dem Jackett damals? Hm, ich hab gedacht, das hast du mir geschenkt.“

Damit hatte ich ja nun nicht gerechnet und ich war ziemlich baff. Ich wollte sagen: Nein, du hast da was verwechselt, gib mir’s zurück, aber als ich gesehen hab, wie sie da so vor mir steht und den Kopf hängen lässt, da hab ich das auf einmal nicht mehr übers Herz gebracht. Stattdessen ist mir rausgerutscht: „Na okay, dann behalt’s eben.“

„Das is aber eher was für Herren“, hat sie gesagt.

Sie hat sich rumgedreht und ist gegangen. Nicht mal Danke gesagt hat die. In die Schule zieht sie’s nicht an, ich weiß also nicht, was sie damit gemacht hat.

Aber der September ist auch ohne das Jackett schön, meine Mutter hat sowieso jedes Mal, wenn ich’s anziehen wollte, rumgezetert, dass ich aussehe wie ’ne Vogelscheuche. Der September ist immer schön. Anfang Herbst ist meine absolute Lieblingsjahreszeit. Alles fängt wieder ganz von vorne an und man glaubt einen Moment lang, dass einem sonst was Schönes passieren könnte, vielleicht sogar ein Wunder. Und dieses Jahr ist mir ja auch ein Wunder passiert, das Rumlaufen mit dem Antoša ist ja nichts Anderes. Jetzt bleibt mir also verflucht noch mal nix weiter übrig als zu hoffen, dass er selber einen Gummi mitbringt. In noch eine Drogerie trau ich mich nicht. Und was, wenn nicht? Soll ich ihm dann sagen: Nix is? Vor ihm kann ich das Wort ja nicht mal aussprechen! Ich müsste abwarten, wie sich das so entwickelt, aber wenn wir dann vielleicht schon ausgezogen im Bett liegen, dann könnte’s vielleicht schon zu spät sein. Na und außerdem will ich vor ihm nicht aussehen wie’n Vollidiot. (Klar bin ich einer, aber das muss er nicht gleich mitkriegen.) Ach ja, verflucht und zugenäht! Ich denk lieber an was Angenehmeres.

[…]

Meine Mutter, als die den Antoša das erste Mal gesehen hat, da hat sie gesagt, dass er aussieht wie ein russischer Eishockeyspieler. Was definitiv der Gipfel ist, das ist bei ihr was echt Unschönes. Bloß, sie ist gerade furchtbar sauer gewesen, das war gleich an dem Tag, als wir unsere erste Verabredung hatten und angefangen haben zusammen zu gehen. Nicht, dass ich ihn meiner Mutter mit Absicht zeigen wollte, auf gar keinen Fall, bloß, ich hatte vergessen, dass sie gerade aus irgendwelchen Gründen keinen Schlüssel hatte, und ich hätte eher zu Hause sein müssen als sie. Antoša hat mich heimgebracht, und kaum sind wir in unsere Straße eingebogen, da hab ich sofort erkannt: Das sieht gar nicht gut aus. Sie ist wutschnaubend auf dem Fußweg hin und her marschiert, vom Haus zur Telefonzelle und wieder zurück, angeblich ist sie da schon seit einer Stunde so rumgelaufen. Voll der dramatische Auftritt. Meine Mutter ist halt Schauspielerin, obwohl sie seit der Zeit, als sie die Bolschewisten in Ničín aus dem Theater rausgeschmissen haben, kein festes Engagement mehr gehabt hat. Sie klappert jetzt Schulen ab und macht Veranstaltungen für Kinder, was anderes darf sie nicht. Und ab und zu spielt sie uns zu Hause was Nettes vor. Sie war stinksauer. Und wie sie da so von einer Seite zur anderen hin- und hergewetzt ist, da hat sie gleich auch noch irgend ’n Typ, der da im Fußweg rumgestochert hat, dumm von der Seite angequatscht.

„Was rennen Sie mir denn, verdammt noch mal, dauernd hier durch? Ich schufte wie blöde und Sie rennen mir dauernd hier durch!“

„Dann probieren Sie doch einfach mal, wie schlau zu schuften. Da kriegen Sie bestimmt gleich bessere Laune.“

Da ist es natürlich klar, dass sie den Antoša nicht ausreichend würdigen konnte. Und außerdem ist sie eh nicht besonders glücklich, dass ich überhaupt mit jemandem gehe. Und wenn’s schon sein muss, dann hätte sie sich jemand vollkommen anderen vorgestellt, das weiß ich genau.

Zum Beispiel so ein Monster wie den Ingenieur Dohnán damals in Bulgarien. Wenn ich an den zurückdenke, ist mir jetzt noch speiübel und ich bin total sauer auf sie. Das war vor einem Jahr in Sozopol. Wir haben in einem Privatquartier gewohnt wie immer, und der hat auch da gewohnt, im Nachbarzimmer. Ich weiß nicht, wie alt der gewesen ist, aber es kann gut sein, dass der sogar schon dreißig war! Und das war der schleimigste von allen Schleimscheißern. Andauernd ist der um mich rumscharwenzelt, er hat geglotzt wie doof, und obwohl der genau gesehen haben muss, dass ich mir mit dem nicht mal den Fußabtreter teilen wollte, hat der nicht aufgehört mich anzustieren. Aber wie! Immer, wenn der mich angegafft hat, dann sind ihm seine hellblauen wässrigen Augen total aus den Höhlen rausgequollen. Einfach abartig! Meine Mutter sagt normalerweise bei solchen Leuten, dass sie gucken, wie wenn ein Kater ins Stroh kackt, aber bei dem da nicht, der hat ihr gefallen. Und der Blödmann, als der gesehen hat, dass er bei mir nicht weit kommt, da ist das Ekelpaket eben zu meiner Mutter; der hat auf alle Arten versucht sich bei ihr einzuschleimen, und dann hat er sie gefragt, ob sie was dagegen hätte, wenn er mich mal bloß so zu einem kleinen Spaziergang mitnehmen würde. Das hat mich völlig fertig gemacht und ich hab meine Mutter gebeten, dass sie um Gottes Willen Nein sagt, dass sie mich nicht weglässt oder dass ich einfach nicht will. Aber die alte Verräterin hat ihm mit einem Lächeln geantwortet: Aber sicher doch, warum denn nicht, und dass sie überhaupt nichts dagegen hätte. Ich musste dann bis zum Ende des Urlaubs ständig vor dem abhauen. Und das ist noch nicht mal alles! Wie ich dann später rausgefunden hab, hat sie ihm sogar unsere Telefonnummer gegeben, und deswegen ist mir der Hirni dann sogar auch noch in Prag auf den Keks gegangen. War das etwa in Ordnung?!? Aber der Antoša, der sieht aus wie ein russischer Eishockeyspieler! Ach ja, da kommen noch Unannehmlichkeiten auf mich zu, da kann ich Gift drauf nehmen.

2. Sie sitzt da und trinkt, eine Zigarette im Mund

Jemand hat über die ganze Breite von der Asphaltfläche vor der Schule mit riesigen Buchstaben geschrieben: FLAUCH = RINDVIEH und KRULEROVÁ = BLÖDE KUH. Weiß auf schwarz leuchtet das schon von weitem, und es ist natürlich die reinste Wahrheit. Das ist nicht mit Kreide geschrieben, sondern mit Latexfarbe oder so was in der Art. Derjenige muss das in der Nacht gemacht haben. Am Morgen haben dann schon ein paar Vögel mit Scheuerbürste und Wassereimer da rumgeschrubbt, aber es geht nicht weg. Der Flauch tobt und verhört alle möglichen Leute, die geben sich im Direx-Zimmer die Klinke in die Hand. Und die Krulerová würde morden, wenn sie könnte. Aber die ist auch sonst so. Sie unterrichtet Russisch, sieht aus wie eine KZ-Aufseherin und benimmt sich auch so. Angeblich ist sie auch noch Parteivorsitzende. Einmal, noch in der zweiten Gymnasium, hat sie mich und Julie erwischt, wie wir versucht haben abzuhauen, ungefähr zwei Stunden vor Unterrichtsschluss. Wir haben alle Schulausweise. Unten im Vestibül sitzt in so einer Bude ein Pförtner, und wer eher gehen will, muss ihm einen Erlaubnisschein zeigen. Den hatten wir natürlich nicht, aber diesmal hat dort gerade der Herr Samec gesessen, das ist so ein netter Opi, mit dem man immer reden kann. Ein ehemaliger Seemann. Wir hatten eigentlich vor, eine Weile mit ihm zu quatschen, und dann würde er uns ohne Probleme rauslassen. Wir waren auch schon fast durch die Tür, aber da ist auf einmal die Krulerová von irgendwo angeschossen gekommen, ich glaub, die hat mit Absicht hinter einer Säule gelauert. Die wollte unseren Erlaubnisschein sehen, sie hat gezetert wie verrückt und mich sogar an den Haaren gezogen. Dann hat sie uns direkt zum Flauch ins Direx-Zimmer geschleppt und es sah ziemlich übel aus. Der Flauch hat auch eine Weile auf uns eingebrüllt und am Ende hat er geschrien: „Haben Sie einen individuellen Lernplan?“

Wir hatten überhaupt keine Ahnung, um was es geht.

„Was soll’n das sein? Weißt du das?“, hat die Julie geflüstert.

„Weiß ich nicht, wahrscheinlich meint der, auf was wir hinarbeiten, vielleicht, ob wir schon wissen, was wir hinterher studieren wollen, oder?“

„Hm, wahrscheinlich.“

Also haben wir einfach nur so ein bisschen unsicher genickt, dass wir einen Plan haben, und der Flauch hat geantwortet: „Ihr Lernplan ist ab sofort aufgehoben!“

Und dann hat er uns rausgeschmissen. Erst später, als wir das mit anderen aus unserer Klasse besprochen haben, da haben wir festgestellt, dass der individuelle Lernplan was von den Sportlern ist. In unserem riesigen Gymnasium sind nämlich mehr als die Hälfte Sportklassen. Wir Normalen sind in der Minderheit, wir sind eigentlich nur so ein Anhängsel. Die ganzen Spitzensportler rackern sich tagelang irgendwo auf Matratzen oder in Stadions ab, und in die Schule gehen sie nur hin und wieder, wenn sie gerade mal ein bisschen Zeit haben, und die haben so einen Zettel, wo drauf steht, wann sie kommen sollen. Wir zwei haben natürlich so was nicht, und als der Flauch uns den Plan so feierlich aufgehoben hat, ist eigentlich überhaupt nix passiert.

Vor dem Flauch haben alle irrsinnige Angst, sogar die Lehrer und die Eltern. Keiner kann sich vor dem sicher sein. Der David Grün, Ehre seinem Angedenken, der hat immer gesagt, dass die furchtbare Sitzgruppe im Direx-Zimmer ganz bestimmt mit menschlicher Haut bezogen ist und dass sich immer genug Individuen finden würden, die bereit sind, mit einem Teil von ihrer Hinteransicht auszuhelfen, sollte mal Bedarf an irgendeinem Flicken sein. Das ist schon mal Fakt. Aber der arme David ist schon über’n Jordan, die haben ihn Ende letztes Jahr wegen andauerndem Fehlen rausgekantet. An dem Morgen, als alle gerätselt haben, welcher Held das in der Nacht dort hingepinselt hat, da hat auch wer auf ihn getippt. Dass er sich rächen gekommen ist oder so. Eigentlich sieht dem das ja ganz ähnlich, der hat nie vor wem Schiss gehabt, vorm Flauch auch nicht. Aber das sind nur Gerüchte, in Wirklichkeit weiß keiner irgendwas. Na, wer auch immer das gewesen ist, der war’n toller Hecht, das muss man dem lassen. Heute konnte sich keiner auf irgendwas konzentrieren und alle haben die ganze Zeit aus dem Fenster geschielt, wie das mit dem Schrubben vorangeht.

Wir haben eine Leistungskontrolle in Mathe geschrieben, und leider wird das mal wieder ’n Reinfall. Ich hab nicht mal die Aufgabenstellung richtig kapiert, geschweige denn, dass ich das berechnen konnte. Das ist furchtbar, ich krieg schon ein ganzes Jahr Nachhilfe in Mathe, drei oder vier haben sich schon abgewechselt, aber bei mir kann keiner was ausrichten. In der Beziehung bin ich total blöd. Die sagen mir zwar immer, dass das nicht stimmt, ich muss nur ein bisschen wollen … Aber das ist nicht wahr. Ich will natürlich gern, schon damit ich endlich meine Ruhe hab, schließlich ist das eine wahnsinnige Zeitverschwendung! Aber ich versteh’s wirklich nicht. So als würden jedes Mal alle Zahnräder in meinem Kopf total durcheinanderkommen, auf einmal frisst sich da was fest, und das war’s, so als würde jemand in einer völlig unbekannten Sprache auf mich einreden. Mir wird schwarz vor Augen und mein Kopf bläst sich immer weiter auf, aber innen drin ist absolutes Vakuum. Stille und Finsternis. Wir sind eine „humanistische Klasse“, aber wohl eher nur eine so genannte, so wie die Kommunisten sagen: „die so genannte Solidarität“. In Wirklichkeit haben wir sowieso nur Mathe, Physik und Chemie. Der Unterschied zwischen uns und den anderen – also nicht humanistischen – ist nur, dass wir, Gott sei’s gedankt, keine deskriptive Geometrie haben. Stattdessen haben wir Latein. Und dann noch, dass ich nicht in Mathe Abitur machen muss. Dass ist mein einziges Glück, ansonsten hätte ich keine Chance. In Mathe wechseln die ständig unsere Pauker aus, wir kriegen immer den ab, der übrig bleibt, den sonst keiner will. Man kann sagen, dass wir praktisch jedes halbe Jahr jemand anders haben. Zur Zeit den Hamášek, das ist so ein junger, verzweifelt und schreckhaft, noch mehr als wir. Man kann ihn fast überhaupt nicht verstehen. Außerdem haut’s den immer so von einer Seite zur anderen, und er sieht scheußlich aus: riesengroß und dünn, über der Stirn hat er eine Glatze und da drauf so ein Büschel helle Haar. Noch so ein Büschel, ein kleineres, hat er unter der Nase, wahrscheinlich der Versuch eines Schnurrbarts. Er hat riesige Kunstfaserpuschen mit Bommel an, die ihm offenbar seine Mutter gehäkelt hat – so ein Monster kann ja wohl kaum eine Freundin haben, und die Hose natürlich auch Vollsynthetik. Der sieht schlicht und ergreifend aus wie so ein Stäbchen zum Ohren Saubermachen, die’s in der DDR zu kaufen gibt. Außerdem hat er so dürre Vogelklauen, mit denen er nervös auf der Tafel rumtrommelt, und ab und zu zieht er an seinen Fingergelenken, bis es knackt. Ich und Julie müssen jetzt zur Strafe in der ersten Reihe sitzen, und wenn man sich früh am morgen so dem seine durchsichtige, hellgrüne Visage angucken muss und das Knirschen hört, dann ist einem schon öfters mal ganz schön kotterig.

Wir haben uns mal gesagt, dass wir Angst haben, dass der bei dem Hin- und Herschwanken bestimmt mal an der Hüfte abbricht, und die obere Hälfte landet dann direkt bei uns auf der Bank und läuft dort langsam breit. Letzten Endes lieber die obere als die untere.

Außerdem kann der uns nicht leiden. Beim Elternabend hat er gepetzt. Er hat zum Papa gesagt, ihn stört gar nicht so sehr, dass wir das nicht können und dass wir nicht aufpassen. Wenn wir ihn nur nicht auslachen würden! Hm, das sagt sich so leicht …

3. Liebling, komm zurück

[…] Berlin, wo sie uns in der ersten Klasse Gymnasium im Frühling zum Freundschaftsbesuch hingeschickt haben, hat auf uns keinen besonders großen Eindruck gemacht. Es ist hässlich und sieht aus, als wäre hier noch viel mehr tote Hose als in Prag. Ich wundere mich überhaupt nicht über die Deutschen, dass die zu uns kommen, um mal so richtig rumzubrüllen. In Berlin hab ich in der ganzen Woche keinen einzigen Menschen gesehen, der in der Metro oder im Bus rumgeschrien hätte oder der wenigstens laut gelacht hätte. Wahrscheinlich gibt’s dafür auch keinen Grund. Wenn man sich mitten auf den Alexanderplatz stellt und sich umschaut, dann hat man das nicht gerade angenehmen Gefühl, dass gleich die grauen Wolken über einem aufreißen, dass ein riesiger Schweißfuß in einem auf Hochglanz polierten schwarzen Lederstiefel auftaucht und einen breittritt.

Und wenn man die allergrößte Sehenswürdigkeit angucken will, die einem alle ganz eifrig empfehlen, muss man erst ein paar Kilometer gehen, über unglaublich in die Breite gezogene, leere, kalte Boulevards, die zwar zweihundert Jahre vor dem Hitler entstanden sind, aber die machen trotzdem den Eindruck, als hätte die jemand vor allem für Paraden mit schwerer Militärtechnik und für Reihen von marschierenden Soldaten projektiert, und nicht für normale Leute. Und am Schluss steht man mit raushängender Zunge vor der Hedwigskathedrale, die in einem ungefähr so große Emotionen weckt wie eine riesige Kugel Pistazieneis. Aber was soll’s. Bloß der Richard findet das toll, der sagt, dass er dort immer das Gefühl von echter, unverfälschter existenzieller Entfremdung aufs Vollste auskostet.

Mit der Julie hab ich damals da auch einen gepflegten, piekfeinen alten Herrn getroffen, der ist mit seinem Schäferhund in einem Park Gassi gegangen, wo wir gerade auf einer Bank gesessen und geraucht haben. Er hat angefangen, sich mit uns zu unterhalten, hat uns nach allem möglichen ausgefragt, und als er mitgekriegt hat, dass wir aus Prag sind, da hat er mit verträumtem Gesicht gesagt: „Ja, ja … Prag … Da war ich im Krieg drei Jahre. Das waren Zeiten.“

„Und was haben Sie da gemacht?“, haben wir ihn gefragt.

„Ach, so Verschiedenes“, hat er geantwortet.

Er hat sich mit einem Lächeln verabschiedet und ist wieder gegangen. Ich behaupte ja nicht, dass das, was er in Prag gemacht hat, unbedingt sonst was Furchtbares gewesen sein muss, gar nicht, ist ja klar. Aber man kann einfach nichts dagegen tun, ob man nun will oder nicht, stellt man sich gleich vor, dass es vielleicht justamente dieser einparfümierte Opi hier war, der meine Großmutter und meinen Großvater in einen Viehwaggon getrieben hat oder der dem damals gerade siebzehn Jahre alten Bruder von meinem Vater eine Kugel in den Kopf gejagt hat, und so weiter … Das hat nämlich nix mit Kommunistenpropaganda zu tun, das kommt daher, dass man irgendwie immer noch nicht verdauen kann, dass die ganzen Geschichten wirklich passiert sind, und sobald man das für einen Moment hochkommen lässt, fängt gleich die Fantasie an volle Kanne zu arbeiten, auch wenn man das hundertmal nicht will und obwohl man weiß, dass das paranoid ist. Zum Glück kommt mir der Gedanke nicht jedes Mal, wenn ich einen Deutschen sehe, das wäre dann wirklich schon sehr bedenklich.

Aber trotzdem, er hätte nicht sagen sollen: „So Verschiedenes“, … Das ist doch ziemlich verdächtig.

4. Würde er sich nicht so bemühen

[…] Das Laub ist wieder mal bunt, ein Teil davon liegt auch schon auf dem Boden rum und ich hab immer noch so einen Schulanfängerreflex, die schönsten Blätter aufzusammeln und mit in die Schule zu nehmen – damit wir sie zum Beispiel malen können. Bloß leider machen wir nie so was. Der Fořt hat von Kunsterziehung seine eigenen, abgefahrenen Vorstellungen. Beim letzten Mal mussten wir auf Zeichenkarton alle möglichen Rechtecke, Quadrate, Dreiecke und andere geometrische Figuren zeichnen, die dann ausschneiden und von hinten mit Silberfolie bekleben. Danach sollten wir das alles wieder zusammenkleben, so, dass es dreidimensional wird und steht. Das hat überhaupt keinem Spaß gemacht und keiner hat kapiert, was das für einen Sinn hat, obwohl uns der Fořt natürlich erklärt hat, dass das ein Modell für eine Metallplastik sein soll, so wie sie passenderweise angeblich irgendeins von den Prager Neubauvierteln schmücken könnte.

„Jugendfreunde, maulen Sie nicht“, hat er gesagt, „und freuen Sie sich an der gestellten Aufgabe, denn das ist eine Gelegenheit auch für die von Ihnen, die so malen, wie ein Besoffener pinkelt.“

Ohne mit der Wimper zu zucken. Er hat todernst geguckt wie immer, und nach einer Weile hat er angefangen zwischen den Bänken durchzugehen, um sich an dem Anblick zu erfreuen, wie alle bis über die Ohren mit Leim verklebt sind und wie sie wütend an ihren Kunstwerken rumfriemeln. Er ist bei der Kamzíčková stehen geblieben, hat angeekelt mit seinem Finger in die Kleisterei von ihr reingepiekt und gesagt: „Mademoiselle Kamzíčková, und das soll bitte was sein, das da?“

Die Kamzíčková ist rot geworden, weil’s nicht so aussah, als würde er sie loben wollen, aber sie hat tapfer geantwortet: „Das ist der Entwurf für eine Plastik für ein Prager Neubauviertel, wie Sie es gewünscht haben, Herr Fořt. Zum Beispiel für Prosek, da wohne ich.“

„Sagen Sie bloß!“, fingen die Äuglein vom Fořt an zu leuchten. „Das ist in der Tat interessant. Und wie wird Ihr Entwurf hier heißen?“

Die Kamzíčková ist erschrocken, weil der Fořt vorher nicht ausdrücklich angeordnet hat, dass wir der ganzen Pracht auch irgendeinen Namen geben sollen, und das Improvisieren ist nicht so ihr Ding, aber schnell ist sie eifrig rausgeplatzt: „Lob des arbeitenden Menschen.“

„So. Lob des arbeitenden Menschen … Na da schau einer an!“

Der Fořt hat die Kleisterei eine Weile auf seinen Finger gespießt hin und her gedreht und hat dann sie ihr zurück auf die Bank geknallt.

„Kamzíčková, Kamzíčková … Sie Provokateurin, Sie.“

Alle bis auf die Kamzíčková haben gelacht und der Fořt hat natürlich so getan, als wär nix, hat nicht mal mit dem Augenwinkel gezuckt. Der macht sich immer einen höllischen Jux aus uns, und auch die scheußlichen Themen sucht er absichtlich aus und amüsiert sich blendend. Ich und Julie zwar auch, aber schwächere Naturells können das nur schwer verkraften, und die schlottern dann das ganze Halbjahr, dass ihnen die Note vom Fořt das ansonsten großartige Zeugnis ja nicht versaut.

Die Musilová gehört auch nicht zu seinen Favoriten, oder andersrum: Mit der schäkert er auch gerne rum. Heute sollten wir ein Plakat zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution malen, bloß der Fořt, der hat das natürlich so fade nicht gesagt. Die Aufgabenstellung lautete: ein Plakat zum Thema „Immer noch strahlt hell die Revolution“.

„Große Flächen, starke Linien, überzeugender Ausdruck. Seien Sie großzügig!“, hat er gesagt.

Eine Weile hat er was gelesen, dann ist er wieder auf Inspektion gegangen. Diesmal ist ihm die Musilová zum Opfer gefallen.

„Und das da soll bitteschön was sein?!?“

„Ein Stern.“ Mehr hat die Musilová als Antwort nicht rausgebracht.

„Ein Stern, sagen Sie, Fräulein Musilová, aber, aber … Und was für eine seltsame Farbe haben Sie da gewählt? So matt strahlt Ihre Revolution?“

Die Musilová hat jetzt komplett den Kopf verloren.

„Rot“, hat sie gestöhnt, „das ist doch rot!“

„Also rot? Ich fürchte, Mademoiselle Musilová, dass an der Straße zu ihrem Abitur eine rote Ampel leuchtet.“

Und zufrieden marschierte er zurück hinter sein Pult. Das hat die arme Musilová nun davon, dass sie mir den Schulweg so versaut hat.

Die letzte Stunde sollten wir Literatur haben, ich hab mich ziemlich gefreut, das ist eine von den angenehmen Sachen, wir nehmen gerade die Erste Republik durch: die Avantgarde, den Poetismus und so. Und die Jeníčková ist auch gut. Leider haben wir von den Stunden nicht viele, und oft geht dann noch die Hälfte der Zeit drauf für alles mögliche Amtliche, weil die Jeníčková unsere Klassenleiterin ist, und manchmal fängt sie an Klassenleiterkram zu erledigen. Heute ist auch wieder nichts draus geworden, sie hat nämlich den Mayr dabeigehabt. Das ist so’n Blödi aus der F, der Vorsitzende von der Jugendverbandsleitung. Angeblich würde er eine kurze Ansprache halten, wir sollten also diszipliniert sein und aufpassen. Der Mayr heißt echt Mayr, und nicht Mayer, wie jeder denkt, wenn er den Namen hört. Die meisten Leute haben das Gefühl, dass da noch ein e mit reinmuss und dass sie sich verhört haben. Muss es nicht, aber der Mayr sieht sowieso schon auf den ersten Blick so aus, als würde ihm irgendwo was fehlen.

Er fing also an zu palavern, die Jeníčková hat erst eine Weile abwesend am Pult rumgezappelt, und weil sie das Ganze auch nicht besonders spannend fand, ist sie aufgestanden, hat gesagt, dass sie noch schnell was aus dem Kabinett holen geht, und weg war sie. Der Mayr wollte sich uns für irgendeinen Arbeitseinsatz zum Jahrestag der Oktoberrevolution angeln, aber es hat sich keiner gemeldet, da konnte er machen, was er wollte, und keiner hat ihm so richtig zugehört. Er ist immer wütender geworden, aber auch ein wütender Mayr kann eben nur näselnd eiern und leiern. Er hat aufgezählt, was der Jugendverband alles für uns tut: Arbeitseinsätze, Diskussionsrunden, Museumsbesuche, Betriebsbesichtigungen … Und wir? Nix. Nichts interessiert uns, nirgends gehen wir hin, wir sind ganz schön undankbar. Fast hätte er dabei losgeheult. Zwar hat sich keiner gemeldet, aber es hat ihn auch keiner groß zur Kenntnis genommen, jeder hat sich um seinen Kram gekümmert, bloß er wollte und wollte nicht aufgeben und am Ende hat er angefangen, aus lauter Verzweiflung Sachen zu sagen wie: „Ihr glaubt vielleicht, dass es auf eure Teilnahme nicht ankommt, aber das ist ein Irrtum. So isses ja nicht, mir gefällt vielleicht auch nicht unbedingt alles, nich, aber nur alle zusammen können wir diesen Organismus bilden, diesen Körper. Damit so ein Körper funktioniert, damit er völlig gesund ist, nich, braucht er, um es mal so zu sagen, jedes Glied, auch das kleinste.“

Das hätte er nicht sagen sollen.

„Welches zum Beispiel, Mayr, sag mal! Brauchst dich nicht zu schämen!“, hat es aus von hinteren Bänken getönt.

„Erzähl uns was von Gliedern, Mayr, lass dich nicht so lange bitten!“

„Der selber is ’n Glied, Mann, und garantiert nicht das kleinste …“

Der Mayr ist aus dem Klassenzimmer geschossen. In der Tür ist er mit der Jeníčková zusammengerasselt. Er hat so fix und fertig ausgesehen, dass sie ihn gleich ganz besorgt gefragt hat: „Alles in Ordnung, Genosse Mayr? Ist was mit Ihnen, Junge?“

Er hat für einen Moment gestutzt, hat gezögert, aber dann hat er nur abgewinkt, und weg war er. Er hat mir fast ein bisschen leid getan, aber das ist nun mal so ein Blödian, dem ist nicht zu helfen.

„Ihr habt doch dem Burschen nicht etwa was getan?“, hat die Jeníčková gefragt, und als wir im Chor gebrummt haben: „Nö …“, da hat sie gesagt: „Na gut, da bin ich ja beruhigt, das hätte nämlich ansonsten …“, aber dann hat sie auch nur abgewinkt. „Ach nix. Also, stürzen wir uns lieber auf den Nezval.“

Der Mayr ist zwar ein Arsch, aber das ist natürlich keine große Heldentat gewesen, und auch wenn der sich beschweren würde, da würde keinem groß was passieren, aber es stimmt ja auch, dass wir alle im Jugendverband sind. Bis auf den letzten Mann sind wir im SSM – sogar ich. Wir gehen nirgendwo hin, wir machen nichts, es ist nix los und keiner, außer vielleicht dem Mayr, will was von uns. Es reicht, dass wir einfach dabei sind, darum geht’s wahrscheinlich. Keinen stört, dass das bloß eine Formalität ist, Hauptsache, jeder hängt da zumindest ein bisschen mit drin. Wer studieren will, und das wollen alle, weiß, dass er dabei sein muss, und gut is. Sogar meine Eltern betrachten das als Selbstverständlichkeit, wenn auch eine unschöne. Etwas anderes ist die Mitgliedschaft in der Partei, das ist die Grenze, die in unserer Familie nicht überschritten wird, und man braucht auch gar nicht darüber zu reden. Das ist eben klar. Ansonsten sind aber fast alle Eltern in der Partei, auch die Eltern von meinen Freunden, immer wenigstens ein Elternteil, meist der Vater.

Die mit abstand größte Bolschewistin ist allerdings die Mutter vom Richard, Frau Schlesingerová. Die hat’s bis zum Mitglied in der Prager Stadtverordnetenversammlung gebracht und der Vater von ihr, der Großvater vom Richard, nicht der abgeschobene, der ist schon tot, sondern der zweite, der ist schon total verblödet: Vor jeder Spartakiade und vor jedem für die Kommunisten wichtigen Jahrestag schickt der in alle Richtungen Vorschläge und Anträge, dass die kompetenten Behörden die Strahover Hänge, den Laurenziberg, den Weißen Berg und überhaupt alle freien Flächen mit Klatschmohn oder mit anderen roten Blumen bepflanzen sollen. Letztes Jahr mussten die Schlesingers den in die Klapsmühle sperren lassen, und als er sich dann wieder ein bisschen beruhigt hat, da haben sie ihn in ein normales Altersheim verlegt. Nicht wegen dem Klatschmohn, sondern weil das mit ihm nicht mehr zum Aushalten war. Der ist in einem Fort von zu Hause abgehauen, wusste aber nichts davon, und vor allem wusste er nicht, wie er wieder zurückkommt, also ist er denen ständig abhanden gekommen. Sie haben es damit versucht, dass sie ihm ein Schild um den Hals gehängt haben, da stand drauf: Ich heiße Karel Kilián, ich wohne in der Steilen Gasse 7, Prag 5, Radotín. Bitte bringen Sie mich nach Hause. Bloß, das konnte trotzdem nicht so weitergehen. Die hatten Angst, dass sie ihn als Wasserleiche aus der Moldau fischen oder dass ihn irgendwo wer abmurkst, wenn er dem mit seinen kommunistischen Moritaten kommt. Außerdem hat er zum Beispiel den leeren Wasserkessel auf den Herd gestellt und die Flamme angemacht, und dann ist er in die Stadt.

Na ja, es stimmt, dass mir das auch schon mal passiert ist. Ich hab Kaffeewasser zum Kochen aufgestellt, das hab ich aber irgendwie vergessen und bin übers Wochenende nach Zákopy gefahren. Der Rest der Familie war schon dort, das hätte also ziemlich dumm ausgehen können. Zum Glück hat am nächsten Morgen die Prager Oma Dáša zufällig bei uns vorbeigeguckt, die hat ihren eigenen Schlüssel, und hat das abgedreht. Bis heute kapier ich nicht, dass da nix passiert ist, außer dass der Kessel total schwarz und verbogen war. Die Oma hat das meinen Eltern natürlich brühwarm erzählt, meine Mutter hat getobt und der Papa hat gesagt: „Das kann ja wohl nicht wahr sein! Ich bitte dich, wie viel Wasser setzt du dir denn für einen Kaffee auf?“

Also, der Herr Kilián ist im Altersheim, logischerweise in einem ganz besonderen, für verdiente Kommunisten. Aber die Anträge soll er wohl immer noch schreiben, hat der Richard gesagt.

Die Mama ist neulich zufällig in dem Kommunistenheim da gewesen. Die haben sie nämlich über ihre Agentur bestellt, damit sie vorlesen und rezitieren kommt. Das kam ihr komisch vor, weil sie ausschließlich Programme für Kinder macht, Sachen von Hrubín, von Halas und so. Sicherheitshalber hat sie lieber dort angerufen, ob die das wissen und ob die sich nicht vielleicht vertan haben. Aber die haben gesagt: „Nein, nein, wir wissen das schon, das ist in Ordnung, kommen Sie ruhig, das wird denen gefallen.“

Also ist sie hingefahren. Die Direktorin war sehr nett, das andere Personal auch, sie haben sie in einen großen Saal gebracht, da haben ungefähr vierzig zahnlose, größtenteils völlig senile Genossen und Genossinnen gesessen, die sie fröhlich angelacht haben. Und sie hatte gerade angefangen: „Der Großvater hat ein Rübchen in den Boden gesteckt und sagt zu ihm: Wachse, Rübchen, wachse …“, da haben die applaudiert wie verrückt. Als dann nach einer Weile das Mütterchen von Jaroslav Seifert dran war, da haben die, die noch halbwegs bei Verstand waren, geheult, und die Mama musste, weil sie nun mal so ein Gefühlsmensch ist, Kommunisten hin oder her, auch beinahe anfangen. Die haben ihr natürlich leid getan.

Am Ende waren alle vollauf zufrieden. Die Direktorin und die ganzen Pflegerinnen haben zur Mama gesagt, dass sie unbedingt mal wieder kommen muss, und haben sie auf einen Kaffee eingeladen. Und als sie da so gesessen und in Ruhe Kaffee getrunken und erzählt haben, da ist auf einmal eine andere Pflegerin gekommen und hat gerufen: „Lasst euch nicht stören, aber kann mir bitte fix mal jemand helfen kommen, der Lexa hat das wieder schrecklich zugerichtet.“

Da sind ein paar von denen aufgestanden und wollten gerade gehen, aber dann hat eine gesagt: „Frau Součková, kommen Sie ruhig mit, na, kommen Sie … Gucken Sie sich mal was an.“

Die Mama ist mit, und in einem Zimmer in so einem Bett mit einem Netz, das ein bisschen ausgesehen hat wie ein Käfig, ist ein glatzköpfiger Alter rumgehopst, mit einem kurzen Hemdchen an und mit nacktem Hintern und hat volle Pulle gelacht. Das Bett war komplett mit Kacke vollgeschmiert und er hat lustig drin rumgepanscht. Der hat zwar gefeixt, aber für die Mama war das kein erheiternder Anblick. Die Pflegerin allerdings, die hat sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen lassen und hat ganz freundlich zu ihm gesagt: „Lexa, Lexa, du bist mir einer, hast’e dich schon wieder vollgeschissen.“

Sie haben angefangen das sauber zu machen und haben immer so putzig zur Mama rübergeguckt, als würden sie warten, was die dazu sagt, aber sie war darüber eher entsetzt und hat überhaupt nicht gewusst, was sie sagen soll. Bis es eine nicht mehr ausgehalten hat und direkt gefragt hat: „Na? Erkennen Sie den? Wissen Sie, wer das ist?“

Die Mama hat’s nicht gewusst und von dem ganzen Gestank ist ihr schon langsam ein bisschen kotterig geworden.

„Na das ist doch der Gauner Alexej Čepička! Sie wissen doch, wer das war, oder? Der Schwiegersohn vom Klement Gottwald und außerdem Minister für nationale Verteidigung. Das hier macht der andauernd mit uns, das Schlitzohr. Na, macht ja nix, dann gehen wir mal weiter Kaffee trinken.“

Die Mama war einverstanden, obwohl ihr der Appetit komplett vergangen war, und weil sie unverbesserlich blöd ist, hat sie sich noch lange Vorwürfe gemacht, dass ihr nicht gleich das mit den Mühlen Gottes eingefallen ist. Man kann also sagen, dass der Herr Schlesinger in bester Gesellschaft ist, zumindest in dem Sinn, wie er selbst sich das vorstellen würde.

[…]

Meine Mutter will nach Zákopy fahren und ich muss mit denen mit, weil sie die Wäsche machen will. Wenn sie die Wäsche macht, muss ich immer mitfahren. Das ist total bescheuert, ich kapier überhaupt nicht, warum wir nicht zu Hause eine Waschmaschine haben können wie normale Leute. Wir haben so eine eklige alte, keine automatische, sondern eine ganz normale viereckige mit einem grünen Deckel, wo man die Wäsche von oben reintut. Aber vorher muss man das Zeug noch einweichen oder dämpfen oder so und erst danach kommt sie in die Maschine. Die wird angeschaltet, und zwei Stunden lang hüpft und rattert die dann, als hätte sie einen epileptischen Anfall. Das ist immer noch dieselbe, die wir damals schon in Ničín gehabt haben. Als wir nach Prag umgezogen sind, da hat meine Mutter entschieden, dass sie nach Zákopy gebracht wird und dass wir jetzt dort die Wäsche machen. Unten in dem Wohnblock, wo auch die Keller sind, da ist nämlich eine Gemeinschafts-Waschküche. Da gibt es so Steintröge und einen Kessel, in dem man die Wäsche kochen kann. Die Waschmaschine steht im Keller von der Omi, und wenn meine Mutter Wäsche machen will, schreibt der Opi sie vierzehn Tage vorher in den Kalender ein, der da an der Tür hängt, und dann, wenn’s so weit ist, schleppt er die Waschmaschine in die Waschküche, macht Feuer unter dem Kessel und dann geht er meistens noch mit dem Krug ins Wirtshaus und holt für meine Mutter Bier. Meine Mutter zieht Gummistiefel an und alle möglichen alten Klamotten, und los geht’s.

Die Wäsche muss ständig irgendwie aus dem Trog in den Kessel und dann aus dem Kessel in die Waschmaschine und aus der Waschmaschine wieder in den Trog. Das Ganze dauert Stunden, das ist wirklich furchtbar, und ich muss, warum auch immer, fast immer mit dabei sein. Ich kapier wirklich nicht so ganz, warum, weil ich sowieso nur da rumstehe und zugucke und meiner Mutter ab und zu die fertige Wäsche draußen auf die Leine hängen gehe. Aber das passiert vielleicht einmal in zwei Stunden. Ansonsten steh ich da nur rum. Wahrscheinlich geht’s vor allem darum, dass sie dabei Gesellschaft haben will. Das kann ich zwar verstehen, aber jeden dritten Sonnabend so zu verbringen, das geht mir ziemlich auf die Nerven. Und außer dass das langweilig ist, bedeutet das auch, dass wir andauernd Koffer und Taschen und außerdem alle möglichen Rucksäcke voll mit Wäsche hin und her fahren. Das Ein- und Ausladen dauert immer mindestens eine halbe Stunde, wir rasen hin und her wie Eichhörnchen und sehen dabei bestimmt aus wie Vollidioten. Und da hab ich noch nicht mal die Beutel mit den Gläsern mitgezählt, entweder leere oder volle, mit Marmelade oder Kompott. Dann die Tüten mit Äpfeln und Birnen und wer weiß was noch und die Paletten mit Eiern, die man ganz nach oben packen muss, auf die ganze Bescherung drauf. Wenn wir wenigstens mal einfach so fahren würden, einfach die Omi und den Opi besuchen, das würde mir gar nix ausmachen, ich seh sie ja auch gerne, aber so – das ist die Hölle.

Und das Allerschlimmste ist, dass meine Mutter bei der ganzen Wascherei meist ziemlich viel trinkt. Wenn der Papa dabei ist, dann geht’s noch halbwegs, aber sobald der Vorstellung hat oder auf Tournee ist, dann ist die Kacke am Dampfen. Letztes Mal haben sie in der Nacht dann irgendwelche Leute aus dem Ort, nach Hause gebracht, die ich nicht mal kenne, der Opi und die Omi schon. Sie war mal wieder völlig hinüber. Sie haben sie dem Opi zwischen Tür und Angel in die Arme geschoben, so ungefähr: „Herr Direktor, wir bringen Ihnen hier Ihre Kačenka, der ist nicht gut.“

Die haben kaum geschafft sie reinzuschieben, und noch bevor die Tür wieder zu war, ist sie zu Boden gegangen und hat sich im Vorsaal auf dem Fußboden rumgewälzt und ist überhaupt nicht auf die Beine gekommen, obwohl wir mit aller Kraft versucht haben, ihr dabei zu helfen. Wir standen neben ihr, die Omi, der Opi, ich und mein Bruder, der von dem Krawall wach geworden war, alle vier schon im Schlafanzug. Mein Bruder hat laut geheult und die Omi ganz geräuschlos.

Als meine Mutter den Pepíček gesehen hat, da hat sie angefangen zu blöken: „Pepíček! Du bist auch hier! Da bin ich aber froh. Pepíček, nimm mal deine Geige und spiel mir das Lied von der Nelke im Garten vor, das find ich so schön und der Opi auch, stimmt’s, Papi? Was is denn los, hä? Lasst mich! Lass mich, Papi! Lasst mich in Ruhe, verdammt! O Nelke da im Ga-harten, o Rose voller Du-hu-huft …“

„Komm, Kačenka, komm, mein Mädel, wir legen uns hin“, hat der Opi gesagt und schließlich haben wir es doch noch geschafft, sie ins Bett zu bugsieren.

Ich hasse dieses Wäschemachen einfach.

6. Wie Pickel unter der Seife

Als mich die Ema Klepáčová zur Tafel gerufen hat, zum Einschießen, wie die selber das nennt, da hat sie vor Wonne richtig gezittert. Wir sagen dazu jedenfalls Abschießen, das trifft die Sache viel besser. Sie hat sich die Brille geputzt, mit ihrer nicht existierenden Brust gewogt, wild in ihrer Dauerwelle rumgezupft und sich in Erwartung eines erfreulichen Erlebnisses gemütlich auf ihrem Stuhl zurückgelehnt. Man hat gesehen, wie sie sich drauf freut.

„Achtung bitte, Součková“, hat sie gesagt, „machen Sie sich bereit … jetzt! Pskow!? Nichts. Zelinograd!? Nichts. Batumi!? Zu spät, zu spät … Nichts. Neftegorsk!? Nein, nein, nein, ach wo. Nichts. Bratsk!? Wieder nichts. Nichts, Součková, Sie wissen überhaupt nichts. Tut mir leid. Eine Fünf, wie sie im Buche steht.“

Gesagt hat sie zwar, dass es ihr leid tut, aber geguckt hat sie höchst zufrieden.

„Na ja, Součková, Künstlerin, hä? Na ja. Aber ich sag Ihnen was, Sie Künstlerin: Auch ein Schauspieler muss ja wohl nicht total blöd sein, oder was meinen Sie?“

„Ich bin doch gar kein Schauspieler.“

„Und das werden Sie auch nicht! Mit den Leistungen nehmen die Sie nicht mal an der Kunstakademie.“

„Ich will nicht an die Kunstakademie und ich will auch keine Schauspielerin werden, da liegen Sie falsch.“

„Sie liegen falsch, und deswegen kriegen sie von mir auch eine Fünf. Setzen.“

Die Klepáčová hat eine Weile in ihrem Notizbuch geblättert. Es war absolute Ruhe. Vor mir hatte sie schon den Jáchym Joch abgeschossen, und jetzt hat sie das nächste Opfer für die große Leistungskontrolle gesucht. Die kleinen Augen haben hinter den Brillengläsern gefunkelt und die Zungenspitze hat ihr vor lauter Aufregung aus dem lila angemalten Maul rausgeguckt. Ihre Jagdleidenschaft hatte noch nicht nachgelassen.

„Jíchová!“, hat sie siegessicher gequiekt.

Die arme Paťa ist aufgestanden und alle anderen haben aufgeatmet. Es war anzunehmen, dass sie nach der nächsten Exekution endlich Ruhe gibt.

„Also, was ist, Jíchová, was ist …? Wenn Sie freundlicherweise mal Ihren Hintern bewegen würden? Wir haben hier nicht Zeit im Überfluss, heute behandeln wir noch die Aralo-Kaspische Niederung …“

„Analo-Spastischer Niedergang …“, ertönte es von weiter hinten.

„Sie kriegen einen Eintrag, Joch! Ich schreib Ihnen einen Eintrag ins Klassenbuch!“, hat die Alte gekeift.

„Aber ich war das nicht!“

„Das interessiert mich nicht. Ich hab gesagt, Sie kriegen einen Eintrag. Industrie und Abbau des mineralischen Reichtums im asiatischen Teil der Sowjetunion“, hat sie an die Paťa gewandt verkündet. Und während die stockend, aber immerhin gesprochen hat, hat die Klepáčová eine ewig lange Eintragung über das anstößige Verhalten vom Jáchym Joch ins Klassenbuch geschrieben. Als sie endlich fertig war, hat sie eine Grimasse gezogen und zur Klepáčová gesagt: „Sie haben Mangan, Wolfram und Molybdän vergessen. Keine Glanzleistung, Jíchová, wirklich nicht, das kann ich Ihnen sagen. Sie kriegen eine Vier.“

Die Paťa Jíchová ist ein hübsches Mädchen, die Klassenschönste, und das kotzt die Klepáčová noch mehr an, als wir alle vom Poesie-Zirkel zusammen.

„Na ja, Jíchová, Sie sind auch so’n Experte, noch so ’ne ‚Schauspielerin‘, hä? So wie die Součková.“

„Die Součková will aber gar nicht Schauspielerin werden“, hat die Paťa gesagt.

„Das interessiert mich nicht. Aber Sie wollen doch, oder?“

„Ich schon.“

„Na sehen Sie! Die an der Kunstakademie werden über Sie ganz aus dem Häuschen sein, nicht. Bestimmt warten die dort schon mit offenen Armen auf Sie.“

Sie ist sich hinsetzen gegangen, und als sie beim Joch vorbeigekommen ist, da hat er gesagt: „Na ja, Mensch, Paťa, die an der Kunstakademie sind bestimmt total fertig, wenn du nicht weißt, dass in Nowosibirsk Mangan und Wolfram abgebaut werden.“

Er hatte ja eh schon einen Eintrag, also was soll’s. Die Jagd war zu Ende, die Ema ist wieder in sich zusammengefallen und wir haben den Aralsee behandelt. Glaub ich zumindest, ich weiß es nicht genau, weil ich mit Julie Schiffe versenken gespielt hab. Erdkunde ist wirklich ein dämliches Fach. Das ist so unglaublich langweilig, dass es einen Ehrenplatz einnimmt, gleich nach Mathe, Physik und Chemie.

Dann hatten wir Russisch, aber das war entspannt, weil die Krulerová, diese blutrünstige Bestie, wieder mal irgendwo auf Schulung ist, und da hat bei uns die Trnková Vertretung gemacht, um die sich keiner groß gekümmert hat. Ich hab aus dem Fenster geguckt. Über Letná sind die Wolken dahingerast und es hat gestürmt. Man hat den Wind zwar nicht gehört, aber am Fenster ist das Laub vorbeigewirbelt und ab und zu auch Papierschnipsel und Plastetüten. Sogar durch die Scheibe durch konnte man erkennen, wie kalt es draußen wird. Am Morgen hat die Luft nach Rauch und vielleicht sogar nach Schnee gerochen. Viel Laub ist auf den Bäumen auch nicht mehr. Im Kindergarten neben unserer Schule haben sie heute den Sandkasten mit einer grauen Plane abgedeckt. Die Zwerge haben von drinnen zugeguckt, die Nasen am Fenster plattgedrückt, und sie haben ganz traurig ausgesehen. Dazu haben sie auch allen Grund, aber das wissen sie noch nicht. Oder vielleicht doch, wer weiß … Wenn man früh die Mütter von denen trifft, fast nur junge Mädchen, manche werden nicht viel älter sein als wir, dann ist das schon ab und zu mal ziemlich derb.

Neulich wollte ein kleiner Junge was von dem bunten Laub vom Boden aufheben, so ein schönes rotes Blatt, ich hab das total verstanden. Bloß seine Mutter, die hat angefangen an ihm rumzuzerren und hat ihn angebrüllt: „Mach hin, Robert, verdammt! Was affst’n die ganze Zeit rum? Ich werd’ noch wahnsinnig mit dir.“

Und als er angefangen hat zu heulen, da hat sie ihn noch mehr geschüttelt und hat geschrien: „Brüll hier nicht rum! Hörst du? Was brüllst’n so?“

Und sie hat ihm so eine geknallt, dass ihm die Mütze vom Kopf geflogen ist.

„Siehst’e, was du gemacht hast“, hat sie dann zu ihm gesagt.

Mehr hab ich nicht gehört, wollte ich auch nicht. Der arme Robert! Aber wenn der groß ist, dann zahlt er’s der heim. Vielleicht bringt er sie um, wenn er mal Geld für Zigaretten braucht, das kann schnell mal passieren. Bloß, es ist vermutlich viel wahrscheinlicher, dass der mit 18 auch so einen kleinen Robert hat und zu dem dann genauso eklig ist, wie es jetzt die angemalte Kuh da zu ihm gewesen ist.

9. Die Wahrheit ist eine betörende Blume

Der Opa Pepa war bei uns zu seinem alljährlichen Nikolaus- und Weihnachtsbesuch. Apfelsinen, Kokosnüsse, Ananas – alles wie immer. Er hat auch nicht vergessen mit den Apfelsinen zu jonglieren und „Dein Bauch pfeift“ zu spielen. Das veranstaltet er natürlich nicht mehr mit mir, nur noch mit meinem Bruder. Na ja, ich bin zwar nicht mehr so hin und weg wie früher, aber lustig ist das immer noch. Außerdem haben wir alle ein spitze Geschenk gekriegt. Ich ein kleines Transistorradio, aber nicht irgendeins: Das ist ganz winzig, gelb und rund, nur so groß wie ungefähr ein größeres Stück Seife, und es sieht auch so aus. Echt klasse! Für den Pepíček gab’s eine elektrische Eisenbahn mit zwei Waggons, auch so was, das man hier nicht zu kaufen kriegt. Das ist alles aus Westdeutschland, da fährt der Opa mit seiner zweiten Frau, der Eva, immer hin, zu ihrem Sohn, der lebt da schon lange und ist Mannequin. Dem scheint’s gut zu gehen da, und der Opa sieht auch wohlhabend aus. In seiner Wohnung in Vinohrady hat er Ledersessel und ein Ledersofa. Und der hat da sogar so was wie einen Heimspringbrunnen. Ich würde das zwar nicht wollen, weder das eine noch das andere, aber jeder sieht sofort, dass das was Besonderes ist. Allzu oft gehen wir nicht da hin, wahrscheinlich laden die uns nie ein, wir sehen uns höchstens zweimal im Jahr, und da kommt eh der Opa meistens zu uns. Die Geschenke von ihm sind immer toll, da kann man nix sagen, aber nur für mich und meinen Bruder, für unsre Eltern, das kannst’e vergessen. Diesmal hat er für meinen Pa ein Paar gebrauchte Schuhe mitgebracht, dass er vielleicht noch was damit anfangen kann. Der hat sich bedankt und sie behalten, aber ich finde das ziemlich doof, das ist immerhin sein Sohn, auch wenn er schon dreißig Jahre von der Oma Dáša geschieden ist. Ich glaub, meinen Pa wurmt das, aber der spricht nie über so was, und da will ich ihn auch nicht fragen. Das wäre ihm bestimmt unangenehm.

Außerdem ist eine entfernte Tante aus Amerika gekommen, die hat uns ein paar bunte Pullis geschenkt, zwar aus Baumwolle, aber total unbrauchbar, da waren nämlich lauter sinnlose Aufschriften drauf, riesengroß, und die meisten haben auch noch geglitzert. Dazu hat sie noch einen Beutel mit allem möglichen glänzenden Plastescheiß mitgebracht, lauter Haarspangen und Ohrclips und Armbänder wie aus der Losbude und solche furchtbaren runden silbernen Dinger, die man angeblich in Texas anstelle von Schlipsen trägt. Das ist echt genau dasselbe wie früher, als die weißen Männer den Eingeborenen Hände voll bunter Glasperlen gebracht haben. So peinlich ist das! Wieso merken das die Leute eigentlich nicht? Wenn die einem kein richtiges Geschenk geben wollen, dann sollen sie’s lieber ganz bleiben lassen und gar nix schenken. Schließlich will ja keiner was von denen. Oder na ja, manche vielleicht doch, aber meine Eltern ganz bestimmt nicht. Ich hab nie erlebt, dass sie mal gesagt hätten: Der und der kommt, was der uns wohl mitbringt …? Die erwarten von keinem was. Ganz im Gegenteil: Meine Mutter bewirtet sonst wen wie den Kaiser persönlich und reißt sich den Arsch auf, die ist eben einfach so. Bloß, jeder ist eben nicht so, das ist klar. Mich würde nur mal interessieren, ob das am Charakter der Leute liegt oder daran, dass die schon so lange im Ausland leben und in der Zeit ihr Urteilsvermögen eingebüßt haben. Der Vater vom Jáchym Joch zum Beispiel, der ist angeblich nach den vielen Jahren in Amerika trotzdem absolut in Ordnung.

Die Tante hat dem Papa zufälligerweise auch ein Paar gebrauchte Schuhe von ihrem Mann in die Hand gedrückt, aber noch hundertmal scheußlicher als die deutschen. Das da sind so richtig hohe Lederstiefel. Die gehen bis unters Knie und haben eine wahnsinnig spitze, nach oben gebogene Spitze und ziemlich hohe Absätze, und außerdem ist da noch ein Sheriffstern dran, oder was das sein soll. Eben so, wie sie gesagt hat: „Die gefallen dir bestimmt, das sind echte Cowboystiefel. Solche hat bei euch keiner.“

Als sie weg war, da haben sich meine Eltern gestritten, weil die Mama die sofort in den Müll schmeißen wollte, aber der Papa hat behauptet, dass es schließlich schade drum wäre, dass man die nicht wegschmeißen sollte und dass er sie immerhin noch in Zákopy im Garten anziehen kann.

„Und uns vor den Leuten blamieren!“, hat die Mama geschrien. „Glaubst du, dass in Zákopy alle so blöd sind, nur weil sie vom Dorf sind? Wie ich zum Beispiel? Oder mein Vater und meine Mutter?!“

Na ja, das hatte ja nun nix mehr damit zu tun. Mich schreit sie auch immer so an, wenn ihr nicht gefällt, was ich bei der Oma anziehen will. Aber die Schuhe sind wirklich hässlich. Am Ende haben sie sie nicht weggeschmissen, sondern in den Schuhschrank gesteckt, von wegen: mal sehn, und dann haben sie bis abends nicht zusammen geredet. […]

Aber ich muss sagen, dass unsere amerikanische Tante, die meinen Eltern ihre Schätze einfach so in einem Beutel gegeben hat, immer noch besser ist als der Onkel von der Julie aus Australien, der auch gerade zu Weihnachten hier zu Besuch war. In letzter Zeit sind überhaupt alle möglichen Leute hier gewesen. Irgendwie alle außer meinem Vater und Woody Allen – das sind zwei, die ich irgendwann gern mal mit eigenen Augen sehen würde. Vielleicht weicht der Sozialismus ja schon ein bisschen auf, wer weiß …

Der Bruder vom Herrn Mol, der bringt immer die gleichen oder sogar noch schlimmere Geschenke mit als unsere Tante, und zu all dem will der auch noch die Übergabe so richtig auskosten. Dieses Jahr auch. Die ganze bucklige Verwandtschaft, Opa, Oma, alle drei Mol-Brüder mit ihren Frauen und Kindern, eben einfach alle sind bei den Mols im Wohnzimmer zusammengekommen. Der Onkel aus Australien hat den Ehrenplatz an der Stirnseite vom Tisch eingenommen, hat lauter Beutel und Tüten um sich rum ausgelegt, und dann ging’s los.

„So, meine Lieben, ich bin froh, dass ich euch mal wieder alle zusammen sehe, ihr wisst gar nicht, wie froh und auch – ich scheue mich nicht, das zu sagen – wie stolz mich der Anblick auf eure aufblühende, zahlreiche Familie macht, auf unser Geschlecht.“

„Vlastimil, Entschuldigung“, hat sich die Frau Mol zu Wort gemeldet, „der Opa will was sagen.“

„Was denn, Papi?“, fragte der australische Mol ein bisschen vergnatzt, dass ihn jemand unterbricht.

„Ach“, hat der Opa Mol abgewinkt, „das war nur alles hier so schwer.“

„Na sicher, Papi, für mich auch, du ahnst gar nicht, wie oft und wie sehr auch ich es schwer hatte, aber ich hab die Zähne zusammengebissen, obwohl mir oft nicht gerade zum Singen zumute gewesen ist. Es ist eine schlimme Zeit, keiner von uns hat’s leicht.“

„Ich hab aber das Essen gemeint, Vlastimil“, hat der Opa gesagt, dann ist er aufgestanden und aufs Klo gegangen.

„Ladislav“, hat sich der australische Mol an den Mol von Julie gewandt, „fängt unser Vater an, ein bisschen senil zu werden?“

„Ach wo“, hat der Herr Mol gesagt, „die Milada hier, die macht nur die Soßen immer so fett. Die pure Sahne.“

„Meine liebe Milada, das solltest du nicht tun, wir in Australien haben diesen Trend längst hinter uns gelassen. Leichte Ernährung – leichtfüßiger Gang. Und uns geht’s besser, viel besser.“

Und der Mol aus Australien ist aufgesprungen und hat vorgemacht, wie leichtfüßig er durch sein schweres Leben trabt.

„Du gehst schon, Vlastimil?“, hat der Opa gefragt, der inzwischen vom Klo zurückgekommen ist.

„Natürlich nicht. Wir haben nur auf dich gewartet, Papi. Nur auf dich!“, hat der Vlastimil ein bisschen vorwurfsvoll gesagt und ist dann endlich zur Tat geschritten.

„Also was haben wir denn da?“, hat er sich selber immer rhetorisch gefragt und im Beutel rumgefischt.

„Was das wohl ist, was glaubt ihr? Neugierig, hm? Was könnte das sein? Na? Was wohl …? Da haben wir’s! Etwas zur Inspiration – für unsere Julie.“ Und er hat einen dicken Katalog von irgendeinem Kaufhaus auf den Tisch geknallt.

„Tesco“, hat er gesagt. „In Farbe!“

Und die Julie musste hingehen, sich das nehmen und artig und mit einem Lächeln danke sagen. Das mit dem Lächeln hat aber scheinbar nicht ganz hundertprozentig geklappt und der Onkel ist gleich ganz pikiert gewesen.

„Ja was denn? Gefällt er dir nicht?“

„Doch“, hat die Julie gesagt, aber nur, weil sie mitgekriegt hat, wie ihr Vater und ihre Mutter mit flehentlichen Blicken an ihr hängen. Aber das Ganze war eh schon verkorkst.

„Mädel, du glaubst doch wohl nicht, dass ich dir amerikanische Zigaretten mitbringe oder so was. Ich hab mitbekommen, dass ihr raucht, du und die Hana. Heute eine Zigarette, und morgen schmierst du dir dann … Lancôme aufs Toastbrot.“

„Indulona“, hat die Julie angemerkt.

„Wie bitte?“

„Höchstens Indulona“, hat die Julie noch mal gesagt. „So heißt die Handcreme hier. Lancôme gibt’s bei uns nicht.“

Onkel Vlastimil ist bitterböse aufgesprungen, aber alle Verwandten haben angefangen ihn zu beruhigen und haben gesagt: „Ach, du weißt doch, Vlastimil, diese Pubertät …“ Und so weiter, bis er sich am Ende besänftigen lassen hat und zum Tisch zurück ist und noch mehr Zeug verteilt hat: einen Haufen wunderschöne, bunt bedruckte Plastebeutel, einen Stoß Reklamezettel, irgendwelche Kulis, auch Werbekram, ein paar Büchsen Erdnüsse, nur geringfügig abgelaufen, drei Päckchen Zellstofftaschentücher in einer wunderschönen Verpackung mit einem Känguru, einige Paar Stäbchen aus echtem Holz, mit denen man chinesisches Essen richtig konsumiert, was er am Inhalt der Zuckerdose vorgeführt hat, und einen Berg von kleinen Shampoos und Seifen, die’s dort bei denen umsonst in jedem besseren Hotel gibt. Und alle mussten sagen: „Oh!“, und: „So was Schönes!“

„Wir danken dir, Vlastimil, das können wir gut gebrauchen. Du hättest dich nicht so in Unkosten stürzen sollen!“

Und als die Julie gedacht hat, dass die ganze Quälerei endlich ein Ende hat, da hat der australische Mol ganz besonders feierlich geguckt und gesagt: „Und jetzt Achtung, bitte! Was haben wir denn da noch? Ein Geschenk ist noch übrig … Für wen das wohl ist, was meint ihr? Na für die Milada natürlich, für die Dame des Hauses. Schließlich hat sie sich’s verdient.“ Und er hat unterm Tisch so ein zerknautschtes Stück Wachstuch vorgezogen und das Ding ganz zeremoniell ausgeschüttelt, damit alle sehen, was da drauf steht: Dr. Oetker Backpulver – hübsch garnieren, nett servieren!

„Für eine ausgezeichnete Hausfrau – eine sexy Schürze! Aber du darfst nicht so viel futtern, Milada, sonst kannst du sie bald nur noch als Sabberlätzchen benutzen.“

Und er hat dermaßen gelacht, dass er sich seinen flachen Bauch halten musste, und die Milada ist aufgestanden, ganz blass, nur um die Augen rum gerötete Ringe, genauso wie bei der Julie, wenn sie die Krise kriegt, dann ist sie zu ihm hingegangen um sich das scheußliche Teil abzuholen, sie hat gelächelt, echt glaubwürdig, und dann hat sie ganz artig gesagt: „Dank dir, Vlastimil, ich hab eh gerade eine gebraucht.“

Die Julie ist aus dem Zimmer gestürmt, vors Haus gerannt und hat sich eine Zigarette angezündet, obwohl sie ansonsten natürlich zu Hause nicht raucht und das vor ihren Eltern ängstlich geheim hält, und als der Antipode dann gegangen ist und die ganze Entourage von Verwandten ihn noch bis raus gebracht hat, wollte sie sich eigentlich ganz normal verabschieden, aber dann sind ihr wieder die roten Ringe im weißen Gesicht von ihrer Mutter eingefallen, und stattdessen hat sie gesagt: „Onkel Vlastimil, hast du nicht vielleicht ein paar gebrauchte Kondome?“

Und die Mutter, in der einen Hand immer noch den Dr. Oetker, hat ihr eine geknallt. Deswegen mussten wir den Poesie-Abend verschieben, weil die Julie Stubenarrest hat bis Ende Dezember.

Ach, es geht eben nicht. Es funktioniert einfach nicht! Man sieht, was für arme Schweine die Eltern sind, wie schlecht sie dran sind, wie traurig sie sind, abgestumpft und unglücklich, und man will ihnen helfen – oder vielleicht eher nicht, das geht nicht. Aber wenigstens mit ihnen darüber reden, über seine eigenen Angelegenheiten und über ihre Angelegenheiten, über das, was wichtig ist, wie mit ganz normalen Menschen. Und die? Die wollen das nicht zulassen. Auch meine Eltern nicht, obwohl die vielleicht nicht so furchtbar verkrampft sind wie die Mols. Meine Eltern lügen ganz verdammt mit ihrem Körper. Es sieht immer so aus, als würden sie alles verstehen, dass man mit ihnen über fast alles reden kann – aber das ist eben nun mal nicht wahr. […]

 

© Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch, 2008 /info@worte-und-orte.de/