Lidmila Kábrtová

Orte in der Dunkelheit

2018 | Host

Vanillekipferl

Heute passte es Klára überhaupt nicht. Sie kam spät aus dem Haus, der Bus ins Zentrum fuhr ihr vor der Nase fort und nach ein paar Hundert Metern durch den nassen Schnee musste sie einsehen, dass sie nicht die richtigen Schuhe anhatte. Die Stiefel saugten die Feuchtigkeit auf und Klára fühlte, wie sie an ihren Füßen schwerer wurden, das Leder nass wurde und die Feuchtigkeit in die Socken drang. Sie blieb stehen und trampelte heftig auf der Stelle herum, um den Schneematsch loszuwerden. Aber bei jedem Aufstampfen spritzten neue Wassertropfen durch die Gegend – feuchte Stellen breiteten sich jetzt nicht nur auf den Schuhen sondern auch den Hosen aus. Sie schaute zum Haus zurück. Wie weit war das? Vierhundert Meter? Wenn sie sich beeilte, könnte sie die Stiefel gegen Goretex-Schuhe austauschen, die Stiefel auf Zeitungspapier zum Trocknen auf die Heizung stellen, und dann schafft sie es noch einzukaufen, die Vanillekipferl zu backen und alles vorzubereiten, bevor Marek kommt. Weihnachten ist in zehn Tagen und die Vanillekipferl müssen noch eine Weile liegenbleiben. Sie wird sie in einer Schachtel auf die Terrasse legen, da stehen sie in der Kälte und ziehen durch. Auch im vergangenen Jahr hatte sie sie dort hingelegt und Marek hatten sie geschmeckt, er merkte gar nicht, dass sie nicht nach dem Rezept seiner Mutter gebacken waren. Nicht einmal die Mutter selbst bemerkte das. Klára hatte ein eigenes Rezept gefunden und das benutzt. Marek hatte sich ein Plätzchen genommen und dann gesagt: Ja, ganz gut.

Auch jetzt hatte sich Klára das Rezept zurechtgelegt. Sie schrieb sich am Tisch im Wohnzimmer die Zutaten auf – Butter, Haselnüsse, auch Walnüsse, Vanille und noch andere Zutaten. In diesem Jahr würden es schöne Weihnachten werden, nicht so wie im vergangenen Jahr. Sie wusste schon, wie sie es machen musste. Schnell lief sie zum Haus zurück. Auf den Weg achtete sie nicht, sie hatte es eilig, die Stiefel waren sowieso schon durch.

* * *

Das Telefon klingelte in dem Moment, als sie sich den zweiten Goretex-Schuh anzog. Marcelas Nummer leuchtete auf dem Display. Sie zögerte. Marcela trennte sich wahrscheinlich von einem weiteren ihrer jungen Verehrer, soweit man Herren um die 35 jung nennen konnte. Von einem unter vielen. Klára erinnerte sich nicht an seinen Namen, obwohl Marcela sie über alle ihre Entdeckungen regelmäßig informierte. Und auch über die Details von Nächten in Bars, angetrunkenen Küssen, das Gefummel und schließlich auch die gegenseitige körperliche Befriedigung in Marcelas Wohnung. Marcela nahm die Typen immer mit zu sich.

„Ich will es dabei sauber haben und das garantiert mir niemand anderes“, erklärte sie Klára mit jedem neuen Typen immer wieder.

Marcelas Telefonate dauerten lange und es ging um nichts, und weil sich Marcela ähnliche Männer aussuchte, ähnelten sich auch die Trennungen.

Nein, heute würde sie nicht rangehen. Weihnachten, Marek, Einkauf, Rezept, Vanillekipferl… sprach sie sich zur Sicherheit dreimal vor, um auch nicht den leisesten Zweifel aufkommen zu lassen. Und dann, als sie zum dritten Mal das Wort Kipferl aussprach, drückte sie auf dem Handy den Knopf, um das Gespräch anzunehmen und legte es sich ans Ohr.

„Ich blute.“ Marcelas Stimme klang anders als sonst. Das war nicht die schrille Stimme, an die Klára gewöhnt war und in der Marcela auf den Typen schimpfte, von dem sie sich hat ficken lassen.

„Halt durch“, schrie Klára ins Telefon. „Ist es schlimm? Soll ich den Krankenwagen rufen? Wo blutest du denn?“, versuchte sie wenigstens etwas aus Marcela herauszubekommen, aber das Telefon war schon stumm.

Sie tastete in der Tasche herum. Ja, die Autoschlüssel waren da drin. Sie wäre schnell dort. Wieder drückte sie die Schlüssel in den Fingern. Aber es war ein bisschen überfroren und sie hatte Angst, im Winter zu fahren. Sie ließ die Schlüssel wieder zurückrutschen. Sie lief aus dem Haus und schaute in Richtung Haltestelle. Die war weit entfernt, das hier war ein Außenbezirk und der Bus fuhr in großen Intervallen. Sie lief trotzdem los, vielleicht hatte sie Glück. Dann sah sie aber das Taxi. Sie winkte. Es hielt an.

Als ihr Marcela fünfzehn Minuten später die Haustür öffnete, brauchte sie das Taschentuch für die blutende Nase fast nicht mehr.

„Hast du Eis, oder wenigstens gefrostete Erbsen?“, platzte sie heraus, kaum hatte sie Marcela zurück ins Haus gedrückt.

„Hab ich“, näselte Marcela, immer noch mit dem Taschentuch gegens Gesicht gepresst. „Die Erbsen hab ich mir gleich daraufgetan…“

„Sonst hast du nichts weiter?“, fragte Marcela vorsichtig.

Obwohl sich Marcela in der Beschreibung von Intimitäten nie einschränkte und Klára immer mit Details überschüttete, schaffte Klára es nicht, solche Dinge zu fragen. Auch jetzt kreiste sie vorsichtig wie ein Kätzchen um eine zu große Beute, die es keine Chance hatte zu fangen.

„Was sollte mit mir sein?“, entgegnete Marcela scharf. „Ich hatte Wahnsinns-Sex, damit du´s weißt! Viktor ist göttlich!“

„Und was ist mit der Nase, das Blut?“ Klára ließ das keine Ruhe.

„Ein kleiner Unfall, und? Seid du und Marek nicht auch manchmal wild dabei?“

„Aber du hast mich angerufen“, überging Klára Marcelas Frage.

„Hättest du mich ausreden lassen, hätte ich dir gesagt, dass ich endlich einen tollen Typen getroffen habe! Nur dass er mir unvorsichtigerweise das Knie in die Nase gestoßen hat und da ist mir eine Ader geplatzt.“

„Du warst nicht mehr zu erreichen…“

„Der Akku war leer.“ Marcela seufzte. „Ich dachte nicht, dass du gleich angerannt kommst. Und hysterisch bist. Und draußen ist es fast dunkel…“

Dunkel! Marek mag es nicht, wenn er von der Arbeit kommt und sie ist nicht da. Und wie kommt sie jetzt heim? Klára erschauerte. Wäre sie nicht zurückgegangen, um die Schuhe zu wechseln, hätte sie es geschafft.

Die Schuhe! Das fiel ihr jetzt erst ein. Die stehen noch auf der Heizung im Eingang. Was hatte sie noch vergessen? In Gedanken ging sie Raum für Raum ab. Das Fenster im Bad geschlossen, der Müll sortiert, in der Spüle keine Tasse, am Teppich im Arbeitszimmer die Fransen ordentlich hingelegt.

„Ich muss nach Hause. Ich rufe mir ein Taxi“, sagte sie und schaute auf die Uhr. Sie wählte die Nummer für den Taxiservice, sicher im Handy gespeichert, und verhandelte eine Weile mit jemandem.

„Trinkst du einen Kaffee, wenn du schon mal hier bist?“, fragte Marcela. „Das Taxi kommt sowieso nicht gleich, da kannst du wenigstens im Warmen warten.“

„Ich warte draußen, sie haben gesagt, dass der Wagen in ein paar Minuten da ist.“

„Marek wartet, ja?“, lachte Marcela auf. „Immer super drauf, gebügeltes Hemd und jeden Freitag ein Rosenstrauß. Das Haus wie ein Käfig, immer aufgeräumt. Wir haben dich alle um ihn beneidet“, seufzte sie.

„Ich muss noch Vanillekipferl backen. Für Weihnachten. Marek mag die so gern“, sagte Klára und wich zur Tür zurück.

* * *

Es war kälter geworden, Klára spürte, wie der überfrierende Schneematsch unter ihren Füßen eisig knisterte. Es fing wieder an zu schneien. Früher, als noch niemand kontrollierte, wie viel Zeit sie wo verbringt und was sie macht, als niemand wollte, dass alles immer und zu jeder Zeit perfekt aufgeräumt an seinem Platz lag, blieb Klára gern einfach so stehen. Vielleicht um den Schneeflaum, der sich langsam auf ihren Mantel setzte, anzuschauen und sich von der architektonisch perfekten sechseckigen Struktur der Flocken verzaubern zu lassen, die am Wollstoff hängenblieben. Manchmal streckte sie die Hand aus, nur so, und wartete, dass einer dieser mikroskopischen Eiskörper auf ihrem Handgelenk landete, dem Handrücken oder einem Finger und sich dort in einen ganz gewöhnlichen Wassertropfen verwandelte.

Jetzt schüttelte sie den Schnee vom Mantel. Zeit! Nur die allein war wichtig. Früher als Marek nach Hause kommen. Die Schuhe wegräumen. Ihr liegt etwas an Marek. Er soll zufrieden sein. Er soll sich mit ihr wohlfühlen. Schließlich kümmert er sich sehr um sie. Das sagt er gern immer wieder. Dass sie zu Hause sein kann. Nicht zur Arbeit muss. Und er möchte nichts weiter, als dass sie ihm das entsprechende Hinterland bereitet.

Das Taxi rutschte auf der überfrierenden matschigen Schneedecke und der Fahrer fuhr ihrer Meinung nach immer langsamer. Auf die Uhr schaute Klára nicht, sie überprüfte nur in Gedanken das Haus, jeden Raum. Sie konzentrierte sich auf Details. Die geordneten Teppichfransen, die ausgerichteten Buchrücken, den sorgfältig sortierten Müll, die Töpfe, die an den genau bestimmten Plätzen in der Küchenzeile hingen. Marek liebte Details. Genauso wie die Rosen, die er jeden Freitag für das regelmäßige samstägliche Mittagessen mit seiner Mutter kaufte; kochen musste Klára es ausnahmslos nach deren Rezept. Nachdem die Mutter gegangen war, nahm er jedes Mal die Rosen aus der Vase vom Esstisch und warf sie fort, auch wenn sie nach Kláras Meinung völlig in Ordnung waren, nur dass Marek sie schon für alt hielt.

Die verfluchten Schuhe! Sie erinnerte sich an das vergangene Weihnachten. Das Haar, das in der Dusche liegengeblieben war. Sie hatte es nicht bemerkt, obwohl sie jedes Eckchen in der Dusche sorgfältig geputzt hatte. Er weckte sie in der Nacht, obwohl er es schon am Abend gefunden haben musste. Sie erinnerte sich nicht, was er gesagt hatte. Eigentlich erinnerte sie sich auch nicht, was er zu anderen Zeitpunkten gesagt hatte, in anderen Nächten. Was er wegen des Shirts sagte, das aus dem geordneten Stapel herausschaute, wegen der Butter, die im falschen Kühlschrankregal lag, des Shampoos, das auf der falschen Seite der Wanne stand, des Staubs auf dem Finger, mit dem er über die Bildkante fuhr. In jener Nacht stand sie auf und säuberte die Dusche aufs Neue. Dann machte sie in der Küche Licht und bereitete bis zum Morgen Plätzchen vor. Sie tauchte ein Stück nach dem anderen in Schokolade, bestreute sie mit bunten Zuckerkügelchen, bestrich sie mit Marmelade, verzierte sie mit Mandeln und Zitronatstückchen. Plätzchen mit Nussfüllung, Cremerollen, Linzer Plätzchen, Bärentatzen. Die Vanillekipferl ließ sie sich zum Schluss. Die bestäubte sie nur vorsichtig mit Puderzucker mit Vanille gemischt und ordnete sie sorgfältig auf einen Teller.

Als am nächsten Tag Mareks Mutter kam, erkannte sie nicht, dass diese Kipferl mit ihrem Familienrezept nur wenig gemein hatten. Sie lobte sie sogar. Wann immer Klára daran dachte, lächelte sie. In dem Jahr machte sie fünfunddreißig Sorten Plätzchen zu Weihnachten, obwohl sie selbst keine aß. Auch Marek aß sie nicht, wenn man nicht dieses eine Kipferl mitrechnete.

Aber sie buk. Wenn sie buk, hatte sie Ruhe. Sie hatte die Nächte für sich, die Röhre, die Hitze ausstrahlte, Bleche voller aufgereihter Plätzchen, Mehltüten, Butter, Kakao und geriebene Nüsse. Und vor allem hatte sie Stille und durchwachte Nächte, in denen niemand kommen und sie unerwartet unter irgendeinem Vorwand wecken konnte. Sie lernte, in der Nacht zu backen. Und auch zu bügeln und Staub zu putzen.

Auch in diesem Jahr hatte sie volle Schachteln. Sie buk seit November. Mehr als vierzig Sorten. Die Plätzchen schenkt sie dem Kinderheim, das hat sie schon mit ihnen verabredet.

Endlich hielt das Taxi vor dem Haus an. Mareks Auto stand nicht am gewohnten Platz. Sie lief die Treppenstufen hinauf, nahm die Schuhe von der Heizung, sie waren schon trocken, und räumte sie hastig in den Schuhschrank. Dann nahm sie die vom Schneematsch schmutzige Zeitung vom Heizkörper, faltete sie sorgfältig zusammen und warf sie in die Box für die Mülltrennung.

Gleich darauf hörte sie Mareks Auto. Auch ihn hatte das Eis auf den Straßen aufgehalten. Er trat mit einem Strauß Rosen ein und Klára lächelte ihn an. Er zog die Schuhe aus und die Hausschuhe an und öffnete die Tür zum Speisezimmer. Er machte zwei Schritte und blieb dann stehen, den Blick unverwandt auf den Tisch gerichtet. Neben der vorbereiteten Vase lag ein kleines kariertes Heft mit dem Rezept für Vanillekipferl herum.

Unter Wasser

Das brennt! Das brennt schrecklich. Ich zucke mit den Händen zurück und die Gaze mit der Flüssigkeit, mit der mir der Doktor die Handflächen abreibt, fällt auf die Erde.

Der Doktor schaut mich böse an, packt mich an den Handgelenken und zieht die Hände wieder zu sich heran. „Halt still“, zischt er und nimmt sich neue Gaze.

Er hält mich für homeless, also duzt er mich. Ich weiß, dass ich in diesem Moment wie eine Obdachlose aussehe, weil ich die schmutzige Jogginghose anhabe und die zerrissene Jacke. Also schweige ich und halte die Hände still. Auf dem Gehsteig steht ein Häufchen Leute und schaut in unsere Richtung. Ich weiß, dass sie vor allem nach dem Mädchen schauen, dass in der Straßenbahn umgekippt ist und jetzt im Krankenwagen darauf wartet, fortgebracht zu werden, aber trotzdem. Die Leute tun mir nicht gut. Das Mädchen windet sich außerdem auf der Trage so, als wollte sie herunterspringen. Der Sanitäter schaut jeden Augenblick zu ihr hin, dann stellt er sich lieber neben sie.

Der Doktor sagt etwas, ich weiß nicht, was, denn ich höre nicht zu. Wahrscheinlich fragt er, wo ich mir die Hände so aufgeschürft habe. Und warum ich so schmutzig bin. Jetzt siezt er mich, er hat wohl begriffen, dass ich keine Obdachlose bin. Aber ich möchte ihm nichts sagen.

Ich bin furchtbar müde. Schweige. Schließe die Augen. Zuerst verschwindet der Doktor, dann der Krankenwagen und schließlich auch die Leute an der Haltestelle. Es bleiben nur Laute. Das Bimmeln der Straßenbahn, entfernte Gespräche irgendwelcher Leute, brummende Autormotoren. Und es bleibt das Brennen an den Händen, weil sie der Arzt immer weiter mit Desinfektionsmittel säubert.

Dann verschwinden auch alle Laute, auch wenn ich weiß, dass sie in Wahrheit noch da sind, genauso wie all die Menschen und die Dinge, dass sie nirgendwohin verschwunden sind. Das einzige, was ich in diesem Augenblick höre, ist Rauschen. Ich höre es klar und deutlich, auch wenn ich weiß, dass es kein anderer hört, weil das Rauschen in mir ist, in meinem Kopf. Ich weiß, was das für ein Laut ist. So rauscht Wasser, wenn es aus dem Hahn in die Wanne läuft und man den Kopf unter Wasser hat. Und das Rauschen ändert sich, je mehr Wasser in die Wanne läuft.

* * *

Radim schnitt sich die Fußnägel kantig. Oben waren sie schnurgerade, wie mit einem Lineal gezogen, an den Enden hatten sie scharfe Ecken, mit denen er ständig an den Socken riss, bis sie Löcher bekamen. Auf die Socken stieß ich aber erst viel später. Zum ersten Mal sah ich das in der Badewanne. In seiner Badewanne.

* * *

Radim sah wie ein netter Kerl aus. Er benahm sich wie ein netter Kerl. Nicht so wie all diese aufgeblasenen Typen, die zu uns ins Wellness-Zentrum in die Sauna, den Whirlpool oder das Solarium kamen und mich keines Blickes würdigten, nur immer auf das Pult an der Kasse das entsprechende Geld warfen und sich den Chip für die Umkleideschränke nahmen.

Auch Radim sah gut aus und gefiel den Frauen. Ich wusste das, weil Frauen im Unterschied zu den Kerlen meistens zu zweit ins Schwimmbad oder zu den Sportkursen gehen, und gleich gegenüber meiner Kasse war die Minibar. Man konnte da isotonische Getränke kaufen, verschiedene Energy- und Protein-Riegel und es gab einen Kaffee-Automaten. Vor der Minibar standen ein paar Tischchen mit Stühlen. Dort setzen sich die Weiber nach dem Schwimmen hin und quatschten über Kinder, Ehemänner, Lover, Chefs, aber auch die Männer, die zur selben Zeit wie sie im Schwimmbad waren. Über Radim sprachen sie recht häufig. Er war ziemlich groß, und wenn er auch schon an die Vierzig war, sah er gut aus, breite Schultern, überhaupt kein Bauch. Und auch kein goldener Ring am Finger. Manche saßen da ziemlich lange rum und hielten unauffällig Ausschau, ob er schon geht, ob sie sich unauffällig anschließen könnten oder ihn wenigstens zu einem Kaffee überreden und irgendwelche Infos über ihn herausfinden. Aber er ging jedes Mal nur durch das Drehkreuz, legte mir den Schrankschlüssel aufs Pult, lächelte, sagte Auf Wiedersehen und ging.

Eigentlich weiß ich nicht einmal genau, wann er anfing, sich mit mir zu unterhalten. Das war wohl, als ich versuchte, im Süßigkeitenautomaten die Ware aufzufüllen. Ich legte mir die beiden Kartons mit den kleinen Schokoladen, Keksen, Riegeln mit Kokosfüllung und kandierten Cranberries auf einen hohen Barhocker, um mich nicht ständig bücken zu müssen. Und dann bin ich wohl irgendwie dagegengestoßen. Vielleicht. Wahrscheinlich. Alles fiel herunter und verteilte sich aus den Kartons auf dem Fußboden. Ich sammelte die angeschlagenen Kekse und Schokoladen zusammen und heulte und er kam gerade in die Tür, sah sich das Malheur an, hockte sich dann neben mich und half mir alles aufzusammeln. Die zerbrochenen taten wir in die Kartons zurück, die, die in Ordnung zu sein schienen, legte er ordentlich in den Automaten. Dann zählte er alle zerbrochenen, legte mir das Geld dafür aufs Pult und ging.

Danach blieb er jedes Mal, wenn er kam, bei mir stehen. Immer wenigstens für ein Weilchen. Er war Entwickler, dachte Spiele für Telefone aus. Ich begriff, dass er zu Hause arbeitete. Ins Schwimmbad kam er zur Erholung, den Kopf frei bekommen, wie er das nannte. Und um sich ein bisschen zu bewegen. Außerdem, meinte er, ginge er nur noch in die Bibliothek. Er war lieb, höflich, interessierte sich. Nicht einmal warf er mir vor, dass ich nur Kassiererin war.

Er gefiel mir, sogar sehr. Als er mich zu sich nach Hause einlud, nickte ich. Uns war beiden klar, was kommen würde. Das Bett. Nur landeten wir in der Wanne.

Der Vorschlag gemeinsam zu baden, überraschte mich, aber als ungewöhnliches Vorspiel konnte das nett sein. Und so nickte ich. Nett war auch, dass er mich nicht wie alle in der Umgebung Petra nannte oder Petja, sondern zärtlich Peti.

Er hatte eine schöne Wanne, eine Eckwanne, die mit einem ausdrucksstarken geometrischen Muster gefliest war, mit ein paar Stufen, über die man in die Wanne stieg. Er drehte die Hähne auf und regelte mit der Hand die Temperatur des Strahls. Als die Wanne fast voll war, schüttete er eine Handvoll Badesalz hinein und noch irgendetwas.

„Das sind Kräuter“, sagte er und ich erkannte erst jetzt die getrockneten Blütenblätter von Ringelblumen, die langsam das Wasser aufsogen.

Er stieg als Erster ins Bad. Ich warf schnell meine Sachen ab und tauchte prüfend den Fuß ins Wasser. Es war angenehm warm. Er saß in der Ecke der Wanne, die Beine gespreizt, so dass ich begriff, dass ich mich dazwischen setzen sollte. Ich lehnte mich mit dem Rücken an ihn. Er hatte keine Erektion, das überraschte mich. Das Wasser duftete angenehm. Er nahm sich Duschgel in die Handfläche, rieb sich die Hände, um es auch auf die andere Hand zu verteilen, und begann es mir auf den Schultern zu verteilen, auf der Brust, auf dem Bauch. Er drückte sanft kreisend mit den Fingern in die Haut, zeichnete Linien, Wellen, Kreise, bis mein ganzer Körper mit feinem Seifenschaum bedeckt war.

„Zieh die Beine an“, sagte er.

Ich gehorchte.

Dann drückte er mit den Händen auf meine Schultern. Ich begriff, zog die Knie bis ans Kinn und rutschte bis zum Hals ins Wasser. Das Wasser wusch den Schaum ab. Sein Druck ließ aber nicht nach. Jetzt legte er mir die Hände auf den Kopf und drückte wieder. In meinem Rücken spürte ich seine Erektion. Ich drehte mich leicht zu ihm um und lächelte, dann holte ich Luft und tauchte unter.

Den Kopf hatte ich unter Wasser, die Haare breiteten sich um mich herum aus, sie waren von kleinen Luftbläschen umgeben, meine Knie ragten aus dem Wasser. Auf dem Scheitel spürte ich Radims erigierten Penis. Ich erwartete, dass er mich aus dem Wasser zieht und mich auf sich setzt oder mich ins Schlafzimmer führt oder einfach im Bad Handtücher auf den Boden wirft und wir es dort machen, wund, angeschlagen, aber befriedigt.

Er ließ mich im Wasser. Ich weiß nicht, wie lange. Eine Minute, vielleicht, ich weiß nicht. Dabei fuhr er mir mit den Beinen über den Körper, über die Hüften, die Schenkel. Und damals spürte ich zum ersten Mal seine scharfen Nägel. Sie kratzten mich, hinterließen auf der Haut feine Linien, markierten die Wege, die er sich in meinen Körper trat.

Er ejakulierte ins Wasser. Nie wieder badeten wir danach zusammen, auch wenn ich Tag um Tag in dieser Wohnung verbrachte. Fast drei Jahre lang.

* * *

Am Anfang war es schön. Schön und überraschend.

„Peti, schließ die Augen und komm.“ So fing es immer an. Radim nannte das Entdeckungen.

Ich kniff die Lider zusammen und machte einen Schritt in seine Richtung. Das war so etwas wie ein verabredetes Signal, dass wir wieder dieses Spiel spielen werden.

„Braves Mädchen“, lobte er mich. Dann verband er mir die Augen mit einem Tuch. Und dann hing alles nur noch von ihm ab. Immer nur von ihm. Schokolade, Honig, Schlagsahne oder auch rohe Eier. Verbundene Augen und Hände. Bett, Teppich im Flur, Küchentisch, Bodenfliesen im Bad. Ohne Bewegung liegen. Stundenlang, fast immer stundenlang. Radims Mund, Lippen, Zunge, Stoppelbart, der meine Haut piekte wie Igelstacheln, dann seine Hände, sein Körper auf meinem und die Beine. Und dann der Schmerz … Scharfe Nägelkanten, die sich in die Haut gruben.

Ich versuche es auszuhalten, aber dann zische ich vor Schmerz. Ich will nicht zischen, aber ich zische.

In dem Moment bäumt er sich meistens auf.

Meistens ist es auf mir, in mir kaum einmal.

„Könnte man das nicht rund schneiden?“, entschließe ich mich zu fragen und nicke dabei in Richtung seiner Füße. Wir sind nicht mehr erst einen Tag zusammen, oder einen Monat, sondern lange.

Er sagt nichts darauf. Aber ansonsten ist er immer noch genauso lieb, genauso nett.

** *

Die Wege auf dem Körper werden immer mehr, feine weiße Linien. Auch wenn sie nach ein paar Augenblicken verschwinden, sehe ich sie immerzu. Fühle sie. Zu der Zeit arbeite ich noch. Ich höre auf, kurze Röcke zu tragen. Dann Kurzarm-Shirts. Auch an schwülen Tagen ist mein ganzer Körper unter Stoff versteckt.

Radim geht nicht mehr ins Schwimmbad. Er wartet immer ungeduldiger auf mich. Er weiß, wann ich Schluss habe, wie lange ich für den Weg von der Arbeit brauche, wie lange ich zum Einkaufen brauche. Er hat alle Zeiten ausgerechnet, alle Möglichkeiten, hat alle unerwarteten Eventualitäten eingerechnet, wie er das nennt, zum Beispiel eine Schlange an der Kasse. Ich bemühe mich, rechtzeitig zu Hause zu sein, ihn nicht zu enttäuschen, und so renne ich jedes Mal fast. Er ist zu Hause, in dem Zimmer, das er Arbeitszimmer nennt, da gehe ich nicht rein. Seine Ungeduld stört mich nicht, eigentlich rührt sie mich. Er sorgt sich um mich. Kocht für mich, wäscht, bügelt, massiert mich, wäscht mir die Haare, rasiert meine Körperhaare, rasiert mich überall. Noch niemand hat sich so um mich bemüht. Er ist nett, schrecklich nett. Deshalb stört das andere nicht. Weil das andere nur immer mal passiert.

Ansonsten ist unser Leben recht normal. Wir haben auch normalen Sex. Zwar selten, aber wir haben welchen. Also ich habe welchen. Radim bringt mich zum Höhepunkt, mit dem Mund, der Zunge, den Fingern, aber er selbst ist nicht erregt.

„Was hättest du gern?“, frage ich.

„Das würdest du wohl nicht wollen…“, sagt er in diesem lieben, freundlichen Tonfall, in dem er sich mit den Leuten unterhält, mit den Nachbarn, der Postfrau, mit der Frau an der Kasse im Supermarkt.

„Das weißt du nicht.“

Er zögert. Schweigt.

„Hast du Angst?“, provoziere ich ihn und denke daran, dass ich vielleicht nicht mehr diese Wege im Kopf haben werde. Dass er vielleicht Natursekt sagt. Dass ihn das befriedigt. Auch das ist seltsam für mich, eklig, mir das vorzustellen, aber es tut nicht weh.

„Hast du Angst?“, wiederhole ich.

„Nein“, antwortet er. „Wenn du meinst, können wir das versuchen.“

„Was?“

„Lass dich überraschen.“

An diesem Tag gehe ich dann zum letzten Mal zur Arbeit. Aber noch weiß ich das nicht.

[ … ]

Aus dem Tschechischen von Raija Hauck